Mor Dayanışma
Am 19. März 2021 kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Austritt aus der Istanbul-Konvention an. Das »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt« ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der 2014 in Kraft getreten ist und 2011 in Istanbul von 13 Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnet wurde – unter anderem auch von der Türkei, in der Erdoğan zu diesem Zeitpunkt das Amt des Ministerpräsidenten innehatte. Bis 2020 wurde das Übereinkommen von 45 Staaten unterzeichnet und von 34 ratifiziert. [1]
Das Übereinkommen schreibt vor, dass die Gleichstellung der Geschlechter ebenso wie die Abschaffung von Geschlechterdiskriminierung im Rechtssystem verankert werden/sein muss. Zudem sollen Maßnahmen zur Unterstützung für Frauen* durchgesetzt werden: Rechtsberatung, psychologische Betreuung, finanzielle Betreuung, Zugang zu Frauenhäusern, Unterstützung in Bildung und auf dem Arbeitsmarkt, eine offensive Verfolgung psychischer, physischer und sexueller Gewalt (Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, Zwangssterilisierung und Zwangsabtreibung inbegriffen).
Der Austritt aus der Vereinbarung wurde schon vor Längerem von Erdoğan ins Spiel gebracht, konnte aber von einem breiten Widerstand der Frauen*organisationen verhindert werden. Nun hat Erdoğan den Austritt sozusagen im Alleingang – per Dekret – entschieden. Wir sprachen über die aktuellen antifeministischen Entwicklungen und ihre politische Tragweite mit Irem aus der Türkei.
[Maja Tschumi:] Liebe Irem, du bist seit Jahren bei der Frauenorganisation »Mor Dayanışma« (Lila Solidarität) aktiv. Wir haben im re:volt magazine immer wieder über eure Arbeit berichtet und auch erst im Winter 2020 eine Spendenkampagne in Deutschland initiiert, um euch auch finanziell zu unterstützen. Erzähle uns doch etwas über eure Organisation und eure aktuelle Arbeit.
[Irem:] Die feministische Bewegung Mor Dayanışma (Lila Solidarität), die sich seit 2012 in vielen Provinzen der Türkei organisiert, ist in den letzten Jahren zusammen mit den Solidaritätsnetzwerken von Frauen* allgemein und insbesondere in den Stadtvierteln stark gewachsen. Wir kommen zusammen unter dem Motto: »Wir organisieren uns in Häusern, Küchen, Fabriken und natürlich auf den Straßen, um unsere Leben und unsere Rechte zu retten«.
Die frauenfeindliche, heteronormativ-sexistische und konservative Politik der inzwischen schon 19 Jahre andauernden AKP-Regierung ist ein zentraler Pfeiler bei der Zementierung eines autoritären Regimes unter Erdoğan. Die Angriffe auf Frauen und LGBTI+ haben in den letzten Jahren dramatisch zugenommen, unter anderem auch, weil sie mit einer Straflosigkeit der Täter einhergingen.
Als Antwort auf diese Angriffe durch diese Regierungskoalition, die die Frauen* wieder im Haus und in der Familie einsperren will, begann Mor Dayanışma die Netzwerke der Frauensolidarität an der Basis zu erweitern. Denn in diesem patriarchalen kapitalistischen Staat, der tief ins Private hineinreicht, ist keine von uns mehr sicher: In den letzten Jahren ist aufgrund des Versagens des männlich dominierten Staatsapparats und der entsprechenden Ordnungshüter bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention und des Gesetzes die Zahl der Femizide [Morde an Frauen*, weil sie Frauen* sind, Anm. d. Red.], nicht unter 300 Morden pro Jahr gesunken. Im Gegenteil: durch die Urteile der AKP-abhängigen Justiz, welche die Bedürfnisse und Anliegen der Männer schützt, werden die Täter oft freigelassen und Femizide, Morde an trans Personen und Kindesmissbrauch können straflos zunehmen. Auch in den sozialen Medien haben Verbrechen und Drohungen gegen Frauen und LGBTI+ als Folge dieser Politik zugenommen. Kurzum: Die Türkei ist für Täter zu einem »Mir passiert nichts«-Land geworden und die willkürlichen Entscheidungen von Staatsapparat und Justiz zeigen, wie sie direkt auf unsere Leben abzielen.
