Polizeikräfte auf der ganzen Welt tauschen Taktiken aus, wie sie bei Protesten vorgehen. Demonstrierende sollten dasselbe tun, um sich entsprechend zu verteidigen.
Anfang dieses Jahres löste die Einführung des neuen „Police, Crime, Sentencing, and Courts“-Gesetzes landesweite Proteste im Vereinigten Königreich aus — auf die mit Brutalität reagiert wurde. Während sich Aktivist*innen dort auf den Straßen gewalttätigen Polizeikräften entgegenstellten, wendet sich Novara nun dem Rest der Welt zu: Wir wollen vom gemeinsamen Kampf lernen.
Myanmar
Ein 24-jähriger NGO-Mitarbeiter aus Yangon, der seit zwei Monaten jeden Tag an Protesten teilnimmt:
“Besorgt euch eine VPN, organisiert euch per Signal, wascht Tränengas mit Coca-Cola aus und filmt alles.”
In Myanmar protestieren wir im ganzen Land, seit das Militär am 1. Februar die Macht ergriffen hat. Hunderttausende Menschen gehen täglich auf die Straße, um der Polizei und der Armee zu trotzen, die die Bevölkerung mit willkürlichen Verhaftungen und Gewalt terrorisieren. Rund 550 Menschen sind inzwischen getötet worden, die meisten von ihnen Demonstrierende, die während der Proteste erschossen wurden.
Wir mussten uns schnell, flexibel und kreativ organisieren, da die Behörden versuchen, gegen die Mobilisierungen vorzugehen, unter anderem durch das zeitweise Abschalten von mobilen Daten und drahtlosem Internet.
Zuerst benutzten wir Facebook-Gruppen, um die Proteste zu koordinieren, aber das machte es der Polizei zu einfach, die Organisatorinnen zu beschatten und ins Visier zu nehmen (viele von ihnen wurden festgenommen und inhaftiert, einige gefoltert und getötet). Daher benutzen wir jetzt VPNs, um unseren Standort zu verschleiern und kommunizieren über sichere Messaging-Apps wie Signal und Telegram. Ich poste in Gruppenkanälen; aber um in diesen Gruppen zu sein, muss man von eine\r Freund*in hinzugefügt werden, die für einen bürgen kann. So ergibt sich ein Schneeball-Effekt. Einige Aktivist*innen sind noch vorsichtiger und ziehen es vor, Informationen ausschließlich mündlich weiterzugeben, in einer Kette — von einer vertrauenswürdigen Person zu einer anderen, ohne die Quellen der vorherigen Person zu kennen. Auf diese Weise kann jemand, der gefangen genommen wird, keine Informationen an andere weitergeben.
Jeden Tag denken sich die jungen Aktivist*innen neue Ideen aus, um das Momentum aufrechtzuerhalten. Heute haben die Leute überall rote Farbe aufgemalt, um damit Mut zu symbolisieren. Am Ostersonntag schrieben sie Protestparolen auf Eier. Im März, zum Internationalen Frauentag, hängten sie Röcke an Pfähle und Wäscheleinen, weil Männer — gerade Polizisten und Soldaten — zu abergläubisch sind, um unter ihnen hindurchzugehen: Sie befürchten, dadurch ihre Männlichkeit und Stärke einbüßen zu können.
Auf den Straßen versorgen wir die Menschen an der Front mit behelfsmäßigen Schilden zum Schutz vor Gummigeschossen und Gasmasken gegen Tränengas. Hinter der „Front“ ist ein Team dafür zuständig, Tränengasgeschosse mit Wasser und nassen Decken unschädlich zu machen. Wir haben herausgefunden, dass Coca-Cola das effektivste Mittel ist, Tränengas in den Augen auszuwaschen.
Manchmal benutzen wir Feuerwerkskörper, um die Polizei mit lautem Knallen zu überraschen und abzulenken; und wir verbrennen Reifen, um Rauch zu erzeugen und uns so zu verstecken. Wir blockieren die Straßen mit Barrikaden. All diese Dinge funktionieren bis zu einem gewissen Grad; aber manchmal bleibt nur die Flucht. Schließlich benutzen die Polizei und das Militär auch scharfe Munition — und es gibt nichts, was wir tun können, um uns vor diesen Geschossen zu schützen.
