Vor genau einem Jahr tötete ein 42-jähriger Mann in einer Shisha-Bar in der Innenstadt Hanaus neun Menschen. Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov verloren bei dem rechtsterroristischen Anschlag ihr Leben. Anschließend tötete der Mann auch seine Mutter.
In Hanau sowie in weiteren deutschen Städten gab es daraufhin Kundgebungen, doch die politischen Konsequenzen blieben bisher aus. Angehörige der Opfer fordern weiterhin eine restlose Aufklärung und konkrete Hilfen gegen rechte Gewalt.
Ein Jahr danach sprechen wir im JACOBIN-Interview mit Ferat Kocak aus Berlin-Neukölln, der selbst vor drei Jahren Opfer eines rechten Anschlags wurde. Er ist Politiker bei der Partei DIE LINKE und kandidiert bei den Wahlen im September für das Abgeordnetenhaus. Für die Initiative 19. Februar Hanau ruft er zur gemeinsamen Erinnerung an dezentralen Kundgebungen auf.
Ferat, Du bist selbst Betroffener eines versuchten Anschlags auf Dein Leben und Du berichtest seitdem durchgehend auf Deinen Kanälen von Anschlägen, Drohungen und Todeslisten. Wie geht es Dir ein Jahr nach Hanau?
Naja, die Frage ist: Wie geht es mir seit Mölln, Solingen? Seit Rostock-Lichtenhagen? Seit dem NSU, seit Halle und jetzt seit Hanau? Es bleibt das Gefühl, dass immer Symbolpolitik im Vordergrund steht, wenn gerade etwas Rechtsterroristisches passiert ist, und dann wird wieder alles vergessen. All das macht mich traurig. Es weckt auch eine gewisse Wut in mir, die ich durch meinen Aktivismus kanalisiere.
Hanau war ein Schlag ins Gesicht. Wir haben alle noch den NSU in Erinnerung und waren noch dabei zu verarbeiten, dass die Akten 120 Jahre unter Verschluss stehen und wir keine vollständige Aufklärung haben würden. Dann passierte Hanau. Wenn wir uns die Hintergründe anschauen, dann sehen wir so viele Parallelen zu den vorigen Anschlägen. Und wenn ich dann mit anderen Betroffenen spreche, ist die Angst groß, dass jederzeit wieder so etwas passieren kann. Und deshalb sagen wir auch: Hanau ist kein Einzelfall.
Im letzten Jahr gab es sogar noch die Situation, dass die einen trauerten während die anderen Karneval feierten, woran man merkte, dass es eben nicht alle gleich trifft.
Die Sache mit dem Karneval war wirklich insofern besonders, als dass viele Menschen, die im Umfeld von Hanau leben, den Anschlag für ein, zwei Tage wahrgenommen haben und dann war das alles vergessen. Aber bei uns von Rassismus betroffenen Menschen bleibt das haften. Wir tragen das ein Leben lang mit uns.
Deshalb habe ich auch mit Mölln und Solingen angefangen, weil das für viele gar nicht mehr greifbar ist. Deswegen sagen wir, es muss weiter daran erinnert werden, damit sich etwas ändert.
Würdest Du sagen, dass durch Todeslisten, Funde von Waffen bei Rechten und Netzwerken in den Behörden eine neue, gefährliche Ebene des Rechtsterrors erreicht ist?
Ja, ich würde sagen rechte Strukturen gibt es seit 1945, doch sie sind heute wieder viel stärker in den Strukturen des Staates vernetzt – gerade auch mit der AfD, dem parlamentarischen Brandstifter sozusagen, die vom Parlament aus hetzen. Ich finde, mit den ganzen Waffenfunden und den Skandalen um Nazi-Chats sehen wir, wie dramatisch die Situation ist. Von politischer Seite aus und von den Behörden aus geschieht zu wenig.
Am Beispiel des NSU und wie mit diesem Prozess umgegangen worden ist, verdeutlicht sich das, aber auch am Prozess, der auf den Anschlag auf eine Synagoge in Halle folgte, wo der zweite Hauptverdächtige freigesprochen wurde und der Angriff auf den Geflüchteten nicht Gegenstand der Verhandlungen war. Da müssen wir genauer hinschauen und uns schon fragen: Haben wir nur in den Sicherheitsbehörden ein Problem mit rechten Strukturen oder geht das bis in die Ebene der Rechtsprechung hinein?
Was genau läuft aus Deiner Sicht in den Behörden falsch?
Wir merken es immer wieder bei uns im »Neukölln-Komplex«. Wir haben hier seit elf Jahren eine rechte Anschlagsserie und seit elf Jahren eine Aufklärungsrate von null Prozent, trotz bekanntem Täterkreis. Außerdem häufen sich die Skandale, bei denen rechte Strukturen und Sicherheitsbehörden immer wieder zusammen auftauchen.
