Vor 20 Jahren haben wir uns mit hunderttausenden Menschen aus der ganzen Welt in Genua getroffen. Wir haben den selbsternannten Repräsentanten des globalen Nordens, den politischen Vertretern der acht reichsten Industrienationen und der multinationalen Konzerne, die sie vertreten – den sogenannten „G8“ – unser „NEIN!“ entgegen geschleudert. Unser „NEIN!“ zu ihrer Plastikwelt, die jegliches Allgemeingut zu Ware macht, an der Menschen nur noch als Produzent*innen des Reichtums für einige Wenige teilnehmen dürfen. Unser „NEIN!“ zu ihrer patriarchalen Welt, auf der nur ein kleiner Teil der Bevölkerung das Recht auf Ernährung, Bildung, körperliche wie psychische Unversehrtheit hat. Unser „NEIN!“ zur tödlichen Logik des Kapitalismus.
Wir, die wir uns in Genua trafen, waren geeint durch die Hoffnung und die Entschlossenheit für eine andere Welt zu kämpfen. Wir waren inspiriert von den Stimmen der zapatistischen Befreiungsbewegung aus dem lakadonischem Urwald, die 1994 „Eine andere Welt ist möglich!“ ausrief. Wir waren inspiriert von den Protesten in Seattle, Göteborg und Prag, waren Teil der Weltsozialforen und unserer jeweiligen lokalen, sozialen Kämpfe.
Wir erinnern uns an die Aufbruchstimmung, das Gefühl von Hoffnung und unseren starken Willen, ein Zeichen der Solidarität zu setzen, welches in den Ländern des globalen Südens gehört wird. Gehört von denen, die vom Profit der neuen modernen Marktwirtschaft ausgeschlossen werden. Unser „NEIN!“ war unser Statement, dass das, was hier geplant wird, nicht in unserem Namen geschieht.
Heute schauen wir auf die ersten 20 Jahre des neuen Jahrtausends zurück. Eine Zeit, von der die Generationen, die vor uns soziale Kämpfe geführt haben, hofften, dass die Menschheit reif genug wäre, ein Leben in Freiheit, Würde, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu leben. Wir erlebten den Beginn des neuen Jahrtausends mitten in einem rasanten globalpolitischen, industriellen, technologischen und geopolitisch-militärischen Wandel.
Eine Zeit im Umbruch, von der wir wussten, dass sie eine Fortführung der Ausbeutung armer Länder mit modernsten Mitteln, der Plünderung und Verwüstung der Erde in nie da gewesenem Ausmaße, eine Profitmaximierung für die ohnehin schon wohlhabenden Teile der Welt bedeuten wird. Eine Zeit, von der sie sagten, dass sie das „Ende der Geschichte“ sei, dass sich global die freie Marktwirtschaftsordnung und der Wettbewerb durchsetzen werden. Die Zeit des globalen Neoliberalismus, den sie uns als Allheilmittel gegen Armut, Krankheit und Krisen in der Welt verkaufen wollten.
Zu alldem haben wir kollektiv „NEIN!“ gesagt. Wir, die Bewegung der neuen globalen außerparlamentarischen Opposition, die zwar kein gemeinsam definiertes Ziel, aber ein gemeinsames Gefühl einte: „Es muss jetzt etwas passieren!“.
Die Antwort der Herrschenden in Genua folgte ihrer eigenen brutalen Logik: Auf die Köpfe, die sie nicht gewinnen konnten, schlugen sie ein, die lauten Stimmen für eine andere Welt sollten zum Schweigen gebracht, die wachsende „Bewegung der Bewegungen“ zerschlagen werden. Carlo wurde erschossen. Tausende wurden verletzt, Hunderte verhaftet und Dutzende gefoltert. In der Bolzaneto-Kaserne, in der Diaz-Schule, auf den Polizeistationen und im Gefängnis Marrassi
Das haben wir nicht vergessen – und auch nach 20 Jahren nicht vergeben.
Wir leben mit der Erinnerung an diese Tage in den Straßen von Genua und denken dabei nicht nur an die Menschenjagden der Carabinieri, die Angst und die Ohnmacht und Ihre entfesselte Gewalt. Wir leben mit der Erinnerung an die Tage der Folter und der tristen Wochen in den Gefängnissen Pontedecimo und Marassi und denken dabei an Freundschaft und Solidarität. Wir leben mit der Erinnerung an die Demütigung und die Schmerzen, die sie uns zugefügt haben und denken dabei an die Schönheit entschlossener Menschen in Bewegung.