Die Generäle haben keine Unterstützung durch das Volk. Sie verbreiten Propaganda über die staatlichen Medien, aber es sind offensichtlich alles lächerliche Lügen; es ist seltsam, das zu beobachten, weil jede*r die Wahrheit kennt. Gleichzeitig haben sie unabhängige Medien verboten und gehen hart gegen Journalist*innen vor. Also müssen wir uns auf Bürgerjournalist*innen verlassen, die mit ihren Handys aufzeichnen, was tatsächlich passiert. Viele dieser Menschen wurden inzwischen auch inhaftiert, aber es gibt immer mehr einfache Leute, die sich melden. Die Nachrichtenagenturen verlassen sich zunehmend auf deren Videos und Fotos, die wir wiederum auf Social Media teilen.
Griechenland
Eine Aktivistin und Wissenschaftlerin aus Athen:
“Bildet Blöcke und bleibt zusammen; Maske auf, eine Graffiti-Spur hinterlassen, Beweise sichern — und niemals aufgeben.”
Griechenland befindet sich seit einem Jahr immer wieder im landesweiten Lockdown, wobei der aktuelle bereits fünf Monate andauert. Die bürgerlichen Freiheiten und die Bewegungsfreiheit wurden durch eine Reihe von Notfallmaßnahmen — wie eine nächtliche Ausgangssperre — erheblich eingeschränkt. Die Menschen dürfen ihre Häuser nur für eine begrenzte Zeit und mit einem bestimmten Grund verlassen, nachdem sie eine SMS an die zuständige Überwachungsbehörde geschickt haben. Die Polizei wurde mit der Durchsetzung dieser Maßnahmen beauftragt, was zu vielen Vorfällen von Machtmissbrauch führte.
Gleichzeitig hat die Regierung unpopuläre Gesetze zur Überwachung akademischer Einrichtungen verabschiedet und die Freiheit zu protestieren als „verfassungswidrig“ kriminalisiert. Null-Toleranz und oft exzessive Gewaltanwendung ist die übliche Reaktion der Polizei auf jede Form von Protest — von Beschäftigten im Gesundheitswesen, die mehr persönliche Schutzausrüstung gegen das Virus fordern, über antifaschistische und pro-demokratische Aktionen bis hin zu den jüngsten Studierendenprotesten.
Die jüngste Geschichte von Polizeigewalt und Brutalität lässt sich jedoch weiter zurückführen: Seit den Unruhen im Dezember 2008, die durch die Ermordung von Alexandros Grigoropoulos durch die Polizei ausgelöst wurden, hat die griechische Polizei mehr und mehr Ausrüstung angeschafft und sich effektiv in eine militarisierte Truppe verwandelt. Polizeigewalt bleibt derweil weitgehend unbehelligt von rechtlicher Kontrolle oder Strafverfolgung.
Polizisten schlagen einen älteren Mann während einer Demonstration in Athen im Jahr 2010. (Creative Commons)
Öffentliche Proteste bleiben ein zentraler Bestandteil des Widerstands in Griechenland. Proteste hinterlassen regelmäßig Graffiti-Spuren und schaffen somit ein sichtbares urbanes Archiv der jeweiligen Themen, die von den Mainstream-Medien regelmäßig ignoriert werden — seien es Geflüchtetenrechte, Polizeibrutalität, Klimakatastrophe, LGBTQ*- oder Gefangenenrechte.
Aktivist*innen, aber zunehmend auch Anwohner*innen und Passant*innen, filmen Vorfälle von Polizeibrutalität mit ihren Handys, um sie über Social Media und demokratiefreundliche Medien zu verbreiten. Eine Reihe von gewalttätigen Vorfällen in den vergangenen Monaten hat den öffentlichen Diskurs nur deshalb erreicht, weil Bürger*innen per Social Media Filmmaterial geteilt haben, das dann von den nationalen Medien aufgegriffen wurde. Oft sind Social-Media-Videos vor Gericht hilfreich, wenn Festgenommene fälschlicherweise beschuldigt werden, die Polizei angegriffen zu haben.
