Brände im Amazonasregenwald, Feuerstürme in Kalifornien, Brände in der Taiga, tauende Permaforstböden, schmelzende Polkappen, schrumpfende Gletscher, Felsstürze, Überschwemmungen unbekannten Ausmaßes, sich häufende Wirbelstürme, Dürre, Wüstenbildung, verseuchte Gewässer, verschmutzte Luft, Artensterben. Die Zerstörung unserer „Umwelt“ lässt sich kaum noch leugnen und dringt zunehmend ins allgemeine Bewusstsein. Die weltweite Bewegung „Fridays for Future“ ist dafür ebenso Beleg wie die umweltpolitische Programmatik, wenn sie auch weitgehend Programmatik bleibt.
Dass wir dabei sind, unseren Lebensraum zu vernichten, ist jedenfalls inzwischen allen bis auf einige sektiererische Gruppen klar. In den Medien findet die Umweltzerstörung viel Aufmerksamkeit, wenn sie auch in den Tagesnachrichten nur als eine Reihe punktueller Katastrophen in Erscheinung tritt. Ausgeblendet aus dem Wahrnehmungshorizont bleibt aber bisher die Zerstörung der „inneren Natur“ der in diesem System gefangenen Menschen, obwohl beispielsweise viele Horrormeldungen über unverständliche Gewaltexzesse nachdenklich machen müssten.
Nicht nur die statistisch nachweisbare Zunahme psychischer Erkrankungen ist alarmierend (für angelsächsische Länder Fisher 2013, S.27, 46). Auch das Spektrum medizinisch anerkannter Erkrankungen hat sich ausgeweitet. Beides müsste aufschrecken. Bezeichnend ist, dass die üblichen Statistiken zu dem Thema bilanzieren, wie viele Arbeitstage durch psychische Krankheiten und Belastungen ausfallen. Sie machen „Arbeitgeber“ auf ein betriebswirtschaftliches Problem aufmerksam. „Wirklich erschreckend“ findet Jörg Thole vom Institut für Wissen in der Wirtschaft GmbH denn auch „die stetig steigende Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen (+129,4 Prozent in 10 Jahren)“ (https://www.iww.de/ce/work-life/gesundheitsreport-2019-kranke-arbeitswelt-90-millionen-fehltage-wegen-psychischer-probleme-tendenz-steigend-f125683, abgerufen 30.09.20). Waren es 2008 noch 1.270 wegen Arbeitsunfähigkeit ausgefallene Arbeitstage, so 2018 schon 2.914, also weit mehr als das Doppelte (ebd.). Der Dachverband der betrieblichen Krankenkassen stellte 2008 fest „Seelische Krankheiten prägen das Krankheitsbild“ – „Seit Jahren sind in den Statistiken psychische Belastungen und Erkrankungen als Gründe für Krankheitstage auf dem Vormarsch“ (http://www.dnbgf.de/materialien/anzeige/news/bkk-gesundheitsreport-2008, abgerufen 09.10.20).
Einige Berechnungen beschränken sich nicht auf den wirtschaftlichen Aspekt. Allgemein war nach Schulz u.a. (2008) „davon auszugehen, dass annähernd ein Drittel der erwachsenen Allgemeinbevölkerung im Laufe eines Jahres die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer psychischen Störung erfüllt“ (S.9). EU-weit nahmen 2011 starke Depressionen (30,3 Mio.) und Phobien (22,7 Mio.) verschiedener Art in der Statistik den Spitzenplatz ein (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/200448/umfrage/fallzahlen-psychische-erkrankungen-in-der-eu-schaetzung/, abgerufen 30.09.20). Auch Alkoholismus und andere Formen von Drogenabhängigkeit haben statistisch hohe Werte.
Die Krankheitsbilder sind vielfältiger geworden (siehe z.B. https://www.netdoktor.de/krankheiten/psyche/ abgerufen 06.10.20), selbst wenn man annimmt, dass viele früher einfach nicht diagnostisch erfasst wurden. Allein die Suchtkrankheiten haben unverkennbar zugenommen. Neu ist die Internet-Sucht. Früher bot sich kein vergleichbarer Ersatz für mangelnde soziale Einbindung und unerfüllte Kommunikationsbedürfnisse.
Bei vielen Störungen drängt sich die Erklärung durch systembedingte Anforderungen an die einzelnen auf. Leistungs- und Konkurrenzdruck und, speziell in sozialen Berufen die unzureichenden Arbeitsbedingungen, machen zum Beispiel Burn-Out verständlich. Und aus dem permanenten Zwang zur positiven Selbstpräsentation auf dem Arbeitsmarkt kann sich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickeln. Die Erfordernisse des Marktes führen dazu, „dass sich die Menschen permanent selbst thematisieren, selbst optimieren und selbst darstellen müssen“ (Schreiner 2018, S.26). Ein ehemaliger DDR-Bürger erklärt mit Blick auf den Systemwechsel im Interview: „Für viele ist es wichtig geworden, irgendetwas darzustellen, sich zu präsentieren“ (Beilage zur jungen Welt v. 2./3./4.10.20, S.2). Der Einzelne funktioniere heute als „wandelnde Reklame“ für sich selbst, meint ein US-amerikanischer Ökonom (zit. nach Schreiner 2018, S.91).
