Folgen von Militärdiktatur und Neoliberalismus
Salvador Allende wurde 1970 als erster sozialistischer Präsident in einer freien, demokratischen Wahl gewählt. Hinter ihm stand die große Volkspartei „Unidad Popular“, in der sich die verschiedenen Linksparteien verbündet hatten. Ihnen gegenüber standen die Christdemokraten zusammen mit der Nationalen Partei, die zwei Jahre später die Macht im Senat übernahmen und von da an mit voller Kraft Allendes Regierung bekämpften und mit parlamentarischen Boykotts zum Stillstand brachten. Treibende Kraft und Unterstützer waren die USA, die Chiles Rechte radikalisierte und für deren skrupellose Terroranschläge ausstattete. Durch künstliche Lebensmittelverknappung und Boykott der Industrie (Einfuhrblockaden für Ersatzteile, Streiks der Fabrikvorsteher und Manager) wollte man die Regierung Allendes in die Knie zwingen. Einzelne Gewerkschaftsführer und Arbeitergruppen hatten sich mit der Nationalen Partei zusammengetan und organisierten die Streiks in den Kupferminen und vor allem bei Fuhrunternehmen und Spediteuren – sie bekamen Gelder aus den USA. Ziel der Opposition war es, das Land ins Chaos zu stürzen und Umstände zu schaffen, die einen Putsch rechtfertigten – die Mehrheit der Arbeiter hielt weiterhin zur Regierung und die Fabriken am Laufen. Die abwesenden Manager wurden kurzerhand durch Selbstorganisation ersetzt, fehlende Ersatzteile selbst hergestellt.
Ein erster militärischer Umsturz im Juni 1973 misslang, weil der putschende Arm der Streitkräfte zu diesem Zeitpunkt noch nicht den vollen Rückhalt der Armee hatte. Nach Ermordung eines verfassungstreuen Offiziers erhöhte sich der Druck auf die Armeeführung und am 11. September 1973 war es schließlich soweit: In einem brutalen Angriff auf den Regierungssitz in Santiago wurde die Regierung Allendes blutig gestürzt. Es folgten Willkürverfolgungen, Massenfestnahmen, Mord und Folter von Tausenden. Schaffung von Konzentrationslagern, in denen noch jahrelang gefoltert und getötet wurde. Eines der berüchtigtsten Folterzentren für Regimegegner war die Colonia Dignidad. Allein in den ersten Jahren der Diktatur flohen rund 200.000 Chilenen oder wurden des Landes verwiesen.
Schon vor dem Militärputsch hatte die neoliberale Unterwanderung Chiles durch die USA begonnen und machte aus Chile die „Petrischale des Neoliberalismus“. In einem CIA-Bericht heißt es, dass die USA zwischen 1953 und 1956 12,9 Millionen Dollar vorgesehen hatten, um ihren Einfluss in den Universitäten Lateinamerikas zu erweitern. Es entstand ein Austauschprogramm für Wirtschaftsstudenten zwischen der Universität von Chicago und der Katholischen Universität Chile. Die sogenannten Chicago Boys standen nach dem Putsch bereit, um den wirtschaftlichen Umbau umzusetzen, den Augusto Pinochet vorantreiben wollte. Mehrere dieser Friedman-Jünger hatten während der Diktatur Wirtschafts- und Haushaltsminister-Posten und sind noch heute angesehene Wirtschaftsexperten, die ihre Rolle während der Diktatur verleugnen. So empfahlen sie die Abschaffung von Preiskontrollen und Importbarrieren, die Privatisierung staatlicher Unternehmen und Kürzungen von Staatsausgaben. Die US-Regierung hat also nicht nur den Putsch gefördert und inszeniert, sie hat auch die „Experten“ ausgebildet, die die Wirtschaftspolitik nach ihrem Willen veränderte.
Kontinuität über die Diktatur hinaus – 1973-2019
Nachdem die Militärjunta installiert war und das chilenische Volk von der „marxistischen Bedrohung“ befreit schien, war der Weg für die wirtschaftliche Befreiung geschaffen. Allerdings beklagte Chile bereits ein Jahr nach dem Putsch eine Jahresinflation von 375% – die höchste weltweit. Und nach 10 Jahren war die Arbeitslosigkeit bei 32% angelangt. Wer in einem neoliberalen Land aufwächst und nicht zu einer wohlhabenden Elite gehört, bekommt nichts ab vom Wachstum. Die viel besungene Freiheit der Neoliberalen gilt nicht für die Bevölkerung – zumindest nicht für den Großteil. Das neoliberale System hat durch die Privatisierung aller Lebensbereiche dafür gesorgt, dass die Menschen in Chile keine fairen Lebensbedingungen haben. Angemessene gesundheitliche Versorgung und Bildung sind fast unbezahlbar. Chile ist das Land mit den höchstverschuldeten Haushalten Lateinamerikas. Die Lebenshaltungskosten sind so hoch wie in Europa, doch die meisten Haushalte haben nur ein Einkommen von 600 Euro oder drunter. Die Renten reichen nicht zum Überleben, weshalb alte Menschen entweder von der Familie mitversorgt werden und/oder bis ins hohe Alter weiterarbeiten müssen.