Die Haupttaktik im Falle eines Polizeiangriffs bei Massenprotesten bleibt, so weit wie möglich in einem Block zusammen zu bleiben und sich geordnet zurückzuziehen. In einigen Fällen versuchen die Demonstrierenden, die Polizei zurückzuschlagen, um anderen Menschen etwas mehr Zeit zum Rückzug zu geben. Kürzlich beschloss eine politische Gruppe, die beobachten musste, wie eines ihrer Mitglieder illegalerweise in Polizeigewahrsam gehalten und tagelang schwer geschlagen wurde, kollektiv eine Klage gegen die Polizei einzureichen.
Polizeibrutalität ist nur eine Form der Gewalt unter vielen. An den Fahrzeugen von Aktivist*innen und Akademiker*innen, die sich in Rechtsgruppen engagieren, werden Peilsender angebracht, und Aktivist*innen werden durch die Veröffentlichung ihrer Namen und Nummernschilder gezielt identifiziert und markiert. Eine der wichtigsten Widerstandshandlungen besteht darin, nicht in Panik zu verfallen, sondern diese Praktiken öffentlich bekannt zu machen — und sich weiterhin sozial und politisch zu engagieren.
Die Menschen haben sich in letzter Zeit vermehrt sicheren Kommunikationsnetzwerken wie Signal zugewendet und sind vorsichtiger geworden, wenn es um ihre persönliche Sicherheit geht. Wenn sie auf die Straße gehen, haben die meisten Menschen ein Tuch dabei, um ihr Gesicht zu bedecken und sich vor Tränengas zu schützen. Sie verwenden Magenmedikamente wie Maalox oder Riopan, um die brennende Wirkung zu minimieren.
Die Aktivist*innen in Griechenland wissen, dass sie nicht aufgeben können — auch wenn sie Angst haben. Ein gebrochener Knochen heilt schneller als ein zerbrochenes Bewusstsein. Das ist nicht leichtfertig daher gesagt; die Risiken sind groß: Menschen wie der 27-jährige Vassilis Maggos sind im vergangenen Jahr in Griechenland durch Polizeischläge gestorben. Dennoch ist die kollektive Mobilisierung für Gerechtigkeit eine der effektivsten Möglichkeiten, sich gegen Polizeibrutalität zu stellen, und eines der besten Mittel gegen systemische und systembedingte Depression. Wenn die Angst vor polizeilichen Übergriffen über die Meinungsfreiheit und einen engagierten sozialen Dialog siegt, dann müssen wir tatsächlich von einem Sieg des Autoritarismus sprechen.
Vereinigte Staaten
Jasson Perez, ein Abolition-Organisator beim Afro-Socialists & Socialists of Colour Caucus der Democratic Socialists of America:
„Das Ziel von Straßenprotesten ist es, die Straßen zu kontrollieren — nicht mit der Polizei koordinieren, sondern sie lähmen.“
Als jemand, der früher bereits selbst inhaftiert war, organisiere ich in den USA seit etwa 20 Jahren den Abolition-Kampf — also die Arbeit für Anti-Polizei- und Anti-Inhaftierungs-Organisationen. Straßenproteste waren immer ein großer Teil davon, wobei die Proteste nach der tödlichen Erschießung von Michael Brown durch einen Polizeibeamten in Ferguson, Missouri (2014), eskalierten.
Eine wichtige Überlegung für Organisator*innen ist, wie man Bewegungen langfristig und langlebig aufbauen kann. Massenproteste brechen oft spontan aus, aber um mächtige Bewegungen aufzubauen, brauchen wir fortlaufende Kampagnen, wie beispielsweise gegen die Überfinanzierung der Polizei oder mit anhaltenden direkten Aktionen gegen die Polizei. Diese Kampagnen sollten in Organisationen ihre Wurzeln und Basis haben — aber sie sollten gleichzeitig für alle offen sein. Sie können uns in die Lage versetzen, die Bewegungen langfristig zu stärken, sowohl in Bezug auf die Taktik — wie beispielsweise regelmäßige Trainings für direkte Aktionen — als auch in Bezug auf eine breitere politische Bildung über die Zusammenhänge zwischen Polizeibrutalität & Kapitalismus, Polizeibrutalität & Klimawandel und so weiter.
