1. Einleitung
Was mit Leni Riefenstahls Filmen begann ist heutzutage gewöhnliche cinematische und visuelle Realität: Propaganda Filme. Diese mögen in unterschiedlichen Facetten erscheinen, haben jedoch immer die ursprüngliche Idee Leni Riefenstahls inhärent: Die Konstruktion einer zu begehrenden Realität. Obgleich Demokratien behaupten Transparenz, Freiheit und die Macht des Volkes unter anderem stünden im Zentrum der demokratischen Staatsform, haben demokratische Staaten scheinbar das Verlangen eine falsche Realität abzubilden und in das Gedächtnis des Rezipienten zu transportieren. Von Wahlkämpfen, Werbung für „Reformen“, Überbetonung des „nationalen Geistes“ hin zu simpler Kriegspropaganda, Formen und Beweggründe für Propaganda haben sich vermehrt, sind sich jedoch im Ziel treu geblieben: Das Erreichen der Massen. Es wäre denke ich nicht gewagt zu behaupten, dass Leni Riefenstahls Filme in der NS- Zeit Meilensteine sind, nicht nur für faschistisches Kino und Kunst, sondern für Film, Kunst und Kultur allgemein.
Benjamin ist ein sehr einflussreicher Autor im Bereich der Ästhetik und dem Konzept der Aura, nicht nur für seine philosophischen Kollegen wie Adorno, sondern auch in der Analyse von Kunst. Selbstverständlich war er nicht der Erste, der über Ästhetik schrieb. Sein Werk „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ war jedoch ein Meilenstein in der Analyse von moderner Technik und ihren Einfluss auf die Kunst.
Sowohl Riefenstahl als auch Benjamin sind Pioniere in ihren respektiven Feldern, die sich vor allem mit der Frage und der Suche nach Ästhetik in der Kunst befasst haben. Deshalb ist eine Analyse der Ästhetik und Aura bei beiden denke ich sehr interessant. Dies wird umso mehr bestärkt mit Hinblick auf die autobiographischen Unterschiede beider. Riefenstahl die Regisseurin und Produzentin der Nazis auf der einen Seite und Walter Benjamin, ein Jude auf der Flucht von den Nazis auf der anderen Seite. Beide jedoch vereint in der Suche nach Ästhetik und Aura in der Kunst. Kenner von Benjamin könnten an dieser Stelle schon aussteigen mit dem Argument, dass Benjamin Aura in der Moderne durch die Reproduktion von Kunst verloren sieht und deshalb eine Analyse von Riefenstahls Filmen im Hinblick auf Aura und Ästhetik nicht nötig wäre. Ich denke aber, dass die Gesamtheit seiner Schriften nicht auf diese eine Prämisse reduziert werden kann. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass eine Analyse von Leni Riefenstahls Film „Triumph des Willens“ im Lichte der Theorien und Schriften Walter Benjamins zur Ästhetik und Aura zum Ergebnis führen wird, dass Leni Riefenstahl in der Lage war Benjamins Prämissen für Ästhetik und Aura zu erfüllen. Riefenstahls Film zu den Olympischen Spielen in Berlin im Jahre 1936 könnte als noch deutlicheres Beispiel der zur Schaustellung vor allem der Ästhetik gesehen werden, was auch stimmt meines Erachtens. Es ist jedoch „Triumph des Willens“, das einzigartig eindeutige und klare politische Propaganda, also die Instrumentalisierung von Kunst für politische Ziele, und das Ziel der Produktion und technischen Abbildung von Ästhetik im Film darstellt.
Um eine klare Analyse zu machen, wird im Folgenden die Theorie von Aura und Ästhetik bei Benjamin dargestellt und diskutiert. Dabei wird hauptsächlich auf Walter Benjamins Texte eingegangen werden und weitgehend auf Sekundärquellen verzichtet. Auch wird eine Diskussion zur Ästhetik und Aura mit anderen Philosophen wie Theodor Adorno vermieden, da dies den Rahmen dieser kurzen Analyse sprengen würde. Schließlich wird die Analyse zum Ergebnis führen, dass der Film „Triumph des Willens“ in der Lage war ästhetisch zu sein, obwohl es ein politisch instrumentalisiertes, propagandistisches und mit modernster Technologie produziertes Kunstwerk ist. Riefenstahl ist sogar in der Lage nicht nur den Verlust von Aura zu vermeiden, sondern ihn einzufangen, abzubilden, ja sogar ihn erst durch den Film zu erschaffen, nämlich die Aura der NSDAP und vor allem von Adolf Hitler.
2. Was ist Ästhetik und Aura in Kunst?
Kunst, zeitlicher und räumlicher Kontext
Benjamins Hauptaugenmerk in der Analyse von Ästhetik, Kunst und Aura war auf den technischen Erfindungen. Während Adornos Zugang zu neuen technischen Möglichkeiten vor allem auf der Musik lag, hat sich Benjamin auf die Fotographie und das Filmemachen konzentriert, d.h. der Visualisierung von Kunst in der Moderne. Obgleich man Benjamin als einen besorgten Beobachter der Kunst in der hochindustrialisierten Gesellschaft sehen kann, waren seine Analysen trotzdem auf der Suche nach dem Positiven. So beginnt sein 1935 im Pariser Exil verfasstes Werk „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ mit einem Zitat von Paul Valéry
„Man muß sich darauf gefaßt machen, daß so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.“ 1
Damit gibt Benjamin die Richtung seines Textes schon vor: Kritisch aber trotzdem zuversichtlich. Gleichzeitig beinhaltet es all jene Aspekte, die Benjamin in seinem Werk darstellen und analysieren wird: Technische Innovationen und Kunst und die Reproduzierbarkeit von Kunst, der Einfluss dieser Innovationen auf die Produktion von Kunst selbst, als auch die Intentionen von Kunst, Ästhetik in Kunst, die Rezeption von Kunst und schließlich unmittelbar mit der Rezeption der auratische Moment der Kunst.
