Rasande Tyskar
Im Jahr 1872/73 schrieb Friedrich Engels einen Aufsatz über die Wohnungsnot in den Industriestädten des 19. Jahrhunderts, ihre Ursachen und die jämmerlichen Versuche der Sozial-Bourgeoisie einer sogenannten Lösung der Wohnungsfrage. Fast 150 Jahre später, im Jahr 2021, gründet sich in Berlin-Friedrichshain eine kleine Anwohner*inneninitiative, die den Luxus-Bauprojekten von Großinvestor*innen im Kiez den Kampf ansagt.
Der folgende Artikel begibt sich über Engels‘ Aufsatz zu den Ursprüngen der Wohnungsfrage, die heute erneut zu einem der drängendsten sozialen Anliegen und dem bestimmenden Wahlkampfthema der Bundestagswahl 2021 geworden ist und zeigt ihre historische Kontinuität auf. Die Aufbereitung von Engels‘ Text und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen für gegenwärtige Mietenkämpfe rahmen dabei ein Interview mit der Mieter*inneninitiative „Wem gehört der Laskerkiez?“, die die Wohnungsfrage ganz aktuell und praktisch stellt.
Die Wohnungsfrage im 19. Jahrhundert
„Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt eine Wohnung zu finden.“[1] Dieses Phänomen kommt uns heute mehr als bekannt vor. Die Wohnungsnot ist in aller Munde und selbst marktradikale und konservative Politiker*innen können die Augen nicht mehr davor verschließen, dass erschwinglicher Wohnraum zunehmend Mangelware wird. Sie füllen daher ihre Wahlkampfprogramme für die kommende Bundestagswahl mit mehr oder (vor allem) weniger sinnvollen Vorschlägen, wie das Problem anzugehen sei. Diese drehen sich vornehmlich um Investitionsanreize für privaten Wohnungsbau und die Förderung von Wohneigentum und befeuern damit die Mechanismen weiter, die überhaupt erst zur massiven Verschärfung der Wohnungsfrage geführt haben, wie im Folgenden deutlich wird. Die Beschäftigung mit Friedrich Engels‘ Text ist dabei lohnenswert, weil er so frappierende Parallelen zur Gegenwart aufzeigt und seine Analyse kaum an Aktualität eingebüßt hat.
Engels verortet die Wohnungsfrage innerhalb der sozialen Frage, die durch die sich zuspitzenden sozialen Widersprüche im Kapitalismus aufgeworfen wird. Und auch gegenwärtig strahlt in der Debatte um die zunehmende soziale Ungleichheit innerhalb westlicher Gesellschaften ein Spotlight auf die Frage nach erschwinglichem Wohnraum und macht damals wie heute „nur soviel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat.“ Trifft nun der Umstand, dass Kapitalist*innen kein Interesse an sozial verträglichem Wohnungsbau haben, da sich mit Luxusbauten oder Geschäftsgebäuden mehr Profit machen lässt, auf einen weitestgehend unregulierten Wohnungsmarkt, so ist das Ergebnis stets das Gleiche: Rasch steigende Mietpreise, die zur Verdrängung der ansässigen Bevölkerung an den Stadtrand und/oder zur Zusammendrängung der Wenigverdiener*innen in zu kleine Wohnungen führt. Im 19. Jahrhundert zog das zahlreiche üble Konsequenzen nach sich, wie zum Beispiel die rasante Ausbreitung von Seuchen innerhalb dieser Viertel. Ein Übergreifen auf gut situierte Stadtteile blieb oft nicht aus und erst dann entdeckte auch die Bourgeoisie ihre Menschenliebe und setzte an, den schlimmsten Missständen Abhilfe zu verschaffen. Ihre Entsprechung finden diese Vorgänge in der Gegenwart in den völlig überbelegten Wohncontainern für Gastarbeiter*innen, die in den bürgerlichen Nachrichten und der Politik erst problematisiert wurden, als sie durch Massenansteckungen mit dem Corona-Virus zur Gefahr für alle wurden.
Im Zusammenhang mit den miserablen Wohnverhältnissen der Arbeiterklasse waren schon Engels die bürgerlichen Bestrebungen, die Innenstädte schöner und wohnlicher zu machen, für die sich die Bourgeois selbst feierten, bekannt, welche allerdings lediglich zu einer Verlagerung sozialer Brennpunkte an einen anderen Ort führten. Engels nannte es „Praxis des Breschelegens“, wir kennen das heute als Gentrifizierung.
Nichtsdestotrotz, so konstatiert Engels, werden die Missstände, die mit der Wohnungsfrage einhergehen, im Kapitalismus mit ökonomischer Notwendigkeit immer wieder neu erzeugt. Mietwucher und die Spekulation mit Wohnraum entspringt nicht bzw. nicht notwendigerweise der mangelnden Moralität der Grundeigentümer*innen, wie Formulierungen wie „Miethaie“ leicht suggerieren. Vielmehr sind sie Resultat der Konkurrenzsituation auf dem kapitalistischen Wohnungsmarkt, die Eigentümer*innen dazu drängt, aus ihren Wohnungen möglichst hohen Profit zu schlagen, um auf dem Markt gut mithalten zu können. Insofern gilt: Wo Wohnen Ware ist, herrscht Wohnungsnot.