Protestierende liegen in Washington DC auf der Straße, neben ihnen der Schriftzug “defund the police”, Juni 2020. (Geoff Livingston/Flickr)
Ich komme aus der Tradition einer Denkschule, die davon ausgeht, dass es das Ziel von Straßenprotesten sein muss, die Straßen zu kontrollieren. Unser Ziel ist es nicht, der Polizei zu erlauben, die Straßen zu kontrollieren, und unser Ziel ist es nicht, uns mit ihr zu koordinieren oder zu kooperieren. In dem Moment, in dem man sich mit der Polizei koordiniert, leistet man keinen massenhaften zivilen Ungehorsam, sondern man führt lediglich eine Performance, eine Choreographie, auf.
In Bezug auf die Strategie würde ich daher argumentieren: In der gleichen Weise, wie Streiks darauf abzielen, Arbeitsorte lahmzulegen, oder Klimaproteste darauf abzielen, die Infrastruktur für fossile Brennstoffe lahmzulegen, sollten Abolition-Organisationen darauf abzielen, Polizeireviere lahmzulegen. Und zwar, indem sie die Polizei und ihre Polizeireviere zum Ziel der Proteste machen.
Was Tipps für den Widerstand gegen Polizeibrutalität bei den Protesten selbst angeht, kann eine Taktik darin bestehen, zu versuchen, andere Demonstrierende zu befreien („enthaften“ statt „verhaften“). Wenn einer deiner Freund*innen festgenommen wird — und besonders, wenn die Polizei dabei gewalttätig ist — ist es deine erste Aufgabe, so viele Leute wie möglich dazu zu bringen, ihre Körper zwischen den/die Verhaftete*n und die Polizei zu stellen. Die Polizei muss von immer mehr Leuten umringt werden, die „Lasst sie gehen, lasst sie frei“ oder Ähnliches skandieren, um so viel Druck wie möglich auf die Polizei auszuüben, damit sie sie tatsächlich wieder freilässt. „Enthaftungen“ sind allerdings etwas, das Übung erfordert. Nur so können sie erfolgreich sein.
Palästina
Riya Al’Sanah, palästinensische Forscherin und Koordinatorin bei der Forschungseinrichtung Who Profits.
“Die Polizei im Kontext lesen und verstehen, eine intersektionale Massenbewegung aufbauen und immer hoffnungsfroh bleiben.”
Rund zwei Millionen Palästinenser*innen leben im Palästina der Grenzen von ’48 (dem heutigen Israel). Hier ist es der Sicherheitsarm des israelischen Siedlerstaates, der über uns regiert, also die israelische Polizei. Im Westjordanland und im Gazastreifen herrscht Kriegsrecht. In „Palästina ’48“ hat die israelische Polizei auf zwei spezifische Arten gehandelt, um die Gewalt zu erhöhen und die Palästinenser*innen zu unterdrücken. Die eine Art ist, die Verbreitung von Waffen innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft zu erleichtern, um die Gewalt zu fördern, die in den letzten fünf oder sechs Jahren massiv zugenommen hat. Der andere Ansatz ist, die Palästinenserinnen im Rahmen einer rassistischen Polizeiarbeit gezielt ins Visier nehmen. Erst vor wenigen Tagen wurde Munir Anabtawi, ein 33-Jähriger aus Haifa, der an psychischen Problemen litt, von der israelischen Polizei erschossen, nachdem seine Mutter sie angerufen hatte, um ihn ins Krankenhaus zu bringen. Auf Anabtawi wurde fünfmal geschossen — drei Schüsse in den Rücken, zwei in die Brust. Er war pflegebedürftig; und wurde von der israelischen Polizei hingerichtet. Das ist kein Einzelfall. Zwischen 2012 und 2017 [waren 70% der von der israelischen Polizei getöteten Menschen Palästinenserinnen](https://www.mekomit.co.il/%D7%91%D7%97%D7%9E%D7%A9-%D7%A9%D7%A0%D7%99%D7%9D-14-%D7%90%D7%96%D7%A8%D7%97%D7%99%D7%9D-%D7%A0%D7%94%D7%A8%D7%92%D7%95-%D7%9E%D7%99%D7%A8%D7%99-%D7%9E%D7%A9%D7%98%D7%A8%D7%AA%D7%99-%D7%90%D7%A4/), obwohl sie nur 20% der Bevölkerung des Staates Israel ausmachen.