Gleichzeitig kann dieser erste Satz zurückverfolgt werden zu Diskussionen, die er mit Adorno in Bezug auf die Reproduktion von Kunst geführt hat. Er nimmt eine klare Position ein und leitet seine Analyse mit den Worten ein: „Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen.“ 2 Dieses für Benjamin klare historische Faktum ist für ihn nicht zu leugnen und sollte deshalb in der Diskussion auch nicht überbetont werden. Vielmehr geht es ihm um die mechanische Reproduktion der Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft, anstelle der Reproduktion per se. Diese Betrachtungsweise ist umso wichtiger, als dass das „Hier und Jetzt des Kunstwerkes“ ihre Authentizität bestimmt. 3 Mit der technischen Reproduktion schwindet der Grad der Authentizität, weil
„[d]ie Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersten fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. (…) was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache.“ 4
Benjamin sieht die Authentizität von Kunst also nur möglich im Kontext mit Geschichte und Tradition. Das Kunstwerk im Zeitalter der Reproduktion wird nicht nur technologische Mittel dupliziert, sondern im Zuge dessen ohne Kontext von Geschichte und Tradition gelassen. Damit verkümmert laut Benjamin die Aura des Kunstwerks. 5 Für ihn liegt der Fokus vor allem auf der Entfremdung des Kunstwerks, vor allem durch den neuen Erfahrungswert ohne jeglichen geographischen Charakter. Das Hier und Jetzt eines Fotos oder einer Filmaufnahme einer berühmten Skulptur ist natürlich nicht unmittelbar das örtliche und zeitliche Erlebnis der Aufnahme der Skulptur. Wenn man physisch vor der Akropolis stünde, würde man sich nicht ein Foto der Akropolis ansehen, sondern die Akropolis erleben, in dem man sie anfasst, sie ansieht, die dortige Luft einatmet und in Gedanken schwelgt, während sie im Hier und Jetzt physisch präsent ist. Zwei Aspekte dieser Erfahrung sind von großer Bedeutung, die im weiteren Verlauf dieses Textes weiter diskutiert werden. Erstens, die Erfahrung der Akropolis wie sie da steht ist die Aktion des Nichtbewegens. Sie ist da, wird sich nicht bewegen und für den Moment zumindest auch nicht verändern. Dadurch besteht eine Möglichkeit sich Zeit zu nehmen, zu reflektieren und zu erleben. Zweitens entsteht durch das Hier und Jetzt des Kunstwerks ein „Dialog“ zwischen dem Betrachter und dem Objekt. Das kann zu einem Erlebnis führen, das man etwas Interessantes über das Kunstwerk herausfindet, was es zu einem Denkens- und Redenswerten Objekt macht. Das Kunstwerk fordert den Betrachter dazu auf sich auf das Kunstwerk zu konzentrieren und darüber nachzudenken. Dieser Austausch im Erlebnismoment kann man als den Dialog des Kunstwerks mit dem Betrachter sehen.
Benjamin definiert diesen Moment und diesen Austausch als Aura und spezifiziert etwas deutlicher das ungewisse des Moments
„Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“ 6
Das Hier und Jetzt spielt eine große Rolle in Benjamins Definition von Aura. Der Gebrauch des Oxymorons „einer Ferne, so nah sie sein mag“ ist bewusst gewählt. Es beschreibt den Kultwert eines Kunstwerks in der Wahrnehmung des Hier und Jetzt und unterstreicht den Kult über die Einzigartigkeit des Kunstwerks. Ein Gemälde mag zwar direkt vor einem sein, es ist dennoch Meilenweit entfernt, da der Kultwert es „unerreichbar“ macht. Dieses Momentum der Wahrnehmung ist auratisch. Oder wie Yvonne Sherratt es beschreibt: „Wenn wir uns mit dem auratischen Bild auseinandersetzen, um es zu verstehen, verschwinden unsere Grenzen, so dass wir unsere Kategorien und Repräsentationen verlieren, da diese auch begrenzte Konstrukte sind. Man könnte sagen, wir verlieren unsere eigene Sprache.“ 7
Benjamin wirft vor allem dem Film vor „machtvollster Agent“ zu sein, die einer „Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und der Erneuerung der Menschheit ist. (…) Seine gesellschaftliche Bedeutung ist auch in ihrer positivsten Gestalt, und gerade in ihr, nicht ohne diese seine destruktive, seine kathartische Seite denkbar: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe.“ 8
Das Kulturgut kann als Autorität gesehen werden, da es Teil der Tradition ist. Aber wie schon vorher erwähnt haben und brauchen Kunstwerke ihre Beobachter, die die Kunst erleben. Benjamin definiert an dieser Stelle den Kultwert und den Ausstellungswert. 9 Während Kunstwerke ein Erbe beziehungsweise Tradition innehaben und eine Wertschätzung durch Menschen über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg erhalten haben besitzen sie einen Kultwert. Technologien wie die Fotographie und der Film verändern diesen Standard laut Benjamin dadurch, dass sie den Ausstellungswert in den Vordergrund stellen. Damit brechen diese Technologien mit der Tradition. Dies allein könnte als Beweis gelesen werden, dass moderne Technologien die Kunst und ihre Aura zerstört haben. Benjamin jedoch versucht diese pessimistische Adornoeske Perspektive zu überwinden und befasst sich vielmehr mit den Auswirkungen der modernen Technik. Wie schon am Anfang zitiert, kann sich die Wahrnehmung von Kunst durch Technologie verändern, vor allem ihr Gebrauch in kapitalistischen Gesellschaften und vor allem im Wandel befindlichen Gesellschaften. Obgleich er trotz allen Versuchen des positiven Ausblicks darauf besteht, dass im Film und vor allem bei Schauspielern Aura abhandengekommen ist,10 sieht er die „filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen (…) die unvergleichlich bedeutungsvollere, weil sie den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade auf Grund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.“ 11 Er fügt hinzu, dass man berechtigt ist das von der Kunst zu verlangen. Hier sieht man, das Benjamin nicht lamentiert über die verlorengegangene Kunst im Zuge des Verlustes der Aura. Vielmehr deutet er auf einen Wandel in der Wahrnehmung und den Ansprüchen des Beobachters. Er bietet Raum für die Möglichkeit, dass der Kultwert, die Aura und die Tradition eines Gemäldes nicht mehr die Wünsche des Beobachters, also der Menschen, erfüllen. Es ist nicht von ungefähr, dass er in der Vergleichsanalyse zwischen einem Maler und einem Kameramann, den Maler mit einem Magier und den Kameramann mit einem Chirurgen vergleicht.12 Seine Folgerung zeigt außerdem, dass „traditionelle“ Kunst zwar auratisch in der Moderne aber nicht mehr praktisch ist. Er akzeptiert also nicht aufhaltbare Veränderungen innerhalb der Kunst. Anstatt eine Rückkehr zur alten Kunst zu verlangen oder gar eine Proklamation der „wahren“ und „falschen“ Kunst sich anzumaßen, versucht er zu erklären was war, was ist und vor allem was sein kann.