Und da stelle ich wiederholt fest, dass zum einen die Politik ihre Kontrollfunktion gegenüber den Sicherheitsbehörden nicht wirklich umsetzt, wahrscheinlich, weil die Sicherheitsbehörden ein in sich geschlossener Komplex sind und sich rechte Strukturen darin auch ein Stück weit selbst schützen.
Der Mörder von Hanau war beispielsweise trotz seiner rechten Gesinnung berechtigt, eine Waffe zu führen. Mehrere Zeugen haben noch versucht, die Polizei anzurufen, doch sie kamen nicht durch. Hinzu kommt, dass der Notausgang der Shisha-Bar vermutlich auf polizeiliche Anweisung versperrt war. Und auf diese Punkte gehen Polizei und Ermittlungsbehörden nicht ein. Es entsteht eine Blockadehaltung und wir kommen mit der Aufklärung nicht voran.
Wie muss man sich das vorstellen, wenn Du nach einem Anschlag zur Polizei gehst – was ist dann die Reaktion?
In meinem Fall war ja auch nochmal sehr interessant, dass der Polizei bekannt war, dass ich von Nazis beobachtet wurde, aber ich trotzdem nicht gewarnt wurde. Dann wurden unterschiedliche Argumente dafür angeführt, wie es dazu kommen konnte. Zum einen wurde mein Name falsch geschrieben, also menschliches Versagen. Der Computer konnte mich diesem Gespräch nicht zuordnen und deshalb gilt es auch als technisches Versagen. Drittens galt Quellenschutz vor Opferschutz.
Die Fülle dieser Argumente zeigt mir eigentlich, dass auch in meinem Fall versucht wird vom eigenen Versagen abzulenken. Und genau das ist auch, was die anderen Betroffenen hier in Berlin-Neukölln kritisieren. Genau so läuft das gerade in Hanau ab, da im Fokus nur der Täter steht, der sich selbst ermordet hat.
Wenn man sich auf Einzeltäter fokussiert, kann man so eine Serie an rechtem Terror schnell abhaken. Als Betroffene haben wir das Gefühl, man möchte am liebsten Gras über die Sache wachsen lassen, und um Gottes willen keine Vergleiche zu Nazi-Deutschland. Ich glaube so entsteht eine Verdrängungskultur gegen die ganzen rechten, rassistischen und antisemitischen Anschläge in Deutschland.
Mein früherer Nachbar aus Offenbach lässt seine Kinder nicht mehr nach Hanau, weil er Angst hat, dass dort wieder etwas passiert. Die traurige Erkenntnis ist doch aber: Es könnte überall wieder passieren.
Genau. Ich gehe in keine Shisha-Bar mehr, nicht nur wegen des Lockdowns. Ich habe einfach Angst. Eigentlich war das immer ein Ort, an dem wir uns sicher gefühlt haben. Wir von Rassismus betroffenen Menschen wurden halt sonst schwer in irgendwelche Bars oder Clubs reingelassen. Das war so der Ort, wo man zumindest seine Freizeit verbringen oder sich mit seinen Cousins treffen konnte. Das sind für mich jetzt Gefahrenorte. Es ist in meinem Kopf so drin, dass da jederzeit was passieren kann. Ähnliches höre ich von Menschen, die sich seit Christchurch nicht mehr trauen, in die Moschee zu gehen.
Ich meine, wir fühlen uns hier in diesem Land nicht sicher, weil das alles passiert. Und selbst wenn die Polizei jetzt Synagogen schützt, gibt das doch kein wirkliches Gefühl der Sicherheit. Davon abgesehen stehen Polizeikontrollen vor Shisha-Bars doch nicht zum Schutz der Leute, sondern um Kontrollen durchzuführen, was wiederum zu mehr Stigmatisierung führt.
Die CDU schafft es bis auf wenige Ausnahmen nicht, über den Mord an Walter Lübke zu sprechen. Was ist also von den politischen Eliten überhaupt zu erwarten?
Ich habe da die Hoffnung verloren. Wenn sich noch nicht einmal beim Mord an einem von ihnen selbst etwas bewegt, dann wird sich nie etwas bewegen, wenn es um rechten Terror geht. Und im Prinzip haben wir Betroffenen auch die Hoffnung verloren, dass sich innerhalb der Politik wirklich etwas ändert.
Auch hier in Neukölln stelle ich immer wieder fest, dass die Politik eigentlich nicht funktioniert, etwa wenn ein Bürgermeister, der selbst verantwortlich für zahlreiche Shisha-Bar-Razzien ist, dann auf einmal eine Kundgebung zum Gedenken an Hanau organisieren möchte. Wenn etwas passiert, ist man bestürzt, doch wenn etwas Zeit vorüber ist, passiert gar nichts. Die Betroffenen von Hanau warten bis heute auf Unterstützung, sowohl auf finanzielle als auch psychosoziale.