Die Bewegung stellt diese Zahlen jetzt in einen Kontext, um sie zu politisieren. Wir reden hier nicht über Polizeireformen. Wir reden über die Polizei als eine Institution, die dem israelischen Siedler- und Kolonialstaat, unter dem wir leben, inhärent ist; eine Institution, die Palästinenser*innen — nicht nur in Israel, sondern auch im Westjordanland und im Gazastreifen — als ein Kollektiv betrachtet, das kontrolliert, überwacht und unterdrückt werden muss. Die Polizei wird uns niemals beschützen, noch wird der israelische Staat uns jemals Gerechtigkeit widerfahren lassen. Also stellt sich die Frage: Wie bauen wir unsere eigenen Institutionen und Strukturen auf, um uns selbst zu schützen? Das ist etwas ganz anderes als die von einigen Teilen der palästinensischen politischen Führung in den letzten 20 Jahren vorangetriebene Tendenz, sich stärker in den Orbit des Staates zu integrieren.
Israelische Polizistinnen in Jerusalem. (Creative Commons)*
Die Bewegung versucht heute, alternative Wege zu entwickeln, Politik zu machen und Macht aufzubauen — nicht nur um uns im Hier und Jetzt zu schützen, sondern um eine freiere und gerechtere Zukunft aufzubauen. Ein großer Teil dieser Organisierung hat in einer Stadt namens Umm al-Fahm stattgefunden, wo es in den vergangenen Monaten öffentliche Versammlungen und große wöchentliche Demonstrationen gab. Interessant ist, dass in dieser Zeit das Ausmaß der Gewalt in der Stadt massiv zurückgegangen ist.
Ich habe drei Ratschläge für Organisator*innen. Der erste ist, die Analyse über die Wurzeln der Polizeibrutalität über die Institution der Polizei hinaus auf den Staat auszuweiten. Der zweite ist, eine Massenbewegung aufzubauen, die auf die vielschichtige Natur von Polizeibrutalität achtet und darauf, wie sie sich mit Race, Klasse und Geschlecht überschneidet. Das dritte ist, uns in unseren Bewegungen auf Hoffnung zu fokussieren. Wir führen den Kampf nicht nur, um die repressiven und ausbeuterischen Strukturen abzubauen, die unser Leben zu einem Elend machen, sondern um eine bessere Zukunft aufzubauen. Der Widerstand gegen Polizeibrutalität und die Forderung nach ihrer Abschaffung ist Teil dieses Prozesses.
Nigeria
Gbenga Komolafe, Generalsekretär des Verbands der informellen Arbeiter*innen in Nigeria (FIWON):
“Nutzt Social Media, um Polizeigewalt aufzuzeigen, und sammelt Geld, um Protestierende zu unterstützen.”
Nigerianische Polizisten. (AU-UN IST PHOTO/ Tobin Jones)
Polizeibrutalität gehört in Nigeria seit jeher zum Alltag — Erschießungen durch die Polizei, Verletzung von Zivilist*innen durch die Polizei an Kontrollpunkten… Nach neuen Enthüllungen über Misshandlungen durch die berüchtigte Polizeieinheit des Landes, die Special Anti-Robbery Squad — oder SARS — ebenso wie die Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen für die Mehrheit der Nigerianer*innen, brach im Oktober vergangenen Jahres eine riesige Protestbewegung sowohl gegen SARS als auch gegen wirtschaftliche Ungleichheit im Allgemeinen aus.