Seine Analyse der Wahrnehmung ist stark verbunden mit dem Konzept des Hier und Jetzt im zeitlichen und räumlichen Kontext: „Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.“ 13 Unter all seinen Betonungen des Zeitkontextes der Kunst beschreibt dies ganz gut, was aus seiner Sicht eine natürliche, menschliche Art und Weise ist Kunst wahrzunehmen. Der historische Kontext, d.h. dass Hier und Jetzt der Wahrnehmung des Kunstwerks durch den Beobachter, spielt für Benjamin eine große Rolle in eben jener Wahrnehmung. Als Beispiel führt er die sich veränderte Kunst und eine veränderte Wahrnehmung in der Spätantike versus der Antike an. Durch die Völkerwanderung kam es zu einem gesellschaftlichen Umbruch, den klassische Gelehrte nicht in der Lage waren zu zeigen.14 Benjamin zieht hier eine parallele zwischen der Wahrnehmung und sozialem Wandel. Darüber hinaus ist der historische und zeitliche Kontext von großer Bedeutung in der Wahrnehmung von Kunst. Was jedoch den räumlichen Aspekt angeht, besteht eine starke Verbindung zu den Mechanismen der Reproduktion, allein aus praktischer Sicht. Wie zuvor argumentiert geht der Kultwert von Kunstwerken verloren, wenn Kopien in großer Vielzahl produziert werden können. Folglich geht der räumliche Kontext, also dem physischen Dasein des einzigartigen Kunstwerks in einer spezifizierten geographischen und räumlichen Definition, von Kunstwerken verloren und damit vor allem auch die Einzigartigkeit. Wenn aber eine „Vielheit von Abzügen möglich“ ist, stellt sich „die Frage nach dem echten Abzug“ nicht mehr.15 Dies hat laut Benjamin jedoch tiefergreifende Folgen, als auf den ersten Blick ersichtlich. Nicht nur ist damit die Aura des Kunstwerks verloren gegangen. Noch wichtiger ist:
„In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.“ 16 Ergo die Politisierung von Kunst findet statt, oder Politik nimmt die Rolle der Kunst ein. Oder man könnte noch genauer sagen, der Verlust des Hier und Jetzt führt zu einer Politisierung der Kunst. Natürlich kann man solch ein Ende als äußerst negative Folge der technologischen Reproduktion von Kunst sehen. Benjamin hingegen sieht und akzeptiert zwar die Konsequenzen der Epoche der Industrialisierung / des Kapitalismus und mit ihr des Klassenkampfes, sieht aber darin auch Raum für Möglichkeiten. Für Benjamin ist die Photographie die Einleitung einer neuen Epoche, vor allem in der Rezeption von Kunst aus der Sicht des Beobachters. „Die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann“, während gleichzeitig der Beobachter immer noch versucht „in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen.“ 17 Dieses Zitat ist von seinem 1931 erschienenem Werk „Kleine Geschichte der Photographie“ und verdeutlicht ein wenig was er in seiner späteren (1936) Arbeit „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ meinte: Die Aura von Kunstwerken, so wie wir sie kennen, mag schwinden aber der Beobachter verändert seine Perspektive mit und sucht und findet diese kleinen Momente des Hier und Jetzt in neuen Kunstwerken.
Fotographie und Film: Zur Ästhetisierung von Politik und Politisierung von Ästhetik
Die Kopie eines realen Moments in der Fotographie ist ungewöhnlich für den Betrachter, öffnet aber ein neues Spektrum für die Art und Weise wie Kunst begegnet wird.18 Kunst ist nicht mehr eine unerreichbare „Haute Couture“, sondern vielmehr das Hier und Jetzt per se. Benjamin akzeptierte also, dass Aura und eine Einzigartigkeit in der frühen Fotographie noch bestand hatte. Er sieht jedoch zwei Gründe für den Verfall der Aura in der Fotographie. Erstens, die Vereinheitlichung der Bilder und ihrer Modelle. Zweitens und noch wichtiger aber dadurch das „Geschäftsleute in den Stand der Berufsphotographen“ Einzug fanden. 19 Die Überschwemmung des Marktes mit Fotographien und vor allem ihre zur Schau Stellung im Heimischen, privaten Bereich zerstörte das Mindestmaß an Kultwert, dass die Fotographie innegehabt haben könnte. Benjamin schätzte die Arbeiten von Fotographen, die vorher Künstler in verschiedenen Bereichen wie der Malerei oder der Schauspielerei waren. Besonders Atget kann als sein Lieblingsfotograph bezeichnet werden, den er gar als Vorreiter des Surrealismus auszeichnet. 20 Er bewundert Atgets Arbeit, weil durch seine Bilder „desinfiziert er die stickige Atmosphäre, die die konventionelle Porträtphotographie der Verfallsepoche verbreitet hat. (…) er leitet die Befreiung des Objekts von der Aura ein“ 21 Argets Bilder waren nicht nur keine Portraits, wie es zu der Zeit üblich war, sondern menschenleer und nur auf die Details von Städten konzentriert. Diesen Stil der Fotographien von Atget kann man als den Fingerzeig auf das Vergessene und Übersehene der Städte interpretieren, was Benjamin in bildlicher Sprache als „sie saugen die Aura aus der Wirklichkeit wie Wasser aus einem sinkenden Schiff“ beschreibt. 22 Seine Definition von Aura, wie sie vorher schon beschrieben wurde, beinhaltet auch das menschenleere Bild. Natur in ihrer pursten Form ist Aura, jedoch nicht ihrer selbst wegen, sondern vielmehr für die Erfahrung der menschenleeren Natur.
Können wir also darauf schließen, dass Benjamin nur Fotographie favorisiert, die einen detaillierten Blick auf die Natur ohne Menschen bietet? Seine Sicht auf den russischen Film könnte diese Frage klären.
„Da gab zum erstenmal seit Jahrzehnten der Spielfilm der Russen Gelegenheit, Menschen vor der Kamera erscheinen zu lassen, die für ihr Photo keine Verwendung haben. Und augenblicklich trat das menschliche Gesicht mit neuer, unermeßlicher Bedeutung auf die Platte. Aber es war kein Porträt mehr.“ 23 Der Film bildete Menschen „in sieben Gruppen, die der bestehenden Gesellschaftsordnung entsprechen“ ab. 24 Für Benjamin ist Natur also nicht nur ihre purste Form ohne Menschen, sondern vielmehr die natürlichste Form der Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, die Realität des menschlichen Alltags und ihrer Machtstrukturen. Sein Bild von auratischer Natur ist also das Abbild der Realität wie ist und nicht wie sie zu erscheinen mag. Dies zeigt Benjamins Marxistische Ansicht auf Kunst. Wenn also Kunst politisiert werden sollte, dann dazu soziale Realitäten darzustellen. Es sollte keine offenbare oder wahrhaftige ökonomische Interessensbeziehung zwischen dem Fotographen und dem Motiv bestehen. Die Natur verlangt nicht nach Geld, ebenso wenig Menschen, die vom Fotographen in ihrer natürlichsten Form auf Film festgehalten werden, also Menschen ohne ein Eigeninteresse in der Fotographie.