Was hat die Covid-19-Pandemie samt der mit ihr zutage tretenden multiplen Krisen für die Frauen und für die Arbeit von «Mor Dayanışma» verändert?
Corona hat natürlich noch vieles verschärft. Während der Pandemie hat sich deutlich gezeigt, dass die neoliberale Politik den Menschen keine gute Zukunft bieten kann. Deshalb haben wir begonnen, unser Netzwerk der Frauensolidarität vor Ort zu erweitern. Und es sind Frauen*, die besonders betroffen sind von der Pandemie – nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial und zuhause. Ihre Arbeitsbelastung steigt und sie sind vermehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt. In diesem Zusammenhang haben wir das Konzept der »feminisierten Armut« ausgearbeitet. Wir verwenden es im Zusammenhang mit der Geschlechterungleichheit, um zu zeigen, wem die Wirtschaftskrise und die Pandemiekrise mittels neuer und verschiedener Ausbeutungsformen in Rechnung gestellt wird.
Angesichts der zunehmenden Femizide, der Rechtsverletzungen und der häuslichen Gewalt gegen Frauen* während der Corona-Pandemie und den erschwerten Kontaktmöglichkeiten waren wir gezwungen, daran angepasste, effektivere Organisierungsmethoden zu entwickeln: Wir gründeten eine eigene Rechtskommission, eine Kommission für psychosoziale Unterstützung und Gesundheitskommissionen in den Bezirken, wo wir als Bewegung tätig sind. Gegen diskriminierende und nicht selten auch gefährliche Situationen, denen Frauen beispielsweise in Gerichtsgebäuden oder in Polizeistationen ausgesetzt sind, bieten wir juristische Unterstützung in Rechtsstreitigkeiten an mit feministischen Anwält*innen und Berater*innen. Wir wollen damit klar signalisieren: Frauen* sind nicht allein gegen die männliche Gewalt und die Gewalt des Staates, selbst wenn der Staat sich nach den Bedürfnissen der Männer ausrichtet.
Wir haben zudem begonnen, in unserer Gesundheitskommission Kampagnen zu organisieren. Es geht in diesen Kampagnen neben dem Kampf um eine bessere Gesundheitsversorgung auch darum, dass wir selber über unsere Körper entscheiden können, auch darum, Räume zu schaffen für lokale Frauenversammlungen, in denen Frauen zusammenkommen und ein kollektives Subjekt in der Politik sein können.
Nun hat die türkische Regierung angekündigt, aus einer der wenigen internationalen Vereinbarungen auszutreten, die Verbesserungen für die Lage von Frauen und LGBTIQ+ auf das politische Parkett bringen: Die Istanbul-Konvention. Einen Tag nach Erdoğans Austrittsdekret, am 20. März 2021, kam es zu zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen überall in der Türkei. Wie hast du diese Entwicklung und den Protest wahrgenommen?
Am Samstag, den 20. März, in den frühen Morgenstunden wurde diese Entscheidung ohne jegliche parlamentarische Debatte im Amtsblatt veröffentlicht – oder sagen wir besser: heimlich durchgedrückt. Angriffe auf die Konvention und Debatten um einen möglichen Austritt aus der Konvention gibt es allerdings seitens der AKP schon seit längerem, vor allem mit der Begründung, die Istanbul-Konvention schade »den Familienwerten«. Doch die Regierungsmitglieder, die sich im August 2020 in den zentralen Verwaltungsräten der AKP zu diesem Thema versammelten, trafen auf eine sehr starke Frauenbewegung (im Übrigen auch von Seiten regierungstreuer Frauenorganisationen), die mit den Plänen nicht einverstanden war. Um zu verstehen, wie nun ein Austrittsvorhaben ideologisch doch möglich gemacht wurde, muss man verstehen, dass sich Erdoğans Politik ebenso wie gegen die Frauen auch gegen LGBTI+ richtete und diese nun auch im Zuge der Abschaffungspläne der Konvention fokussiert wurden.