Wir haben in den letzten 20 Jahren viele Herrscher*innen kommen und gehen gesehen, konservative Regierungen, die für autoritäre Rollbacks sorgten und ihre sogenannten Oppositionen, die Hoffnungen weckten und nach einem schnellen Strohfeuer nur Glut und Asche hinterließen. Wir haben die Finanzkrisen gesehen, ausgelöst durch skrupellose Trader, die an den Roulette-Tischen der Börsen ihr Spiel nach den Regeln des freien Marktes auf Kosten der Allgemeinheit zocken. Wir haben das Kommen und Gehen der Wunschkandidaten der Märkte gesehen, ihr Handeln und ihr Wirken, das Erstarken neuer rechter Bewegungen, angeführt von Horrorclowns, die soziale, feministische und progressive Ansätze bekämpfen. Rund um den Globus befanden sich Menschen im Aufstand gegen ihre Regierungen, ihre Niederlagen hatten oft noch mehr Staatsterror, Bürgerkriege und totalitäre Regime zu Folge.
Wir erleben aber auch, das progressive und feministische Gesellschaftsmodelle zukunftsfähig sein können, wenn sie ausgebaut, diskutiert, hinterfragt, verteidigt werden und internationale Solidarität erfahren. Wir grüßen von hier aus die permanente Revolution in Rojava, die in Nordsyrien eine basisdemokratische, säkulare Gesellschaft erschafft und natürlich die zapatistischen Compas aus Mexico, die derzeit als Träger*innen des Virus der Rebellion die sieben Kontinente bereisen.
Wir grüßen die Aktivist*innen, die in diesen Zeiten das Richtige tun und Menschen, die sich auf ihrer Flucht vor Hunger, Krieg und Perspektivlosigkeit auf den Weg nach Europa machen, im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten. Wir grüßen die jungen Menschen, die rund um den Globus für Klimagerechtigkeit demonstrieren. Wir grüßen die Aufständischen in Chile, die das Vorzeigeland des Neoliberalismus erschüttern. Wir grüßen die Menschen, die in ihrer Region der Erde für eine menschenwürdige, gerechte Zukunft kämpfen.
Das, was im Sommer 2001 schlecht war, ist heute noch beschissener. Wir leben inmitten einer weltweiten Pandemie und dem Beginn einer Klimakatastrophe, deren Auswirkungen wir nur erahnen können. Die Hauptleidtragenden sind diejenigen, die am Wenigsten zur Ausbeutung des Planeten beigetragen haben und nun den Folgen ungeschützt ausgeliefert sind.
In atemberaubender Geschwindigkeit funktionieren weltweite Produktions-, Liefer- und Handelsketten, abgesichert durch miese Abkommen, die den Industrienationen Überfluss, Ressourcen und gigantische Profite garantieren und den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas Hunger, Armut und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen bescheren. Die, deren Medien-Show wir im Sommer 2001 in Genua verhindern wollten, hinterlassen eine Spur der Verwüstung, die Teile unseres Planeten schon jetzt unbewohnbar macht. Die Bilder, die wir in den Nachrichten sehen, erzeugen ein Schleudertrauma. Unsere Hoffnung, dass sich dieses System selber zu Fall bringen würde, erfüllte sich bislang leider nicht. Wir sehen eine Minderheit habsüchtiger, korrupter Krimineller, die dem Rest der Menschheit und der ganzen Erde den Krieg erklärt hat. Außer unserem „NEIN!“ haben wir ihnen auch heute nichts zu sagen. Wir wollten nicht als NGO anerkannt werden, wollten keine Vorschläge zur Verbesserung der WTO des IWF, der G8 und der G20 machen. Wir halten das gesamte Weltwirtschaftssystem für ungerecht und für nicht reformierbar und sagen „NEIN!“ zu ihren Grenzen, ihrer Gewalt, ihrer Macht, ihren Patenten, ihren Abkommen, ihrer Arroganz, ihrem Überfluss und ihrem Müll. „NEIN!“ zu ihrem falschen Verständnis von Wohlstand, Kultur und Freiheit.
War vor 20 Jahren unser „NEIN!“ richtig, so ist es das heute erst recht!
„Sie sagen uns, daß es sich bei der Globalisierung um einen unvermeidlichen Prozess handle, der wie die Schwerkraft wirke. Darauf antworten wir: Dann müssen wir eben die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzen.“
Subcomandante Marcos / Chiapas
Es lebe die Rebellion, die „NEIN!“ sagt!
Es lebe das Leben!
Tod dem Tod!
# Text: Alex und Sven
# Titelbild: seven_resist, CC BY-NC-SA 2.0, Carlo-Giuliani-Park in Berlin
Autor*in Gastbeitrag
Quelle: https://lowerclassmag.com/2021/07/18/die-rebellion-die-nein-sagte-20-jahre-nach-genua/