Wohneigentum kann nicht die Antwort sein
Engels zieht das Fazit, dass sich die Wohnungsfrage innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht lösen lässt – vor allem nicht durch die von Politiker*innen verschiedener Spektren gern vorgebrachte Idee, man müsse Arbeiter*innen nur in die Lage versetzen, Wohneigentum erwerben zu können. Diese Schlussfolgerung ist auf Basis einer materialistischen Gesellschaftsanschauung, also der Betrachtung und Analyse von Gesellschaften anhand der in ihnen herrschenden Produktions- und Klassenverhältnisse, absolut treffsicher: Im Kapitalismus richtet sich die Höhe des Arbeitslohns im Durchschnitt nach den Kosten für die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft. Entfallen durch Wohneigentum die Kosten für Unterkunft der Arbeiter*innen, werden mittel- bis langfristig die Löhne sinken, weil dadurch die Reproduktionskosten der Arbeitskraft geschmälert werden. Eine Verbesserung in den Lebens- und Vermögensverhältnissen ist bei einer flächendeckenden Etablierung von Wohneigentum daher nicht zu erwarten. Und weiter: Wohneigentum kettet die Arbeiter*innen an die heimische Scholle und zementiert damit ihre Abhängigkeit von Arbeitgeber*innen bzw. Kapitalist*innen. Das ist durchaus Teil des bourgeoisen Kalküls. Je größer die Abhängigkeit der Arbeitenden von den Kapitalist*innen, desto mehr Gehorsam ist von ihnen zu erwarten. Letztlich zielt diese Strategie also darauf ab, Klassenkämpfe zu unterminieren. Die Förderung von Wohneigentum findet sich übrigens in unterschiedlicher Ausformung in den Wahlprogrammen aller großen Parteien, außer bei die Linke.
Die Relevanz von Engels‘ Aufsatz trotz seines beachtlichen Alters von 150 Jahren ist also augenscheinlich. Die Hervorbringung der Wohnungsnot vollzieht sich – wenn auch neoliberal modifiziert – immer noch nach den gleichen kapitalistischen Mechanismen. Ebenso aktuell ist somit der Widerstand gegen die Profitmacherei mit Wohnraum und Bauflächen und gegen soziale Verdrängung. In Berlin-Friedrichshain gründete sich in diesem Jahr eine Anwohner*innen-Initiative, die ihren Kiezkampf im folgenden Interview vorstellt.
„…und zwei Wochen später lag das Wahlprogramm der FDP im Briefkasten.“
Interview mit Amanda und Timo von „Wem gehört der Lasker Kiez“
re:volt: Eure Mieten-Ini „Wem gehört der Lasker Kiez“ hat sich Anfang diesen Jahres gegründet. Was war der Anlass und warum braucht es eine weitere Anwohner:innen-Initiative in Berlin?
Timo: Unsere Initiative ist im Lasker-Kiez im Süden Friedrichshains aktiv. Ich lebe jetzt seit fünf Jahren hier und bisher war es immer so, dass dieser Südzipfel von Friedrichshain noch nicht so krass von der Gentrifizierung betroffen war wie zum Beispiel die Gegend weiter nördlich um den Boxhagener Platz herum. Ende letzten Jahres fing es an, dass hier einige der alten Autohäuser abgerissen wurden und irgendwelche steinreichen Unternehmen ankündigten, hier Luxusbüros aus dem Boden zu stampfen. Es ging los mit der Pandion AG, dem viertgrößten sogenannten Immobilienentwickler in Deutschland, der hier den „Ostkreuz Campus“ errichten will. Wir mussten feststellen, dass im Kiez mehrere solcher Luxusbürogebäude in Planung waren, zum Beispiel auch neben der alternativen Bar „Zukunft am Ostkreuz“. Als wir gemerkt haben, dass das Viertel hier von irgendwelchem Luxusbüroscheiß umringt werden soll, kam der Stein ins Rollen. Gleichzeitig gibt es hier eine ziemlich coole Nachbarschaft – wir haben das Hausprojekt Bödi um die Ecke, dann eine Bar, in der Veranstaltungen zu linken und sozialen Themen stattfinden, den selbstverwalteten Bürger:innengarten Laskerwiese, einen Jugendclub, diverse coole Spätis – und das soll auch so bleiben! Es fehlte eigentlich nur an der Organisierung. Wir waren halt nicht connected und konnten so die Informationen nicht streuen. Unser Ziel war also, die Leute aus der Nachbarschaft an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam gegen diese Bauprojekte vorzugehen. Denn gefragt haben diese Unternehmen natürlich nicht und auch von der Politik hat man erstmal nichts dazu gehört.
re:volt: Von welchen Bauvorhaben sprecht ihr da konkret?
