Vor 150 Jahren wurde die Pariser Kommune gegründet. Abseits von Aufstand und Revolte erdachten die Kommunarden einen neuen Gesellschaftsentwurf: das gute Leben für alle. Literaturwissenschaftlerin Kristin Ross im Gespräch über die Umrisse einer befreiten Gesellschaft.
Pariser Kommunarden, 1871./ IMAGO / United Archives International.
Am 18. März 1871 übernahmen Arbeiterinnen und Handwerker, Kommunistinnen und Anarchisten die Stadt Paris und gründeten die Kommune. Dieses radikale Experiment sozialistischer Selbstverwaltung dauerte 72 Tage, bevor es in einem brutalen Massaker niedergeschlagen wurde, das Frankreichs Dritte Republik begründete. Die Debatten über die Bedeutung der Kommune sind bis heute nicht abgerissen.
Kristin Ross räumt in ihrem Buch Luxus für alle: Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune, das kürzlich in deutscher Übersetzung bei Matthes & Seitz erschienen ist, mit den über die letzten 150 Jahre angesammelten Polemiken auf, die ihr zufolge nur zu verhärteten Fronten geführt haben: Anarchismus gegen Marxismus, Bauern gegen Arbeiter, jakobinischer revolutionärer Terror gegen Anarcho-Syndikalismus.
Jetzt, da der Kalte Krieg vorbei und der französische Republikanismus erschöpft ist, so argumentiert Ross, können wir die Kommune von ihren Altlasten befreien. Eine Emanzipation von diesen festgefahrenen Positionen könnte wiederum die heutige Linke revitalisieren und ein verändertes Denken und Handeln im Angesicht der Herausforderungen der Gegenwart anregen. Kein anderes Buch bringt Marx’ Aussage, dass die größte Errungenschaft der Pariser Kommune ihr »eigenes arbeitendes Dasein« gewesen ist, so direkt auf den Punkt.
Dein Buch arbeitet die Pariser Kommune für unsere Zeit auf. Inwiefern kann uns die Kommune als Ressource dienen, um die Anforderungen unserer Gegenwart zu begreifen?
Ich bin froh, dass Du »Ressource« dazu sagst, und nicht etwa »Lektion«. Häufig bestehen Leute darauf, dass die Vergangenheit uns Lektionen erteilt oder dass sie uns lehrt, welche Fehler wir vermeiden sollten. Die Literatur, die sich mit der Kommune befasst, ist voll von Besserwissereien, Schuldzuweisungen und einer Freude an der Auflistung von Fehlern: Hätten die Kommunarden nur dies oder jenes getan, das Geld der Bank konfisziert, auf Versailles marschiert, mit Versailles Frieden geschlossen, sich besser organisiert – dann wären sie vielleicht erfolgreich gewesen!
Meiner Meinung nach ist diese Art nachträglicher theoretischer Überlegenheit zugleich unsinnig und zutiefst ahistorisch. Wir leben nicht in der Welt der Kommunarden. Haben wir das erst einmal verstanden, dann können wir besser verstehen, in welchen Aspekten ihre Welt der unseren tatsächlich sehr nahe ist – näher vielleicht als die Welt unserer Eltern.
Wir – und insbesondere junge Leute – erleben heute eine wirtschaftliche Instabilität, die der Situation der Arbeiterinnen und Handwerker des 19. Jahrhunderts, die die Kommune bildeten, sehr ähnlich ist. Die meisten von ihnen verbrachten den Großteil ihrer Zeit damit, nicht zu arbeiten, sondern nach Arbeit zu suchen.
Dass nach 2011 fast überall auf der Welt eine politische Strategie wieder auflebte, die darauf beruht, Raum einzunehmen, Orte und Territorien zu besetzen, Städte – von Istanbul bis Madrid, von Montreal bis Oakland – in Schauplätze strategischer Aktionen zu verwandeln, hat ein neues Licht auf die Pariser Kommune geworfen. Sie ist damit, in der Gegenwart, wieder in den Bereich des Möglichen gerückt.
Ihre politischen Erfindungen sind uns auf eine neue Art verfügbar geworden – nicht als Lektionen, sondern als Ressourcen. Die Kommune wird so zur Figur einer Geschichte und vielleicht auch einer Zukunft, die einen anderen Kurs einschlägt, als es die kapitalistische Modernisierung einerseits und der utilitaristische Staatssozialismus andererseits getan haben.