Mittlerweile ist es so weit gekommen, dass wir darüber sprechen, Opfer-Beratungsstellen zu schließen. Bis hinein in die SPD werden linke Strukturen, die sich für Aufklärung einsetzen, torpediert.
Gibt es aus Deiner Sicht auch ein Versagen der politischen Linken?
Nein, ich würde sagen die gesellschaftliche Linke schafft durch Druck und Proteste, dass überhaupt eine gewisse Aufklärung stattfindet. Aber klar stoßen wir da an unsere Grenzen. Wir merken ja auch: Wir können mit Zehntausenden auf die Straße gehen, doch Seehofer evakuiert Moria nicht.
Daraus müssen wir lernen und überlegen, wie wir mehr Menschen erreichen können, also auch Menschen abseits von unserer linken Bubble. Ich halte es für sehr wichtig, dass nach Hanau neue Gruppen entstanden sind, die insbesondere in der migrantischen Community versuchen, sich zu vernetzen, wie beispielsweise die Migrantifa oder das Aktionsbündnis Antirassismus. Es ist auch eine stärkere Vernetzung zwischen antirassistischen und antifaschistischen Bewegungen entstanden.
Bis Hanau hatte ich immer das Gefühl, diese beiden Bewegungen laufen parallel zueinander. Jetzt gibt es ein Verständnis dafür, dass wir eine antirassistische Bewegung brauchen, die den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft bekämpft, um den Zustrom nach Rechtsaußen abzuschneiden und dadurch nachhaltige antifaschistische Arbeit zu ermöglichen.
Was ich auch sehr interessant finde, ist, dass insbesondere sehr viele junge Menschen nach dem Anschlag in Hanau politisiert wurden und auf die Straße gehen wollten, was nochmal verstärkt wurde nach dem Mord an George Floyd. Da hat sich noch einmal herauskristallisiert, dass wir stärker dieses gesamtgesellschaftliche Problem von Rassismus und rechtem Terror im Staatsapparat nach außen kommunizieren müssen.
Was sind die Forderungen der Initiative 19. Februar?
Die Initiative hat vier Punkte, die sie immer wieder betont: Erinnerung an die Ermordeten, Gerechtigkeit für die Hinterbliebenen, vollständige und rückhaltlose Aufklärung des Verbrechens und zuletzt auch Konsequenzen für das Fehlverhalten von Strafbehörden durch die Einrichtung von unabhängigen Beschwerdestellen. Der letzte Punkt ist eigentlich sehr konkret. Wir brauchen wirklich unabhängige Beschwerdestellen, die nicht direkt beim Innenminister angesiedelt sind, sondern vielleicht eher in der Justiz.
Da reicht auch nicht nur eine Beschwerdestelle, sondern es müsste eine riesen Institution sein, die uns Einblicke in die Strukturen der Sicherheitsbehörden verschafft. Es müsste also wirklich eine neue Instanz geschaffen werden, die die Kontrollfunktion übernimmt, die die Politik gerade nicht umsetzt.
Was bräuchte es aus Deiner Sicht darüber hinaus, damit man sich wieder sicher fühlen kann?
Eigentlich brauchen wir Untersuchungsausschüsse zu rechten Strukturen innerhalb des Sicherheitsapparates in jedem Bundesland, damit wir erst einmal den Nährboden bekämpfen, der rechten Terror ermöglicht.
Aus einer Mobilisierungsperspektive würde ich mir wünschen, dass wir bundesweit Proteste vor Polizeiwachen oder vorm Verfassungsschutz auf die Beine stellen. Und dass wir an einem Tag in allen Städten Leute auf die Straße bringen und sagen: »Wir fordern Aufklärung«.
Das schützt uns erst einmal auch nicht. Aber wichtig ist, dass daraus dann eine Öffentlichkeit entsteht, die uns einen gewissen Schutz gibt. Ich bekomme ja immer weiter Drohungen und ich merke immer wieder, dass ich versuche das selbst zu verarbeiten. Wenn das nicht gelingt, suche ich die Öffentlichkeit und die Solidarität meiner Mitmenschen. Das gibt mir dann die Kraft, weiterzumachen.
Beim Thema Erinnerung ist für mich wichtig, dass wir in jeder Stadt, in der es rechte und rassistische Morde gab, mit Gedenktafeln daran erinnern. Solche Orte müssen geschaffen werden, damit Menschen, die betroffen sind, auch immer wieder zusammenkommen können. In Süd-Neukölln ist das etwa der Gedenkort für die Ermordung von Burak Bektaş.
Auch in Hanau wurde nun dieser Ort der Zusammenkunft geschaffen. Dort haben die Betroffenen die Möglichkeit, sich auszutauschen. Ich finde, das ist das Wichtigste, was wir gesamtgesellschaftlich machen können: die Menschen immer wieder auffangen, wenn sie um Hilfe bitten, aber auch sehen, dass viele gar nicht um Hilfe bitten können und wir aber eigentlich da sein müssten, um diesen Menschen zu helfen.