Benjamin sieht den Film als weiteres Mittel der modernen Technologie Realitäten aufzuzeichnen, und damit als die kongruente Kunstform der modernen Gesellschaft.
„Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren.“ 25
Diese Schockwirkungen sollten nicht wortwörtlich aufgefasst werden, sondern vielmehr „der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet“ 26 Denn was im Film geschieht ist das Auftauchen mehrerer Bilder, die sich ständig verändern.27 Der Beobachter ist nicht in der Lage sich diese Bilder in Ruhe anzusehen und zu reflektieren. Der Rezeptionsprozess ändert sich mit dem Film dramatisch im Vergleich zur Fotographie oder gar dem Gemälde, da vom Beobachter erwartet wird das Kunstwerk zu sehen, ohne über ein spezifisches Motiv zu reflektieren. Vielmehr ist der Beobachter Teil einer Massenrezeption, welches im Film eine generelle Idee im schnellen Wandel bietet, anstatt einem spezifischen Konzept des Kunstwerks. Zwar ist das ausgestrahlte Bild immer noch von Bedeutung, aber nicht mehr ein einziges, sondern die Gesamtheit aller sich stets verändernden Bilder in ihrer korrekten Reihenfolge.
Wenn aber der Film und die Fotographie in bestimmten Fällen in der Lage waren auratisch und ästhetisch zu sein und Benjamin offensichtlich diese Qualität vor allem einer marxistischen Betrachtungsweise, d.h. einer sozialkritischen & kapitalismuskritischen, Darstellung zuschrieb, dann stellt sich die Frage ob die Eingangsfrage der Ästhetisierung von Politik, oder der Politisierung der Ästhetik erneut. Um uns erneut zu erinnern, findet die Politisierung statt, wenn das Hier und Jetzt der Kunst verloren geht und die Politisierung des Ästhetischen als rituellen Ersatz Einzug findet. Paulo Domenech Oneto macht eine wichtige Feststellung, wenn er klarstellt, dass Benjamins Schriften über Politik im Film oder der Fotographie sich nur auf die beziehen, die von sich einen ästhetischen Anspruch stellen. „Seine These bezieht sich auf Kunst, nicht auf bloße Unterhaltung.“ 28 Wenn man berücksichtigt, wann er „Kleine Geschichte der Fotographie“ (1931) und „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935) schrieb, kann man davon ausgehen, dass ihn die damalige marxistische und faschistische Kunst stark beeinflusst haben dürfte. Denn auf der einen Seite missbilligt er die Politisierung der Kunst dafür ihre Aura zu zerstören, während er gleichzeitig den russischen Film als Kunstwerke lobpreist, welche ebenso politisiert sind, aber als großen Unterscheidungsfaktor die Darstellung der Missverhältnisse zwischen den Menschen darstellt. Richard Allen fasst Benjamins Sichtweise auf die Darstellung der Missstände so zusammen:
„Daher bietet der Schockeffekt, gemeinsam mit den, realistisch dargestellten, mimetischen Aspekten des Mediums, die Möglichkeit für die Massen einen kognitiven Zugang zu einer in Einklang gebrachten Realität zu erlangen, in der sie selbst als Subjekte der Repräsentation erscheinen. Von dieser Perspektive sind die historischen Transformationen, die durch das städtische Leben und der mechanischen Reproduktion herbeigeführt wurden und im Kino dargestellt sind, nichts anderes als ein Auftakt für die revolutionäre Versöhnung, die vom hegelianischen Marxismus angekündigt wurden.“ 29
Benjamin macht eine klare Unterscheidung zwischen Kunst, Ästhetik und Politik beziehungsweise ihre Verwicklung: Faschismus führt Ästhetik in die Politik ein, während Kommunismus die Kunst politisiert.30 Natürlich könnte man damit eine klare Antwort auf die Eingangsfrage erhalten haben und keine Möglichkeit der Ästhetik bei Leni Riefenstahl sehen. Jedoch würde ich behaupten, dass Filme von Leni Riefenstahl zeigen, dass der Faschismus nicht nur versucht hat Ästhetik mit Politik zu vermischen, sondern vor allem auch Kunst im konservativen Sinne. Da er sich dessen bewusst ist, erläutert er etwas mehr seinen Standpunkt, in dem er anerkennt, dass die „propagandistische Bedeutung“ der „Wochenschau“ der Nazis „kaum überschätzt werden kann.“ 31 Darüber hinaus akzeptiert er auch, dass die Form des Kinoformats der Wochenschau der politischen und sozialen Realitäten Nazi- Deutschlands gerecht werden, da „[d]er massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen besonders entgegen.“ 32 Susan Buck- Morss begegnet dieser Frage vom anderen Ende des Spektrums und stellt fest, dass
„wenn wir wirklich die „Kunst politisieren“ sollten in der radikalen Form wie er es anregt, würde Kunst, so wie wir sie kennen, aufhören Kunst zu sein. Vielmehr würde der zentrale Begriff der „Ästhetik“ (…) transformiert, ja sogar abgelöst werden, insofern, als dass ironischer (oder dialektischer) Weise es das Feld beschreiben würde in dem das Gegenmittel zum Faschismus als politische Antwort eingesetzt wird.“33
Wie Buck- Morss auch argumentiert, ändert dies die Frage der Ästhetik in der Kunst vollständig. Ich teile ihre Ansicht dessen, was Benjamin versucht hat in seinen Texten hervorzuheben. Daher muss man feststellen, dass totalitäre Politik, speziell der Faschismus, Ästhetik in die Politik einführen und Film und Fotographie benutzen um den „ästhetischen Anspruch“ zu reproduzieren und das von ihnen dargestellte Bild in der Gesellschaft zu festigen.