Ich denke, diesem Projekt fühlen sich heute viele Menschen verbunden. Und die Vorstellungswelt der Kommune ist dabei zentral. Daher habe ich in meinem Buch versucht, sie sowohl als hinter uns liegend, aber auch als Vision mögliche Zukünfte jenseits unserer heutigen Kämpfe zu denken.
»Luxus für alle« war ein Motto der Künstlersektion der Kommune und ist nun der Titel Deines Buches. Wie ist diese Formulierung entstanden?
Anders als die »universelle Republik« war »kommunaler Luxus« oder »Luxus für alle« kein erfolgreicher Slogan der Kommune. Ich fand ihn im letzten Satz des Manifests versteckt, das Künstler und Handwerker während der Kommune verfassten, als sie sich in einer Föderation organisierten. In der Folge wurde er für mich zu einer Art Prisma, durch das ich eine Reihe zentraler Erfindungen und Ideen der Kommune betrachten konnte.
Eugène Pottier, auf den die Formulierung zurückgeht, ist uns heute besser bekannt als der Autor eines anderen Textes, nämlich der Internationale, die er nach der Niederschlagung der Kommune verfasste, als das Blut noch nicht getrocknet war. Was er und die anderen Künstler mit »kommunalem Luxus« meinten, war so etwas wie ein Programm »öffentlicher Schönheit«: die Verschönerung der Dörfer und Städte, das Recht eines jeden Menschen, in einer angenehmen Umgebung zu leben und zu arbeiten.
Dies mag nach einer geringen, fast »dekorativen« Forderung klingen. Tatsächlich bedeutet das aber nicht nur eine komplette Neukonfiguration unseres Verhältnisses zur Kunst, sondern auch zur Arbeit, zu sozialen Beziehungen, zur Natur und zu unserem Lebensumfeld. Es bedeutet die vollständige Umsetzung der beiden Schlagworte der Kommune: Dezentralisierung und Partizipation. Es bedeutet, dass Kunst und Schönheit vergesellschaftet und ohne Einschränkung ins Alltagsleben überführt werden, anstatt in privaten Salons versteckt oder in obszöner nationalistischer Monumentalität zentralisiert zu bleiben.
Die ästhetischen Errungenschaften der Gesellschaft würden keine Formen wie die der Vendôme-Säule annehmen, die der Künstler, Architekt und Sozialist William Morris »jenen Grundstock napoleonischer Polsterung« nannte. Das machten die Kommunarden unmissverständlich klar – indem sie das Monument stürzten. Im Nachleben der Kommune, im Werk von Morris oder auch dem Geographen und Anarchisten Élisée Reclus zeigt sich, wie die Forderung, dass Kunst und Schönheit im Alltag aufgehen sollten, schon die Umrisse jener Ideen trug, die wir heute als »ökologisch« bezeichnen würden: Das gilt zum Beispiel für Morris’ »kritischen Schönheitsbegriff« oder für Kropotkins Beharren auf der Schlüsselrolle regionaler Selbstversorgung.
Der »kommunale Luxus« impliziert ein anderes als das vom Markt bereitgestellte Bewertungssystem, um zu entscheiden, was eine Gesellschaft wertschätzt. Darin wird die Natur nicht bloß als Ressource anerkannt, sondern als Selbstzweck.
Du stellst es in Deinem Buch so dar, dass die Kommune in den Werken unter anderem von Kropotkin oder Morris fortlebt.
Es ist leicht, sich in den furchterregenden Bann dessen ziehen zu lassen, was Flaubert die »Schauerlichkeit« der Kommune nannte – womit er, wie ich nur hoffen kann, die unermesslichen Schrecken der Blutwoche gemeint hat, in der Tausende massakriert und die Kommune zerschlagen wurde. Ich will die Bedeutung dieses Massakers keineswegs herunterspielen – tatsächlich betrachte ich diesen außergewöhnlichen Versuch des Staates, den Klassenfeind einen nach dem anderen vollständig auszurotten, als den Gründungsakt der Dritten Republik.