Homophobe Ansagen wie »Kümmert euch nicht um Lesben! Die Mütter sind die Säulen der Familie«, die von Erdoğan selbst in AKP-Provinzkongressen verbreitet werden, oder auch das Verbot und die Zensur von Regenbogenfarben (das Symbol der homosexuellen und der LGBTQ+-Bewegung) oder Gegenständen mit Regenbogensymbolen sind eine gezielte Ausgrenzung und Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppen – und auch gleichzeitig eine Stabilisierung traditioneller, konservativer Frauenbilder.
Bereits im Vorfeld erfuhren wir von einigen Politiker*innen und Parlamentarier*innen, dass die Nachricht vom Austritt aus der Istanbul-Konvention in der Nacht vom 20. März kommen könnte. Wir hofften auf Fehlalarm, weil dieser Plan rechtswidrig war. Als die Entscheidung Erdoğans dann veröffentlicht wurde, organisierten wir gemeinsam mit anderen Frauen*organisationen unter dem Namen »İstanbul sözleşmesinden vazgeçmiyoruz« – also: Wir geben die Instanbul-Konvention nicht auf – einen Protest auf dem Kadıköy-Pier [eine zentrale Anlegestelle der Fähren auf der asiatischen Seite in Istanbul, Anm. d. Red] und verwandelten auch zahlreiche weitere Straßen, Plätze und Parks in Orte der Aktion. Frauen*, die bei den Frauen*kampftags-Demonstrationen um den 8. März in Gewahrsam genommen wurden, weil sie »Tayyip, lauf! Die Frauen kommen!« oder »Tanzt im Rhythmus dieser Parole« skandiert hatten, begannen diesmal, diese Parole noch lauter zu skandieren und riefen sogar »Tayyip, tritt zurück!«. Eine grosse Wut lag in der Luft und überall in der Türkei war die starke und kämpferische Haltung zu spüren: »Wir erkennen diese Entscheidung nicht an«. In jeder Provinz begannen Frauen* aus den Bezirken Proteste zu organisieren. Bis jetzt haben die Proteste nicht aufgehört. Sie laufen unter dem Hashtag #İstanbulSözleşmesiBizim – die Istanbul-Konvention gehört uns.
Im Grunde ist der Austritt aus dem Istanbul-Abkommen im Alleingang rechtswidrig. Aufgrund der Machtverteilung im Parlament wäre es vermutlich ebenfalls gelungen, den Austritt absegnen zu lassen. Warum hat Erdoğan das nicht getan, welche Einschätzung habt ihr da? Hat es etwas mit innen- oder außenpolitischer Machtdemonstration zu tun?
Erdoğan kann den türkischen Staat – natürlich – nicht alleine regieren. Daher versucht er, den verschiedenen innerstaatlichen Fraktionen und den Wähler*innenmassen zu gefallen, die bei den kommenden Wahlen [sie stehen offiziell im Jahr 2023 an, Anm. d. Red.] für seine Partei beziehungsweise Koalition stimmen könnten. Auch wenn die verschiedenen Attacken der Regierung dazu dienten, ihre Macht zu erhalten, hat es bisher nicht gereicht, einen faschistischen Staat zu implementieren. Das hat einige Gründe, zentral ist aber auch, weil es einen starken Widerstand dagegen gibt: Von den Arbeiter*innen, die unter dem Vorwand von Covid-19 entlassen wurden, weil sie Gewerkschaftsmitglieder waren (das Arbeitsgesetz wurde während der Pandemie von den Arbeitgeber*innen zur leichteren Entlassung von Arbeiter*innen missbraucht); den jungen Menschen, die arbeitslos sind und um ihre Zukunft und eine Perspektive kämpfen; von Student*innen, die demokratische Universitäten fordern; den Alevit*innen, LGBTI+-Gruppen und Immigrant*innen, die in der Pandemie noch mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt und existenziell bedroht wurden; den Kurd*innen, die durch permanente militärische und politische Angriffe zunehmend von der geografischen Landkarte der Türkei ausradiert werden; und von Frauen*, die für Gleichheit und Freiheit kämpfen: Sie alle und ihre Kämpfe sind ein grosser Schutz vor dem Faschismus.