Ein sehr wichtiges Kapitel in der chilenischen Geschichte ist das der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung. Die Mapuche kämpfen seit der Kolonialisierung durch die Spanier gegen die Enteignung und Zerstörung ihrer angestammten Länder. Sie sind im besonderen Maße der Willkür des Staates ausgeliefert und werden seit Jahrzehnten von den verschiedenen Regierungen unterdrückt, getötet und misshandelt. Sie sind den Regierungen schon immer ein Dorn im Auge gewesen, denn sie weichen nicht zurück und lassen sich nicht vertreiben. Dabei bezahlen zu viele mit ihrem Leben, um zu verhindern, dass die chilenischen Regierungen ihre Gebiete z.B. an die großen ausländischen Forstindustrien verscherbeln. Hier ist nicht der Platz, um umfangreich auf die Umweltthematik einzugehen, aber am Beispiel Chile ließe sich deutlich machen, dass ein neoliberales System den Wert von Natur und Ressourcen nur danach bemisst, wieviel Profit sie einbringen. Dieser Aspekt stellt die Grundlage des mehr als berechtigten Widerstands der Mapuche gegen die extraktivistische chilenische Politik dar.
Nach der Diktatur folgte ab den 1990er Jahren eine Regierung nach der anderen, die die prekäre Situation des Landes und der Menschen nicht nur hingenommen, sondern neue Wege gefunden hat, die Schrauben der Ausbeutung weiter anzudrehen. Trotz des Übergangs von Diktatur zu Demokratie blieb das neoliberale Wirtschaftssystem nicht nur erhalten, sondern wurde weiter ausgebaut, nicht zuletzt dank der Beibehaltung der Verfassung, die während der Diktatur entstand. Sie wurde nur marginal verändert und zementierte bisher den Status Quo und die Vorrechte der Eliten.
Im Oktober 2019 war es soweit: 17 Jahre Diktatur und noch weitere 30 Jahre Neoliberalismus haben den Bogen so weit überspannt, dass nun endlich ein lange überfälliger Veränderungsprozess in Gang gekommen ist. Die Aufstände sind die Antwort des Volkes auf die letzten 30 Jahre Neoliberalismus. Sie sind Ausdruck der Wut und der Verzweiflung über ein System, das nur einer kleinen Elite nutzt und den Rest der Bevölkerung ausnutzt. Und sie sind Ausdruck der kategorischen Ablehnung des Neoliberalismus, den die USA den Chilenen aufgezwungen haben: Chile steht im Ruf eines wachstumsstarken und somit lobenswerten Wirtschaftssystems – er ist erkauft mit der Verschleierung der Ausbeutung, Repression und Ungerechtigkeit. Diese Wahrheit passt bis heute nicht ins allgemeine Weltbild!
Wichtig ist zu wissen, dass die Proteste nicht erst im Oktober 2019 begonnen haben. Zwischen 2011 und 2015 haben mehr als 1000 Proteste landesweit stattgefunden. Vor allem die jungen Menschen sind schon Jahre zuvor gegen das katastrophale Bildungssystem auf die Straßen gegangen. Dabei ist der Staat schon immer mit unangemessener Brutalität gegen die Protestanten vorgegangen. Das ist mehr als nur eine alte Gewohnheit aus Diktaturzeiten, sondern strukturell gewollt. Polizeibeamten genießen besondere Privilegien: eigene Krankenhäuser und gute finanzielle Absicherung im Alter – im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung. Der gesamte Polizeiapparat ist stark von elitärem und rechtem Gedankengut geprägt, was schon früh in der Ausbildung eingeimpft wird bzw. schon bei der Auswahl neuer Rekruten eine wichtige Rolle spielt. Das unangemessen harte Eingreifen von Polizeikräften während Auseinandersetzungen ist gewollt und wird im Falle von Anzeigen und Klagen der Opfer entsprechend milde bis gar nicht geahndet. Repression für die Mehrheiten und „wirtschaftliche Freiheit“ für kleine privilegierte Gruppen sind in Chile zwei Seiten derselben Medaille, sagte Orlando Letelier, ehemals rechte Hand des chilenischen Präsidenten Salvador Allende, der in den USA von der chilenischen Junta 1976 ermordet wurde.