Die #EndSARS-Proteste selbst wurden zum Schauplatz von beispielloser staatlicher Gewalt. Am 20. Oktober wurde eine Gruppe junger Demonstrierender, die an der Mautstelle Lekki in Lagos saßen, massakriert, als Militärfahrzeuge beide Ausgänge blockierten und das Feuer eröffneten. Am darauffolgenden Tag wurden Hunderte weitere Menschen in Lagos und in anderen Bundesstaaten des Landes getötet. Während die Regierung diese Opfer leugnete, führte die Brutalität zu verstärkten Protesten im ganzen Land, bei denen Häuser und Lagerhäuser prominenter Politiker*innen, die große Mengen an Anti-COVID-Hilfsmaterialien horteten, von wütenden Demonstrierenden gestürmt und geplündert wurden.
“End SARS”-Protest, Lagos. (Creative Commons)
Es gibt jedoch wichtige Dinge, die die Demonstrierenden in Nigeria auf ihrer Seite wissen. Eines davon sind die sozialen Medien: Tausende junger Menschen, die mit ihren Smartphones Fotos und Videos von der Gewalt machten und sie auf Facebook, Instagram und Twitter hochluden, spielten eine Schlüsselrolle bei der Offenlegung der Polizeibrutalität. Doch nicht nur das; die Videos entlarvten auch die Lügen der Regierung in dem Maße, dass Nigerias politische Klasse völlig diskreditiert wurde.
Es ist auch wichtig, die Rolle der Frauen — insbesondere der Feminist Coalition, von denen viele international tätig sind — bei der Unterstützung der Protestbewegung zu betonen. Die Koalition sammelte hunderttausende Dollar, um die Menschenmengen zu unterstützen, zum Beispiel mit Essensausgaben, der Bezahlung von Rechtsbeistand für die Verhafteten und der Krankenhausrechnungen für die Verletzten.
Obwohl sich die Polizeigewalt im Vereinigten Königreich und anderen Staaten natürlich sehr von der Situation in Nigeria unterscheidet — die Polizei in Nigeria ist viel brutaler und viel korrupter — gibt es bei uns wichtige Lektionen darüber zu lernen, was grundsätzlich nötig ist, um Bewegungen zu unterstützen.
Chile
Claudia Mendez ist Aktivistin, die sich an den im Oktober 2019 gestarteten Protesten beteiligt:
“Koordinieren und Rollen verteilen, Tränengaskartuschen entschärfen, Steine sammeln und Barrikaden bauen.”
Polizei während eines Protests in Chile im Jahr 2018. (Creative Commons)
Die Polizeibrutalität in Chile erreichte ihren Höhepunkt nach den von Studierenden angeführten „Estallido Social“-Protesten am 18. Oktober 2019. Dies löste die Gewalt aus, die wir auch heute noch erleben. Doch es gab auch zuvor immer wieder Polizeiübergriffe gegen ärmere Schichten. Der „Estallido Social“ hat diesen Missbrauch nur noch offensichtlicher gemacht: Tausende haben durch Gummigeschosse ihr Augenlicht verloren, 40 sind gestorben, Tausende wurden verhaftet. Es gibt außerdem schreckliche Polizeigewalt gegen das Volk der Mapuche, deren Territorium militarisiert wurde.
Viele Faktoren haben die Ereignisse des 18. Oktober ausgelöst. Es gibt eine tiefgehende wirtschaftliche Ungleichheit: Privatisierung der Grundversorgung, niedrige Löhne, viele Probleme mit dem sozialen Wohnungsbau, der öffentlichen Bildung und der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Es gibt des Weiteren viele Umweltprobleme: Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, Abholzung, Wasserknappheit.
Es ist eine Bewegung der arbeitenden Klasse, die sehr unzufrieden mit den politischen Parteien ist. Es gibt eine sehr radikale, starke Gruppe junger Aktivist*innen — “La Primera Línea” [die Frontlinie], die Demonstrierenden auf der ‚Plaza de la Dignidad‘ im Zentrum von Santiago. Sie haben konstanten Widerstand aufrechterhalten, im wortwörtlichen Nahkampf mit der Polizei. Dank ihnen ist es Anderen auch möglich, friedlich zu protestieren.
Bereitschaftspolizei während eines Protests in Chile. (Simenon/Flickr)
Es gibt neue Formen der Koordination: Die Menschen haben unterschiedliche Rollen — einige sind zum Beispiel für die Entschärfung von Tränengasgeschossen zuständig, andere für das Sammeln von Steinen. Es scheint auch eine spontane Organisation zu geben: In der Peripherie Santiagos, in den armen Gebieten, gibt es viele Barrikaden, wo junge Leute auf die Polizei warten und sie angreifen.