Die Selbstorganisation ist dabei sehr wichtig. Denn die soziale Opposition erwartet keine bessere Zukunft von der angeblichen »Haupt-Oppositionspartei« [gemeint ist die Gründungspartei der Türkei, die Republikanische Volkspartei CHP, Anm. d. Red] und den neu gegründeten rechten Parteien. Denn diese Parteien, die stark mit dem Kapital und dem Staat verbunden sind, haben Angst vor dem Volk und der sozialen Dynamik, die ich oben erwähnt habe. Doch die soziale Opposition, die Basisbewegungen und die populare Dynamik fordern eine Politik, die weit über diese Parteien hinausgeht. Die aktuelle Regierung, die eine Wahlniederlage kaum akzeptieren würde, nutzt wiederum diese Spaltung zwischen Opposition und Basisbewegungen aus. Sie vergisst dabei, dass sie sich vor allem vor einer Möglichkeit fürchten sollte: Dass sich all diese Bewegungen von unten zusammenschliessen.
Die Entwicklungen, das hast du gesagt, haben Kontinuität: Wir konnten in den letzten Jahren unter Erdoğan und der AKP-Führung auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen die Zunahme von autoritären und faschistischen Tendenzen beobachten. Frauen* bekommen in solchen Entwicklungen meist zuerst die Konsequenzen zu spüren. Du hast Festnahmen bei den traditionellen Frauen*demonstrationen am 8. März gesprochen. Welche Entwicklungen gingen diesen voraus, was waren Kämpfe, die Frauen* davor unmittelbar auszufechten hatten?
In der Kontinuität der AKP-Regierung spielt die autoritäre und faschistische Politik, die in den letzten Jahren aufgekommen ist, eine wichtige Rolle. Viele Cliquen und Interessensgruppen, die einen möglichst großen Anteil von der staatlichen Verwaltung und natürlich vom Kapital abzubekommen versuchen, befinden sich jetzt im Kampf um ein Mitspracherecht in der staatlichen Verwaltung. Deshalb brachte die Zeit nach der Rückverwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee neue Angriffe mit sich im Sinne einer Institutionalisierung des Faschismus und von Versuchen, die Basis und die demokratischen Kräfte mit diesen Angriffen zum Schweigen zu bringen.
In der aktuellen Staatskrise und der wirtschaftlichen Krise, die sich mit der Corona-Pandemie noch verschärft hat, verstärkte die Regierung die Angriffe auf die Frauen*bewegung, LGBTI+-Personen, Student*innen und die kurdische Bewegung, um ihre eigene Position zu stärken. Ebenso wie die regierungstreuen Beamt*innen, die in den kurdischen Provinzen anstelle der gewählten Repräsentant*innen als Zwangsverwalter eingesetzt wurden, war auch die erste Handlung jenes obrigkeitshörigen Rektors, der für die Boğaziçi-Universität ernannt wurde, die Schließung des LGBTI+-Clubs und des Frauen*arbeitskreises.
Besonders nach den Protesten an der Boğaziçi-Universität sahen sich LGBTI+-Personen mehr Druck und verbalen Attacken durch Vertreter*innen der Regierung ausgesetzt, unter ihnen der Leiter des Amtes für religiöse Angelegenheiten und der Imam der Hagia Sophia.
Am 8. März griff die Polizei den Trans+Konvoi an und blockierte den Zugang zum Protestgelände für alles und jede*n, was/die mit einem Regenbogensymbol ausgestattet war. Nicht einmal Regenbogen-Regenschirme waren erlaubt. Doch die Frauen* und LGBTI+-Personen ließen sich das nicht gefallen und machten klar, dass sie alle Städte in Protestgebiete verwandeln würden, wenn die Polizei die Barrikade nicht öffnen würde und die Regenbogenfarben verboten bliebe. Und wir verwandelten tatsächlich alles zu einem Protestgebiet.
Im Kampf gegen Faschismus, Kapitalismus und das Patriarchat ist der Kampf von Frauen* seit jeher maßgebend. Die Frauen*- und die LGBTQI-Bewegung in der Türkei ist sehr stark und hat in den letzten Jahren auch Präsenz und Stärke bewiesen. Gibt es eine Möglichkeit, Erdoğan über politischen Druck von der Strasse noch umzustimmen? Welche Kämpfe stehen für euch jetzt an?