Benjamin schrieb in seinem Aufsatz „Theorien des deutschen Faschismus“ deutlich darüber was den deutschen Faschismus und ihm inhärenten Kriegsdurst ausmacht: “Diese neue Kriegstheorie, der ihre Herkunft aus der rabiatesten Dekadenz an der Stirne geschrieben steht, ist nichts anderes als eine hemmungslose Übertragung der Thesen des L’Art pour l’Art auf den Krieg.” 34 Die Wortwahl in dieser Aussage hebt speziell hervor was wir vorher als „alte Kunst“ oder Kunst als sie noch einen Kultwert besaß. Seine Verbindung von Wörtern wie „Dekadenz“ und „L’Art pour l’Art“ mit dem faschistischen Deutschland und die Tatsache, dass diese Wörter stets im Zusammenhang mit seiner Analyse von Kunst, Ästhetik und Aura in abfälliger Benutzung sind meines Erachtens Zeichen die genauer betrachtet werden sollten. Wie im Obigen schon erläutert lehnt Benjamin alte Strukturen in der Moderne ab. Er sieht den Bedarf der Veränderung bei Epochen sozialer Veränderung. Demnach sind die alten Ansätze zur Kunst vor allem vom Kultwert bestimmt, was aber wie schon argumentiert von neuen technologischen Mitteln ad absurdum geführt wurde. Vor allem aber geht in der für Benjamin moderne Zeit Kunst mit hohem Kultwert keine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Zeit ein. Besonders mit der sich verändernden Epoche der 1930er Jahre würde ein Zurückfallen auf die „alte“ Weise der Ästhetik nicht die kontemporären Probleme ansprechen. Um diese Probleme einzuweben in die Kunst, braucht es einen tieferen Einblick, Zeit und Raum zur Reflektion.
Für Benjamin hat die ruhige, menschenleere Fotographie seine Ansprüche erfüllt, da sie sich mit einer wichtigen Aufgabe befasst haben: Details. Details waren es wohl, die Benjamin in den neuen Technologien befürworten konnte. Filme sind natürlich genau das Gegenteil, da die Darstellung von Details in Filmen mit sich ständig verändernden Bildern schwierig ist. Jedoch ist Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ eben in diesem Aspekt sehr erfolgreich. Der Film zeigt Massen. Natürlich sind Gesichter zu sehen, sie sind aber nur Momentaufnahmen, die von anderen Gesichtern, also anderen Momentaufnahmen ersetzt werden. Denn, die Reflektion dieser Details wäre Grund für eine kritische Auseinandersetzung, im Gegensatz zur über-Ästhetisierung massenhafter Gesichter.
Faschistische Ideologie jedoch geht darüber hinaus und spricht eben jene Probleme an, die der Film erzeugt. Wie Benjamin sagt, Filme verlangen nicht, sie fordern nicht heraus wo „Massen Zerstreuung suchen, die Kunst aber vom Betrachter Sammlung verlangt“ ist das Kino zur Stelle. 35 Die Zerstreuung wird den Massen von einer überbetonten und neuerfundenen Ästhetik der Nazis geboten. Wenn er in seinen Anmerkungen schreibt „sieht die Masse sich selbst ins Gesicht“ beschreibt er eben jenes Phänomen der Ästhetik der Nazis im Film.36 Es ist der Moment sich selbst auf der großen Leinwand zu sehen, nicht aber auf der kritischen Ebene wie Benjamin mit dem russischen Kino erwähnte. Vielmehr ist es das über- ästhetisierte Bild des deutschen Volkes. Wie Gerhard Richter betont
„In Riefenstahls höchst ästhetisierten Bildern von jubilierenden jungen deutschen Gesichtern, die die Ankunft von Hitler feiern, und von deutschen Arbeitern, die leidenschaftlich entschlossen sind ihrer Nation und ihrem Führer zu dienen, wird dem Volk die illusionäre Perfektion einer schönen und politisch erotisierten arischen Haltung geboten.“ 37
Leni Riefenstahl und Faschistische Ästhetik
Die Massen spielen eine große Rolle in Leni Riefenstahls Filmen. Wenn Benjamin das letzte auratische Moment in der Fotographie beschreibt, sind es vor allem Atgets Bilder, die keine Menschen beinhalten, sondern die Details der Stadt wiedergeben. Diese Details können als Metapher des Vergessenen, des letzten stillen Ortes, des Unendlichen in einer zerstörerischen hektischen Welt gesehen werden. Auch hat Benjamin geschrieben, dass der Kultwert auf Wissen, der historischen Entwicklung eines Kunstwerks beruht, um mit der Zeit an Aura zu gewinnen. Leni Riefenstahls Filme wurden in deutschen Kinos aufgeführt und waren ein Mittel zur Unterstützung, Etablierung und Konsolidierung der Ästhetik in der Politik. Der Film „Triumph des Willens“ wurde im Jahr 1935 ausgestrahlt. Die ideologische, soziale und politische Bildung des deutschen Volkes bezüglich Adolf Hitlers war stets auf eine messianische Vergötterung gerichtet, musste jedoch mehr hervorgehoben und in die Köpfe der Menschen eingeprägt werden.38 „Wie Wagner in Bayreuth, brauchte Riefenstahl bahnbrechende technische Mittel, um ihre Vision der organischen Einheit zu verwirklichen. Es war stets klar, dass für Hitlers Propagandaanstrengungen dieser Film von zentraler Bedeutung war.“ 39 Was aber ist dieser Film wirklich? Welcher Kategorie kann er zugeordnet werden? Es ist weder ein Dokumentarfilm noch nur ein Propagandafilm, weshalb es „beides transzendiert, eine Aufhebung des Dokumentarfilms und Propaganda zu etwas gänzlich anderem“ 40 Man könnte sogar behaupten, dass „Triumph des Willens“ nur in einem faschistisch- totalitärem System wie Nazi- Deutschland möglich ist und daher ein einzigartiges Filmgenre darstellt. Eine parallele könnte gezogen werden zu Benjamins Anmerkungen zur ersten Fotographie und ihren auratischen Eigenschaften, aufgrund ihrer Einzigartigkeit, ungewöhnlich für den Betrachter und der erste Versuch der Wahrnehmung des Subjekts als Objekt in ein und demselben Kunstwerk.