Unsicherheit darüber, was einen erwartet, erschwert die Lebensplanung. Das beginnt mit den entwerteten Bildungsabschlüssen bei der Berufswahl. Die Beschäftigung in Zeitarbeit, Leiharbeit, mit Werkverträgen oder gar die Übernahme von Microtasks im Internet bieten keine Perspektive und nähren Zukunftsangst, da sozialer Abstieg und Erwerbslosigkeit fast immer als Drohung gegenwärtig sind. Etwas Entsprechendes ist der Wechsel von einem Projekt zum nächsten (dazu Sennett 2000, S.25), eher typisch für höher Qualifizierte, unter anderem für Wissenschaftler*innen. Generell trägt die Abnahme der Tarifbindung zu prekärer werdender Beschäftigung bei. Unsicher ist aber auch die Lage der kleinen Selbständigen im Handel. Sie müssen die Verdrängung durch Ketten und Online-Handel fürchten. Und handwerkliche Betriebe sind zu Zulieferern geworden, die völlig von Großbetrieben abhängig sind. Landwirte sind teilweise zu Vertragsbauern von Schlachtereien und Molkereien geworden. Solche Verhältnisse sind pathogen, Angst oder auch Niedergeschlagenheit nicht überraschend.
Dazu kommt heute die Angst vor den Folgen der Umweltzerstörung, besonders der Klimakrise, aber auch vor Seuchen wie der Covid-19-Pandemie und deren Folgen, auch verursacht durch die gestörten gesellschaftlichen Naturverhältnisse (Wallace 2020). Das sind alles Realängste, aber sie können sich leicht zu sozial auffälligen Phobien wandeln.
Eine Reaktion auf die Ängste ist die Zuflucht in Esoterik – die Nachfrage hat seit 1990 deutlich zugenommen (Schreiner 2018, S.54) – oder gar zu Verschwörungstheorien, da viele die wahren Ursachen für die Bedrohungen nicht ausmachen können oder wollen. Systemzusammenhänge bleiben undurchschaut. – Die Leitmedien tragen zur Verschleierung bei. Kapitalismus und Imperialismus sind dort tabuisierte Begriffe. Eine andere Reaktion ist die Eventkultur, auch „das ständige Verbundensein mit der Unterhaltungsmatrix“ (Fisher 2013, 34). Für viele ist immer Party. Solche Verarbeitungsweisen sind außerhalb des Horizonts therapeutischer Theorie und Praxis und dennoch unproduktiv, wenn nicht gesellschaftlich destruktiv.
Zukunftsangst wegen möglicher Erwerbslosigkeit oder weil die sozialstaatliche Hilfe versagen könnte, wird gern mit Verweis auf angestammte Zugehörigkeit beantwortet. Wer als fremd definiert wird, soll ausgeschlossen werden. Rechte Bewegungen liefern die Scheinargumente dafür. Bindungslosigkeit, soziale Isolation, diskontinuierliche Arbeitsbeziehungen fördern imaginäre Wir-Gefühle (Sennett 2000, S.190), die sich in Nationalismus und Rassismus manifestieren (Auernheimer 2020).
Die Gewaltexzesse im rechten Spektrum sollten nicht unabhängig gesehen werden von der latenten Gewaltbereitschaft, die, so scheint es, in der Gesellschaft allgemein lauert. Ich denke nur beispielhaft an Nachrichten der letzten Zeit: Ein Mann stößt eine ihm fremde Frau mit Kind vom Bahnsteig in das Gleisbett. Häufig sind die Opfer für die Täter Unbekannte. Landesweit Entsetzen ausgelöst hat die Amokfahrt in Trier, wo ein Mann durch die Fußgängerzone gerast ist und gezielt Passanten ermordet und verletzt hat. Schon 2018 war ein Selbstmörder in Münster mit dem Auto in ein Straßencafe hineingefahren und hatte zwei Menschen getötet und mehrere verletzt. Dass das Auto zur Waffe gemacht wird, ist in diesem Land naheliegend.
Viele Sexualpraktiken sind gewaltdurchwirkt, nicht zuletzt sexueller Missbrauch, besonders die inzwischen anscheinend erschreckend weit verbreitete Pädophilie. Die Kontaktdaten eines Täters aus Bergisch Gladbach lenkten die Fahnder jüngst zu einem bundesweiten Geflecht von rund 30.000 Verdächtigen.
Verbale Gewalt in den sog. Sozialen Medien ist zum Thema öffentlicher Diskussionen geworden. Besorgt oder empört registriert man die Häufung von Shit-Storms, Beschimpfungen und Bedrohungen bis hin zu Morddrohungen unterm Deckmantel der Anonymität. Das Medium fördert nicht nur durch die Möglichkeit, die Identität im persönlichen Profil zu verbergen, sondern auch durch den Telegrammstil die Aggressivität. In keinem anderen Medium gebe es „so viel Hass, Böswilligkeit und Hetze“, so der Grünen-Politiker Habeck nach der Kündigung seiner Konten bei Facebook und Twitter (SZ v. 08.01.19).
Die oben erwähnte Zunahme der Ausfalltage wegen psychischer Belastungen, die für Unternehmer besorgniserregend sein muss, beleuchtet die Aktualität eines oft zitierten Marx-Zitats. 1867 schrieb er ahnungsvoll: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (MEW 23, S.529f.). Was die Erde betrifft, wird inzwischen immer häufiger eine ernüchternde Bilanz gezogen. Die Erschöpfung der Arbeitskräfte will man sich dagegen noch nicht so recht eingestehen.
Literatur:
Auernheimer, Georg (2020): Identität und Identitätspolitik. Köln.
Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift. Hamburg.
Schreiner, Patrick (2018): Unterwerfung als Freiheit. Leben im Neoliberalismus. 5., erw. Aufl. Köln
Schulz, Holger/Barghaan, Dina/Harfst, Timo/Koch, Uwe (2008): Psychotherapeutische Versorgung. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 4. Hgg. vom Robert-Koch-Institut, Statistisches Bundesamt.
Sennett, Richard (2000): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin.
Wallace, Rob (2020): Was Covid-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat. Köln.
Quelle: http://politeknik.de/p12099/