Bei den anstehenden Wahlen werden die Menschen sogenannte „Konstituierende“ wählen, die die neue Verfassung schreiben werden — angeblich ein Sieg für den Estallido Social. Aber viele sehen dies lediglich als Teil-Zugeständnis, da es für unabhängige Kandidat*innen sehr schwierig ist, tatsächlich mitzureden. Es gibt sehr viel Misstrauen und Unzufriedenheit rund um die Wahl, so dass diese als Strategie des Widerstands vielleicht zwecklos ist. Möglicherweise könnte dieses Gefühl einen erneuten Estallido Social auslösen, wenn die Pandemie vorbei ist.
Kolumbien
Juan David Páramo, ein freiwilliger medizinischer Helfer, der seit 2019 in den Protesten aktiv ist und insbesondere an den Protesten gegen Polizeibrutalität im September 2020 beteiligt war:
„Die Taktiken diversifizieren: Kundgebungen, Versammlungen, Streiks, direkte Konfrontationen, Barrikaden und Autobahnbesetzungen.“
Kolumbiens Spezial-Polizeitruppe ESMAD, in Bogotá. (Creative Commons)
Kolumbien hat in letzter Zeit die Militarisierung des öffentlichen Lebens erlebt sowie die Nutzung staatlicher Strukturen, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Die Feinde dieser Politik sind vor allem junge Menschen und jede Person, die der etablierten staatlichen Ordnung kritisch gegenübersteht. In diesem Zusammenhang wurde die ESMAD [die mobile Anti-Unruhe-Staffel] geschaffen — eine Einsatztruppe, die wegen Morden und anderen Fehlverhaltens in die Kritik geraten ist. Ihr Zweck ist es, öffentliche Unruhen zu unterdrücken.
Was die Strategien des Widerstands gegen Polizeigewalt angeht, so haben wir ein „Repertoire“ an kollektiven Aktionen — Kundgebungen, Versammlungen, Streiks, „Tropeles“ [Konfrontationen mit der Polizei], Barrikaden und Autobahnbesetzungen. Was wir jetzt erleben, ist der Höhepunkt all der Proteste, die es bereits vorher gegeben hatte — des Bürger*innenstreiks von 1977, der Kämpfe in öffentlichen Universitäten… Diese Erfahrungen werden alle herangezogen, um die Bewegung zu verteidigen und zu stärken.
Kolumbische Polizeikräfte während einer Übung. (Creative Commons)
Kürzlich hat sich eine Gruppe namens „los escudos azules“ [die blauen Schilde] gebildet, um die Bewegung vor Angriffen durch die Polizei zu verteidigen. Das sind junge Leute, die Kapuzen tragen, um sich zu schützen: Nachdem sie zum Beispiel Augenverletzungen [durch Tränengas] erlitten haben, tragen heute immer mehr Demonstrierende Schutzkleidung. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Strategie der Bewegung, der sich aus dem Widerstand der kolumbianischen Bäuer*innen sowie der indigenen Bevölkerung ableitet, ist die Bildung von „Teams“, die sich mit Menschenrechten, Kommunikation und Gesundheit beschäftigen.
Wenn die Menschen weniger Angst vor der Konfrontation mit der Polizei haben, eskaliert die Gewalt. Die meiste Zeit werden Demonstrierende Steine werfen — und dann kommt die ESMAD und schießt Kugeln mit Pellets und Glas, die schon so viele Menschenleben gefordert haben. Manchmal werfen die Demonstrierenden aber auch Molotow-Cocktails. Das ist natürlich riskant, aber man muss dieses Risiko im Hinblick darauf einschätzen, womit man es zu tun hat. Die Demonstrierenden müssen derartige Taktiken oft zur Selbstverteidigung einsetzen, wenn die Behörden sehr gewalttätig auftreten.
Unter Mitarbeit von Charlotte England, Clare Hymer, Rivkah Brown, Camille Mijola und Sophie K Rosa.
Übersetzer*inTim Steins