Diese Einzigartigkeit verflechtet sich mit dem Führerkult in „Triumph des Willens“. Die Präsentation Hitlers als arischer Messias ist direkt verwoben mit dem „Hier und Jetzt“ Nazi Deutschlands. Auch die benutzten Metaphern unterstreichen das. So sind die Massen von SS und SA eine Allegorie für den Assoziationsprozess des Beobachters, verkörpern aber auch die starken arischen Krieger, die gewillt sind zu Kämpfen und ihr Leben in der letzten Schlacht zu geben. “Sie waren uns der Garant des Sieges. Sie sind uns der Garant des Friedens“ sind die letzten Sätze der Rede von Rudolf Hess im Film, die gemeinsam mit anderen Teilen der Reden, die im Film gezeigt werden, was Adolf Hitler als den „Endkampf“ der deutschen Rasse sah. Im Jahre 1930 sah Benjamin diesen Aspekt der letzten Schlacht kommen und verband interessanter Weise Kult und technische Entwicklung mit den Sätzen
„Dies ist er: Der Krieg- der “ewige” Krieg, von dem hier soviel gesprochen wird, so gut wie der letzte- sei der höchste Ausdruck der deutschen Nation. Daß sich hinter dem ewigen Krieg der Gedanke des kultischen, hinter dem letzten der des technischen verbirgt, und wie wenig es den Verfassern gelungen ist, deren Verhältnis zueinander ins reine zu bringen, wird deutlich geworden sein.“ 41
Auf der Suche nach Aura und Ästhetik: Kurzanalyse einer Szene in „Triumph des Willens“
Stilistisch hat Riefenstahl nicht nur die militaristischen Bilder benutzt. Ich möchte nur kurz auf einige wenige Beispiele eingehen, um Riefenstahls Darstellung im Film abzugleichen mit den Ansprüchen Benjamins für auratische und ästhetische Momente per se. Als erstes Beispiel soll das erzeugte Bild eines Kreuzes durch das Flugzeug Adolf Hitlers gelten. Die erste bildliche Sequenz des Films ist ein in der Luft befindliches Flugzeug untermalt von einer majestätischen, glorifizierenden Orchestermusik. Vom Cockpit des Piloten bekommt man einen Eindruck auf die Ansicht des Piloten, während die nachfolgenden Bilder ein Wolkenmeer zeigen. Das Flugzeug schwebt durch die Lüfte, durchdringt die Wolken, man sieht nicht, wohin es gleitet, die Wolken sind wie ein nicht durchdringbarer Nebel bis zu dem Augenblick, an dem die Lorenzkirche und die Sebalduskirche zu sehen sind, gefolgt von der Nürnberger Burg. Der wolkige Himmel ist dem klaren Sonnenschein in der Nürnberger Innenstadt gewichen und der Schatten des Flugzeugs gleitet über die Fassaden und die Straßen der Stadt. Der Schatten den die Lufthansa Junkers JU-52 wirft ist ein Kreuz. Ein schwebendes Kreuz, hoch über den Dächern, während man Menschenmassen in Reih und Glied marschieren sieht. Wie Ameisen, klein und bedeutungslos, aber ein Körper, im Gleichschritt marschierend und in voller Erwartung auf den einen Passagier, der aus dem fliegenden Kreuz hoch über ihnen aussteigen wird. So marschieren sie alle, scheinbar gemeinsam dem Flugzeug nach, in den Straßen, auf Brücken, in Gassen.
Ein harter Schnitt von Riefenstahl.
Von hoch in den Lüften sind wir gemeinsam mit dem Flugzeug am Boden gelandet. Nun sieht man Menschen in voller Erwartung am Flughafen, hinter einer Barriere und vor ihnen Männer im Traditionsanzug der SS. Das Flugzeug landet. Die Soldaten bewegen sich keinen Millimeter, strammgestanden und ohne Regung im Gesicht. Gleichzeitig tobt es um sie herum. Alle anwesenden Zivilen heben ihre Arme zum Hitlergruß, strahlen im Gesicht und schreien „Heil“. Der Schrei der Menschen ist ein dumpfer Klang, der sich wie ein Rauschen der sich nun im Crescendo befindlichen Orchestermusik anschmiegt. Die schreie werden lauter, vor allem Kinder und Frauen sind zu sehen, ihr „Heil“ ist deutlicher zu hören. Aus dem Flugzeug steigt zuerst Joseph Goebbels mit einem breiten Grinsen, die Menge jubelt, das Bild macht einen Cut auf Frauen, die von sich sind vor Begeisterung und wieder Cut zu Hitler der ausgestiegen ist, lächelnd zur Menge sieht, während die „Heil“ schreie ihren Höhepunkt erreicht haben.
Allein diese Eingangssequenz von „Triumph des Willens“ beinhaltet Metaphern, die für einen ganzen Film ausreichen würden. Es dauert jedoch nur 3 Minuten und 15 Sekunden und ist der Start für weit mehr metaphorische Bilder, die hochstilisierte Metaphern darbieten, dass man nicht weiß, ob dieser Dokumentarfilm nun eine Propaganda ist oder eine Propaganda mit dokumentarischen Elementen. Aber gehen wir doch etwas auf die benutzten Metaphern ein.
Das schwebende Kreuz, das sich von den Wolken herabsenkt, noch in der Luft als Wegweiser für die Massen wirkt ist eine Metapher der Ankunft des Messias der Deutschen. Gleichzeitig sind die in Reih und Glied marschierenden Massen im Einklang mit dem Körper des deutschen Volkes. Keine Einzelperson, kein Individuum ist zu sehen. Es sind nicht die Details des Individuums, sondern die Details der Masse. So gesehen hatte Benjamin recht. Jedoch muss man dem entgegnen, dass die Abbildung der Menschen als unifizierter Körper eben jene wahre Abbildung darstellt, die er im russischen Film sah. Dort waren es die Klassenunterschiede, die die Realität der Menschen abbildete. Es waren die Menschen, deren bildliche Details als Portrait ihren Klassenkampf abbildete, die Gesichter als Erzähler der Unterdrückten und der Unterdrücker. Bei Riefenstahl ist die Realität ebenso abgebildet. Nicht der Klassenkampf ist die Realität der Deutschen zur Nazi- Zeit. Die Einheit als Volkskörper, bereit zum Tode für ihren Messias, sie haben ihr Individuum aufgegeben für das Ganze. Denn nur so sind sie in der Lage zu überleben, Teil der Gesellschaft überhaupt zu sein, womöglich aufzublühen in diesem Volkskörper. Der Historikerstreit von 1986 hat uns eines gelehrt: Das deutsche Volk ist schuld am Holocaust, der Vernichtung Europas, Afrikas und Asiens und niemand kann behaupten nichts gewusst zu haben. Wenn man also davon ausgeht, dass jeder zumindest geschwiegen hat, um zu überleben, stellt das die Prämisse dar sich selbst dem Volkskörper zu unterstellen, Teil dessen zu werden, wenn auch nur um zu überleben. Das heißt auch wenn man es nicht für richtig hielt, ist man eben in Reih und Glied in der Masse aufgegangen, da jede Form von Individualismus, ergo Dissonanz, den Tod bedeuten könnte. Von daher ist die Realität des deutschen Volkes perfekt von Leni Riefenstahl abgebildet, so wie es war und nicht wie sie es sich als Regisseurin gewünscht hat. Wenn man diese Prämisse nicht akzeptiert, sondern behauptet sie überspitzt die Abbildung der Menschen als einfarbige Einheit, dann stellt sich die Frage ob man nicht den Widerstandskampf gegen Nazi- Deutschland, wie es zum Beispiel von den Geschwistern Scholl und der Weißen Rose praktiziert wurde, mindert in seiner Tollkühnheit und wahrhaftigen Heldentum.