Dennoch habe ich mich mehr damit beschäftigt, das zu dokumentieren, was ich als das Fortleben der Kommune ansehe – die Art und Weise, wie das Denken der Kommunarden nach Ende der Blutwoche weiter ausgearbeitet wurde, als Überlebende und Exilanten sich mit Unterstützerinnen und Mitreisenden trafen und zusammenarbeiteten. Für sie hatte das Ereignis der Kommune zu einer tiefgreifenden Umgestaltung dessen geführt, was Jacques Rancière »die Aufteilung des Sinnlichen« nennen würde.
Ich beschreibe, wie das politische Erdbeben der Kommune als Ereignis sowie das Aufeinandertreffen und die Diskussionen mit den Überlebenden der Blutwoche die Methode dieser Denker veränderten, die Themen, die sie ansprachen, die Materialien, die sie auswählten, die intellektuelle und politische Landschaft, die sie für sich erforschten – kurz, ihren Weg. Diese unmittelbaren Nachbeben waren die Fortführung des Kampfes mit anderen Mitteln. Sie gehören zum Überhang dieses Ereignisses und sind für dessen Logik genauso wichtig wie die Aktionen auf den Straßen, die an seinem Anfang standen.
Die vielleicht größte Veränderung dieser Art lässt sich in Marx’ weiterem Weg nach der Kommune ablesen. Marx machte nämlich einen Kurswechsel, der paradoxerweise zugleich eine Stärkung seiner Theorie als auch einen Bruch mit dem Begriff der Theorie selbst beinhaltete. Mit der Kommune verdeutlichte sich für Marx, dass die Massen nicht nur die Geschichte machen, also die Wirklichkeit formen, sondern zugleich auch die Theorie der Geschichte und der Wirklichkeit. Das meinte Henri Lefebvre, als er von der »Dialektik des Gelebten und des Gedachten« sprach.
Das Denken und die Theorie einer Bewegung werden erst durch das Aufleben und das Fortleben der Bewegung selbst entfesselt. Aktionen ergeben Träume – nicht umgekehrt.
Du sagst, dass Kropotkin, Reclus und Morris daran arbeiteten, die »Energien des Unzeitgemäßen«, die mit den vorkapitalistischen und nicht-kapitalistischen Formen der Kommune verbunden waren, mit dem radikalen Potenzial neuer sozialer Praktiken zusammenzubringen.
Nicht nur Kropotkin, Reclus und Morris, sondern auch Marx beschäftigte sich mit der »anachronistischen« Existenz vorkapitalistischer gesellschaftlicher Konzepte und Lebensweisen in ihrer Zeit.
Dem Schicksal der russischen agrarkommunistischen Lebensform der Obschtschina, die zu diesem Zeitpunkt Jahrhunderte überdauert hatte, galt ein Hauptaugenmerk des westlichen Sozialismus. Die theoretische Herausforderung, die nach der Kommune Gestalt annahm, drehte sich um die Frage der Wiederbelebung dieser Form der Kommune: Wie ließ sich der atemberaubende Aufstand, der sich in einer der größten Städte Europas ereignet hatte, mit dem Fortbestehen dieser älteren kommunistischen Lebens- und Organisationsformen auf dem Land zusammendenken?
Diese Denker waren alle äußerst sensibel für das, was wir als »Falten in der Zeit« bezeichnen könnten: Momente, in denen die scheinbare Nahtlosigkeit der kapitalistischen Moderne aufzubrechen scheint wie eine Eierschale. Historikerinnen und Historiker betrachten den Anachronismus in der Regel als den größten Fehler, den man machen kann, und gehen ihm deshalb aus dem Weg. So neigen sie dazu, etwa Morris’ Interesse am Island seiner Tage und dessen mittelalterlicher Vergangenheit als Nostalgie abzutun. In Wirklichkeit war Morris durchaus in der Lage, vorkapitalistische Formen und Lebensweisen, wie sie im mittelalterlichen Island floriert hatten, gleichzeitig als etwas Vergangenes und als Figuration einer möglichen Zukunft zu betrachten.
In meinen Augen zeugt das nicht von Nostalgie, sondern von einer hochgradig geschichtsbewussten Denkweise. Ohne solches Denken können wir weder die Möglichkeit der Veränderung denken, noch die Gegenwart als etwas Kontingentes und Offenes leben.
Übersetzung von Thomas Zimmermann
Kristin Ross ist Professorin für vergleichende Literaturwissenschaft an der New York University und Autorin von »Luxus für alle: Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune« (Matthes & Seitz, 2021).
Manu Goswami ist Professorin für Geschichte an der New York University.