Die Aufhebung der Istanbul-Konvention sollte nicht nur als ein Angriff auf Frauen* und LGBTI+ gesehen werden. Sie ist ein Angriff auf alle, die nicht der Machterhaltung dienen. Insofern nehmen auch die Proteste von Frauen* eine andere Dimension an, je nachdem mit welchen anderen oppositionellen Kräften sie sich auf der Straße und in politischen Bündnissen zusammentun. Es geht also nicht nur darum, einen Meinungsumschwung bei Erdoğans zu erzwingen. Es geht weit darüber hinaus: Wir müssen die Angriffe gegen alle oppositionellen und »Nicht-AKP«-Segmente der Gesellschaft abwehren und bekämpfen. Im Moment zielen die Angriffe der Regierung darauf ab, jede Form von Protest einzudämmen. Sie greift überall dort an, wo sie nur angreifen kann. Dafür macht sich die Regierung – wie an vielen anderen Orten auch – die Einschränkungen aufgrund der Pandemie zunutze. So sieht sich Erdoğan nicht im Zugzwang, Erklärungen abzugeben für sein Handeln oder auch für Verordnungen, die der wissenschaftlichen Einschätzung widersprechen. Er kann nicht erklären, warum es zig AKP-Kongresse mit Abertausenden von Teilnehmenden auf engstem Raum gab. Er erklärt nur, warum und wie er 32 Millionen Türkische Lira Strafen wegen Verletzung von Corona-Maßnahmen kassiert hat.
Wie werden wir nun die Wut, die sich in der Arbeiter*innenklasse insgesamt angestaut hat, mit der spezifischen Wut der Frauen* im Kampf um die Veränderung des Systems zusammenbringen und organisieren?
Es ist wichtig, dass die Gewerkschaften, welche nun die Rechte von Tausenden von Arbeiter*innen verteidigen müssen – Arbeiter*innen, die entlassen wurden, weil sie ihre Gewerkschaftsrechte eingefordert haben – den sozialistischen und den feministischen Kampf nicht getrennt voneinander sehen. In der Türkei ist das noch immer ein Problem. Die Frauen*kämpfe haben auch im Klassenkampf viel erreicht und das muss noch mehr anerkannt werden. Die Solidarität der Gewerkschaften mit den feministischen Kämpfen muss zunehmen. Sie können Arbeiter*innen, die gegen den Kapitalismus und das Patriarchat kämpfen, nicht sagen: »Das Patriarchat ist allein euer Problem«. Das Patriarchat, in dem wir leben, ist zutiefst verbunden mit der kapitalistischen Ausbeutung. Man kann beides nur gemeinsam bekämpfen. Der Schritt, den die Gewerkschaften machen, wenn sie die Streiks der Arbeiterinnen* für die İstanbul-Konvention unterstützen, ist ein Schritt, unsere Leben ganz existenziell zu stützen. Und es ist ein Schritt, der darüber hinaus auch den faschistischen Tendenzen der AKP-Regierung Erdoğans Einhalt gebieten wird. Aus diesem Grund sollten linke Gewerkschaften, Anwaltskammern und Berufsverbände die Zeichen der Zeit lesen und die Bedürfnisse der Frauen* und ihre Kämpfe unterstützen.
Welche internationalistische Bewegung beziehungsweise internationale Solidarität wünscht ihr euch?
Wir wissen, dass die Sicherheit, Freiheit und Rettung der Frauen* nicht möglich ist, wenn man sich nur auf ein Land oder eine Stadt konzentriert. Es braucht eine internationalistische Frauen*solidarität. Die Istanbul-Konvention ist ein Vertrag, der durch einen harten Kampf von Frauen* erkämpft worden ist. Die Gesetzesartikel, die im Nachgang der Unterzeichnung in das innerstaatliche Recht vieler Unterzeichner-Länder eingegangen sind, haben aufgrund der Istanbul-Konvention an Wert gewonnen. Die Sicherung der Frauen*rechte ist zu wichtig, als dass wir sie einfach dem patriarchalen kapitalistischen System, seiner Militär- und Polizeiapparate oder ihren Staatschefs überlassen können: Es geht um nichts weniger als unser Leben.