Ebenso verhält es sich mit den in Hysterie verfallenden Frauen, die an einer anderen Stelle des Films beim Antlitz Hitlers ihre Lippen beißend scheinbar in eine sexuelle Ekstase verfallen. Es ist keine übertriebene Darstellung von Riefenstahl. Vielmehr stellt es nicht etwas dar wie es sein sollte oder könnte, sondern nur so wie es war. Es ist eine Darstellung der Realität. Oder will man behaupten das deutsche Volk war eigentlich ja gegen Hitler und hat ihn nicht vergöttert, hat aber nur mitgespielt? Man muss also zum Schluss kommen, dass Hitler als Messias gesehen, seine Figur alle Formen des Ultimativen eingenommen hat und eben jenes übermenschliche Wesen von Deutschen vergöttert wurde. Deshalb ist die Darstellung von Riefenstahl auch in Bezug auf die in Hysterie verfallenden sexuell erregten Frauen eine dokumentarische, reale Darstellung der Verhältnisse in Deutschland.
Die Darstellung der Masse und nicht des Individuums entspricht meines Erachtens ebenso Benjamins Anspruch an die Fotographie und die Ästhetik, wie er es bei Atget geschätzt hatte. Vor allem zwei Dinge waren von großer Bedeutung bei Atget: 1. Die Darstellung der Natur so wie sie ist und 2. das Vorhandensein von zu betrachtenden und zu reflektierenden Details.
Zum ersten Punkt lässt sich sagen, dass Riefenstahl eben jene Natur Deutschlands abbildet, wie sie war. Sie ist menschenleer, da sie kein Individuum beinhaltet. Sie bildet eine in sich nicht differenzierbare Masse dar, eine Einheit, die nicht in ihre Einzelteile zu trennen ist. Des Weiteren war die Stadt bei Atget eine von Menschenhand geschaffene „neue Realität“ der Natur. Sie ist nicht die reine Natur, von Menschen unangetastet, ungeschändet. Sie ist ein Betondschungel, also eine vermenschlichte urbane Natur. Die Bilder von Nürnberg und den Menschenmassen ist ebenso eine neue Realität: Die Realität der Nazis. Die Masse der Menschen unisono in ihrem Gang, ihrer Kleidung, ihrem Erkennungsruf (Heil), ihrem Gruß, ihrer Begeisterung, kurz ihrem Verhalten ist nicht mehr als die Vielzahl von Individuen zu interpretieren, sondern als eine neue, transformierte Version von der natürlichen und ja menschenleeren Realität zu sehen. Im Gegensatz dazu wären Menschen in Atgets Bildern Individuen, die nicht uniform sind. In Bildern Atgets wäre der Beobachter mit der Abbildung eines Individuums abgelenkt von der Natur, da sich die Frage der Geschichte der Person stellen würde und nicht mehr nur die Detaildarstellung der Natur. In Nazi- Deutschland jedoch ist der Volkskörper Teil der Natur und nicht individuell Geschichtstragend, sondern nur als Volkskörper existierend. Wenn wir also von der Prämisse Benjamins ausgehen, dass die Natur abzubilden ist, wie sie vorzufinden ist und der Blick des Beobachters nicht von Menschen abgelenkt werden soll, dann hat Leni Riefenstahl dies erfolgreich vollbracht.
Zur zweiten Prämisse würde ich behaupten, dass Riefenstahl mit den verwendeten eindeutigen aber stilistisch künstlerischen Metaphern dem Beobachter nicht nur einen Anstoß zur Reflektion, sondern auch die Zeit und den Raum dafür lässt. Die Kritik Benjamins, dass der Film sich stets ändernde Bilder darstellt, trifft in diesem Fall nicht zu, da a) Riefenstahl in ihrer Bilderfolge des Flugzeuges beispielsweise, eine lange Zeit das ähnliche Motiv benutzt, dass keiner genauen Beobachtung von Wolkendetails benötigt und b) die Details der Metaphern die Aufgabe der zu reflektierenden ästhetischen Momente übernehmen und erfüllen. Es geht nicht um die Details des Flugzeuges, sondern um die detaillierte Darstellung eines metaphorischen Motivs der Ankunft des als Messias empor gehobenen Hitlers und ihre Folgen.
All dies wäre nicht möglich gewesen, wenn Riefenstahls Film in keiner Weise ästhetisch wäre. Darüber hinaus haben wir vorher schon erörtert wie Riefenstahls Filme auf Nazi- Ästhetik beruht und beruhen muss, sie gar erschaffen muss, um überhaupt den erwünschten Effekt eines vom Propagandaminister Goebbels höchstpersönlich bezahlten Filmes zu sein. Das bedeutet schließlich, dass man darauf schließen kann, dass Riefenstahls Filme absolut ästhetisch sein und gleichzeitig auratische Momente in sich beinhalten können, wenn auch Kontext, Zeit und Rezipient bezogen.
3. Schlussfolgerungen
Das faschistische Deutschland hat mit Riefenstahls Filmen versucht Nazi- Ästhetik zu schaffen und war, sogar auf theoretischer Basis im Einklang mit Benjamins Theorie, erfolgreich. Die Erzeugung einer Nazi- Ästhetik auf der einen Seite, war der Film „Triumph des Willens“ auch darum bemüht mit messianischen Motiven Hitler zu einem unerreichbaren, übermenschlichen Wesen werden zu lassen. Damit kann man auch davon ausgehen, dass der Film an sich auratisch ist. Auch heute noch kann man Riefenstahls Filme aus einer ästhetischen Perspektive betrachten. Der auratische Moment jedoch, den sein Antlitz zur damaligen Zeit in Nazi- Deutschland hervorgerufen haben muss, ist heute nicht mehr da. Das Wissen um Hitlers Gräueltaten lässt den Beobachter keine Aura in ihm mehr sehen, was man aber nicht mit so einer klaren Aussage für Menschen der damaligen Zeit sagen kann.