In der Pandemie: Protest und Perspektive nach 2019
Die Reaktion der Regierung von Sebastian Piñera ist bei den
Protesten seit Oktober 2019 bis heute eine von ungehaltener Brutalität: die Berichte
von Menschenrechtsorganisationen sprechen von hunderten von ausgeschossenen
Augen, tausenden von Festnahmen und einer Vielzahl von sexuellen Übergriffen
und anderen Gewaltakten nach den Festnahmen. Während die Demonstrationen in
Chile über Monate gehen und nur durch den Corona-Ausbruch gebremst wurden, wird
ein Gesetz nach dem anderen installiert, welches die Festnahmen und die
Verurteilung der Demonstranten vereinfachen soll. Dies hat zur Folge, dass eine
sehr große Anzahl (mehr als 2000) von politischen Gefangenen der Revolte in
völlig überfüllten Gefängnissen ohne fairen Prozess zusammengepfercht lebt. Die
Angehörigen und Anwälte haben aufgrund der Pandemie nur erschwerten, teilweise
keinen Zugang zu ihnen. Viele dieser politischen Gefangenen sind minderjährig.
Die Kriminalisierung der Protestbewegung hat sich von Beginn der Proteste an
immer weiter verschärft und die Verfolgung wird durch weitere Gesetzgebung untermalt
und gestützt. Es herrscht große Verunsicherung und Angst bei den Angehörigen
der Gefangenen, weshalb eine Erfassung der genauen Anzahl und Umstände sehr
schwierig ist. Sie fürchten vor allem um das Wohl der Insassen und möchten zu
keiner Verschärfung der Situation beitragen oder ihre Chancen auf einen fairen
Prozess oder Freilassung negativ beeinflussen.
Mit den massiven und unermüdlichen Protesten des letzten Jahres hat das chilenische Volk ein Plebiszit erwirkt, um die alte Verfassung abzuschaffen, welche die Basis für die wirtschaftliche Ausbeutung, Privatisierungen und Schaffung der Ungleichheit in Chile ist. Mit einer landesweiten Zustimmung von über 80% wurden die Weichen für eine neue Verfassung gelegt.
Die große Vielfalt der sozialen Protestbewegung hat sich in den letzten Wochen aufgemacht, um Kandidaten aufzustellen, die sich in die verfassungsgebende Versammlung wählen lassen möchten. Dabei gilt es, viele Hürden zu überbrücken und vor allem die etablierten Politiker der Regierung davon abzuhalten, sich so in den Prozess einzuklinken, dass sie die Oberhand gewinnen. Die Akteur*innen der sozialen Proteste sind allen voran die Schüler*innen, die die Proteste Anfang Oktober angeführt haben. Die patriarchalen Strukturen des erzkatholischen Chiles werden seit geraumer Zeit, besonders aber seit den Protesten, von einer starken feministischen Bewegung bekämpft, die dafür gesorgt hat, dass die Besetzung der Verfassungsversammlung paritätisch sein muss. Die gesamte Protestbewegung zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass alle Altersgruppen, die LGBTQ-Bewegung, die Mapuche, etc. gemeinsam einen Wandel herbeiführen möchten. Auch wenn politische Bündnisse sich erst noch finden müssen, ist eines klar: es gibt kein Zurück, denn es herrscht eine konsequente Ablehnung der bisherigen politischen Elite.
Gerade jetzt ist die internationale Aufmerksamkeit und
Solidarität wichtig, um den Veränderungsprozess in Chile zu ermutigen und die
Kräfte in Schach zu halten, die diesen aufzuhalten versuchen. Leider hat der Verlauf
der Pandemie in Chile die Protestbewegung geschwächt und verlangsamt – sie hat allerdings
in besonderem Maße gezeigt, dass kapitalistische, neoliberale Systeme in Zeiten
großer Not das Leid und die Verzweiflung der Menschen nur weiter verstärken.
Hinweise:
Texte und Informationen der Gruppe 18.10.: wildbro.com/projects/1810-2
You-Tube-Kanal mit aktuellen Beiträgen zu den Protesten in Chile: Chile in Flammen
Gaby Weber, Chile: Nach der Revolte – ein Zwischenbericht – YouTube
[diese Links sind optional, wenn sich Platz bietet]
Amnesty International: Deliberate policy to injure
protesters points to responsibility of those in command
https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/11/chile-responsable-politica-deliberada-para-danar-manifestantes/
Human Rights Watch: Police Reforms Needed in the Wake of
Protests
https://www.hrw.org/news/2019/11/26/chile-police-reforms-needed-wake-protests
Inter-American Commission on Human Rights
(IACHR) (2019-12-06)
https://www.oas.org/en/iachr/media_center/PReleases/2019/317.asp
UN Human Rights Office (2019-12-12)
https://www.ohchr.org/SP/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25423&LangID=
Quelle: http://www.imi-online.de/2021/03/08/chile-und-die-aktuellen-proteste/