Wir stehen an einem wichtigen Punkt der Geschichte – in der Türkei und an vielen anderen Orten, wo konservative und faschistische Tendenzen wieder erstarken. Ich kann mich nicht erinnern, dass der Slogan, den wir normalerweise bei Arbeiter*innendemonstrationen oder -streiks skandieren, so laut und hoffnungsvoll auch in den Frauen*protesten gerufen wurde, wie jetzt: »Es gibt keine Rettung für mich allein. Entweder alle zusammen oder keiner von uns.« Das kann eine Botschaft an unseren Schwestern* im Ausland sein.
Anmerkungen
Mor Dayanisma: Mor Dayanışma wurde 2014 im Geist der Gezi-Proteste in der Türkei gegründet. Seither gibt es Stadtteil- und Regionalstrukturen der Organisation von Edirne bis Şırnak, von Istanbul bis Hatay. Im Laufe der Zeit entstanden in vielen Städten Zentren und Orte der Zusammenkunft, in denen sich Frauen* weiterbilden, politisch aktiv werden und sich gemeinsam gegen das patriarchale kapitalistische System zur Wehr setzen, welches eine ganz besondere Herrschaft über die Arbeit, Identität und Körper von Frauen* ausübt. Die Frauen* treffen sich für kostenlose Fortbildungen, etwa, was Arbeitsschutz und gesundheitliche Vorsorge angeht; sie können über die Basis-Organisation anwaltliche, gewerkschaftliche oder psychologische Unterstützung finden, oder gemeinsam Schmuck und Handwerkskunst herstellen, welches ihnen ein eigenes oder zusätzliches Auskommen ermöglicht. In Zeiten der Pandemie wurde die Unterstützung teilweise umorganisiert, um die Frauen in der Pandemie zu erreichen.
[1] Zur Istanbul-Konvention in deutschsprachigen Raum: Während Österreich die Konvention bereits 2013, vor Inkrafttreten, ratifizierte, geschah dies in der Schweiz erst 2017 und in Deutschland 2018.Das Bündnis Istanbul-Konvention (BIK) , ein Zusammenschluss vieler unterschiedlicher Arbeitsgemeinschaften und Anlaufstellen zu Gewalt gegen Frauen* und Mädchen*, hat im Februar 2021 den »Alternativbericht zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt« herausgebracht. Im über 200-seitigen Papier machen sie auf bisherige Versäumnisse in der Umsetzung aufmerksam: Die Expert:innen sehen viele rechtlich bindenden Verpflichtungen der Istanbul-Konvention noch immer nicht erfüllt und stellen ihre Kernforderungen an die Bundes- und Landespolitik in der BRD vor. »Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich nicht nur zur Gleichbehandlung aller Frauen und Mädchen, sondern auch, geeignete Präventionsmaßnahmen zu ergreifen, um bestehende geschlechterbezogene Rollenstereotypen und ungleiche Machtverhältnisse abzubauen. Leider existiert nicht einmal ein Aktionsplan hierfür«, wird Dr. Delal Atmaca, Geschäftsführerin von DaMigra, dem Dachverband der Migrantinnenorganisationen und Teil des Bündnisses, in einem Bericht des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) zitiert. Vor allem für marginalisierte Gruppen, LBTI*, Personen mit Flucht- oder Migrationserfahrung, mit Behinderungen oder in Wohnungslosigkeit, ist der Konvention zufolge der Zugang zu Prävention, Schutz, Beratung und Recht nach wie vor mangelhaft.
Das BIK hat zudem eine Stellungnahme zum Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention veröffentlicht. Darin verurteilen sie diesen Schritt und rufen zu Konsequenzen in den deutsch/europäisch-türkischen Beziehungen auf. Weiter schreiben sie »Auch innerhalb der EU gibt es Staaten, die eine Ratifizierung der Konvention auf Eis gelegt haben oder erwägen, aus der Konvention auszutreten. Dies ist das Ergebnis einer schon seit Jahren schwelenden Entwicklung, die darauf abzielt die Rechte von Frauen und Mädchen auf ein gewaltfreies Leben massiv einzuschränken.«
Quelle: https://revoltmag.org/articles/frauen-mobilisieren-sich-gegen-erdogan/