„Die Kamera kann uns um das Wissen des Faschismus unterstützen, da sie eine „ästhetische“ Erfahrung zulässt die nicht- auratisch, kritisch „testend“, mit ihrer „unbewussten Optik“ einfängt was eben jene Dynamiken des Narzissmus sind, von der die faschistische Politik abhängig ist, die ihre eigene auratische Ästhetik jedoch kaschiert.“ 42
Dies kann eine Schlussfolgerung sein, zu der man kommt. Eine weitere und vielleicht wichtige Schlussfolgerung sollte zum Verständnis von Walter Benjamin gerichtet sein. Es scheint so als ob er sich über die Auslöschung der Aura in Kunstwerken der Moderne beschwert, jedoch gleichzeitig eine positive Einstellung dieser Tatsache gegenüber hat und nicht auf die Aura der Aura Willen besteht. Seine Kritik der „L’Art pour l’Art“ könnte man also zur Kritik der „L’Aura pour l’Aura“ folgern. Ästhetik in der Politik und folglich die Vereinnahmung dieser spezifischen Ästhetik in der Fotographie und im Film führt zur Ausbeutung der Kunst für totalitäre Zwecke war eines der Schlussfolgerungen die Benjamin in seinen Werken vorausgesehen hatte. Er besteht nicht wie Adorno auf die Ästhetik in der Kunst, da er sehr früh versteht, dass die Fotographie und vor allem der Film sehr einflussreiche Kunstformen sind, die letztlich für kapitalistische Zwecke missbraucht werden.
Deshalb versucht er zu erklären, dass das alte System der Kunst wie man es kannte nicht mehr existiert. Dies wiederum macht den Bedarf nach neuen Definitionen für Kunst, Ästhetik und Aura deutlich.
Quellen
- Benjamin, Walter (1980): „Kleine Geschichte der Photographie“, in: Gesammelte Schriften, Tiedemann, Rolf / Schweppenhäuser, Hermann (Hrsg.), Bd. II, 1, Frankfurt am Main
- Benjamin, Walter (1989): „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
- Sherratt, Yvonne (1998): „Aura: the aesthetic of redemption? “, in: Philosophy Social Criticism, 24 (25), pp. 25- 41.
- Oneto, Paulo Domenech: „A Critical Reading of Walter Benjamin’s The work of art in the age of mechanical reproduction
- Allen, Richard W. (1987): The Aesthetic Experience of Modernity: Benjamin, Adorno, and Contemporary Film Theory, in: New German Critique, Vol. 40, Special Issue on Weimar Film Theory, pp. 225- 240.
- Buck- Morss, Susan (1992): „Aesthetics and Anaesthetics: Walter Benjamin’s Artwork Essay Reconsidered“, in: October, Vol. 62 (Autumn), pp. 3-41.
- Benjamin, Walter (1964): „Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift „Krieg und Krieger“, in: Das Argument, Vol. 30, Faschismus- Theorien I
- Richter, Gerhard (1998): „Face- Off“, in: Monatshefte, Vol. 90, No. 4, pp. 411- 444.
- Smith, Matthew Wilson (2007): „The Total Work of Art. From Bayreuth to Cyberspace“, Routledge, New York.
1 Benjamin, Walter (1989): „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 7.
2 ebd., S. 11.
3 ebd., S. 13.
4 ebd., S. 15.
5 ebd., S. 15.
6 Walter, Benjamin (1980): „Kleine Geschichte der Photographie“, in: Gesammelte Schriften, Tiedemann, Rolf / Schweppenhäuser, Hermann (Hrsg.), Bd. II, 1, Frankfurt am Main, S. 378.
7 Sherratt, Yvonne (1998): „Aura: the aesthetic of redemption? “, in: Philosophy Social Criticism, 24 (25). Aus dem Englischen ins Deutsche vom Autor frei übersetzt.
8 Benjamin, Walter (1989), S. 16.
9 ebd., S. 21ff.
10 ebd., S. 28ff.
11 ebd., S. 40.
12 ebd., S. 38ff.
13 ebd., S. 16.
14 ebd., S. 16f.
15 ebd., S. 21.
16 ebd., S. 21.
17 Benjamin, Walter (1980), S. 371.
18 ebd., S. 372ff.
19 ebd., S. 374ff.
20 ebd., S. 377ff.
21 ebd., S. 378.
22 ebd., S. 378.
23 ebd., S. 380.
24 ebd., S. 380.
25 Benjamin, Walter (1989), S. 48, Anmerkung 29.
26 ebd., S. 48.
27 Für die damalige Zeit wurden Stummfilme bei 16-18 Frames pro Sekunde (FPS) ausgestrahlt, was später zu unserem auch heute noch üblicherweise gebräuchlichen Standard von 24 FPS erhöht wurde.
28 Oneto, Paulo Domenech: „A Critical Reading of Walter Benjamin’s The work of art in the age of mechanical reproduction, S.4 (Aus dem Englischen vom Autor frei übersetzt)
29 Allen, Richard W. (1987): The Aesthetic Experience of Modernity: Benjamin, Adorno, and Contemporary Film Theory, in: New German Critique, Vol. 40, Special Issue on Weimar Film Theory, S. 235. (Aus dem Englischen vom Autor frei übersetzt).
30 Benjamin, Walter (1989), S. 55.
31 ebd., S. 53. Anmerkung 32.
32 ebd., S. 53. Anmerkung 32.
33 Buck- Morss, Susan (1992): „Aesthetics and Anaesthetics: Walter Benjamin’s Artwork Essay Reconsidered“, in: October, Vol. 62 (Autumn), S. 5. (Aus dem Englischen vom Autor frei übersetzt).
34 Benjamin, Walter (1964): „Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift „Krieg und Krieger“, in: Das Argument, Vol. 30, Faschismus- Theorien I, S. 131.
35 Benjamin, Walter (1989), S. 50.
36 ebd., S. 53.
37 Richter, Gerhard (1998): „Face- Off“, in: Monatshefte, Vol. 90, No. 4, S. 420. (Aus dem Englischen vom Autor frei übersetzt).
38 Vor allem wenn man bedenkt, dass Nazi- Deutschland noch keine Angriffskriege gestartet hatte bis dahin aber in der Vorbereitung für diese war. Die vollständige Konsolidierung des Volkes hinter einer messianischen Figur ist von großer Wichtigkeit.
39 Smith, Matthew Wilson (2007): „The Total Work of Art. From Bayreuth to Cyberspace“, Routledge, New York, S. 96. (Aus dem Englischen vom Autor frei übersetzt).
40 ebd., S. 94.
41 Benjamin, Walter (1964), S. 131f.
42 Buck- Morss, Susan (1992), S. 41. (Aus dem Englischen vom Autor frei übersetzt).