Timo: Da ist einmal der „Ostkreuz Campus“ von Pandion, den ich bereits erwähnte. Das ist ein Terrain, etwa so groß wie zwei Fußballfelder, auf dem ein Bürokomplex entstehen soll. Die besondere Widerlichkeit bei Pandion ist, dass sie dreist behaupten, dass ihr Bau gut für das Viertel wäre. Aber wenn wir ein paar Kilometer weiter in den Nachbarbezirk Kreuzberg blicken, wo Pandion schon Gebäude mit so wohlklingenden Namen wie „The Grid“ und „The Shelf“ gebaut hat, können wir feststellen, dass schon während des Baus dieser High-End-Immobilien die Mieten in den umliegenden Wohnungen massiv angezogen wurden.
Außerdem will das Unternehmen Trockland zwei Büroklötze links und rechts neben der Bar „Zukunft am Ostkreuz“ errichten. Und Adam Europe Real Estate will am Markgrafendamm 400 Mikroapartments und ein als „Boarding House“ bezeichnetes hotelähnliches Apartmentgebäude bauen. „RFR Development GmbH“ baut am Urban-Spree-Komplex weiter, da war noch eine Fläche frei. Daneben stehen auch schon Gebäude mit Eigentumswohnungen, die jede so etwa eine Million Euro kosten. Es gibt noch ein paar weitere Projekte, aber das sind die größten Player.
re:volt: Was ist im Speziellen eure Kritik an den Bauprojekten und welche Folgen befürchtet ihr durch ihre Realisierung für den Kiez?
Amanda: Zum einen kritisieren wir, dass die Anwohner:innen, insbesondere von der Politik, nicht einbezogen werden. Gerade die Menschen, die hier wohnen, sollten einfach ein Recht zur Mitsprache und Mitbestimmung haben, ihre Wünsche äußern können. In einer Demokratie sollte das doch selbstverständlich sein. Die Lebensumstände der hier ansässigen Menschen werden durch Pandions angeblich geplante offene Cafeteria nicht verbessert. Niemand hier braucht überteuerten Latte Macchiato. Auf Nachfrage musste Pandion auch zugeben, dass der beworbene begrünte Innenhof verschließbar sein wird, um das Hausrecht ausüben zu können – sprich: unliebsame Personen jederzeit vertreiben zu können. Zum anderen ist klar geworden, dass die Investor:innen auch die örtliche Infrastruktur verdrängen. Es haben bereits zwei Supermärkte dichtgemacht. Hinzu kommt natürlich die Verdrängung lokaler Initiativen wie des Gartens Laskerwiese und des „Zukunft am Ostkreuz“. Die Räumlichkeiten letzterer wurden kürzlich gekündigt und da reibt sich der Investor Trockland schon die Hände und will sich dieses Grundstück zwischen seinen zwei geplanten Bürotürmen wahrscheinlich auch noch sichern. Dagegen müssen wir uns wehren und ganz klar signalisieren, dass wir das nicht wollen.
re:volt: Der Bezirk ist ja eigentlich seit Jahren grün regiert und die Grünen schmücken sich auch gern mit einer sozialen Politik, aber wie haben denn nun die politisch Verantwortlichen auf die Bauprojekte und auf eure Initiative reagiert?
Amanda: Unterschiedlich. Es ist ja Wahljahr und da ließen sich auch ein paar Politiker:innen bei unseren Kundgebungen blicken und haben große Reden geschwungen. Dabei blieb es aber auch. Die Grünen haben sich zwar geäußert, aber verweisen eigentlich immer nur auf’s Bundesrecht. Sie meinen also, der Bezirk sei nicht zuständig und dass die Frage der Bebauung auf Bundesebene gelöst werden müsse. Sie entziehen sich damit ihrer Verantwortung.
Timo: Das Absurde ist, dass im Grunde keine Partei mehr etwas an den Unternehmensplänen ändern kann. Das hätte viel früher geschehen müssen. Aber die Unternehmen haben diese Flächen vor Jahren erworben und haben das Baurecht. Lediglich eine Einzelperson bei den Grünen hat sich für einen qualifizierten Bebauungsplan eingesetzt, durch den eine teilweise kulturelle Nutzung der Flächen sichergestellt werden soll. Aber letztlich werden diese Luxusbauprojekte halt kommen und keine Partei steht dafür ein, sie zu verhindern. Das ist natürlich bitter. Für die Nachbarschaft ist es ein Schlag ins Gesicht – ebenso wie Pandions Behauptung, diesem selbsternannten „Partner für Lebensräume“, etwas Gutes für den Kiez zu tun.
re:volt: Was hält denn eure Initiative von diesem qualifizierten Bebauungsplan?
Timo: Der Bebauungsplan ist vermutlich nicht schlecht, kommt aber eigentlich zu spät. Unsere Ini steht für einen absoluten Baustopp. Es geht um scheiß Unternehmen, die hier niemand haben will. Das ist bei vielen Gesprächen unsererseits mit Nachbar:innen und bei Haustürgesprächen sehr deutlich geworden. Und es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass die Menschen, die hier leben, nicht mitentscheiden dürfen, auf die wir öffentlich aufmerksam machen wollen. Nicht eine Person, mit der wir gesprochen haben, hat sich für diese Luxus-Offices ausgesprochen und deshalb stehen wir konsequent dafür, diese und ähnliche Bauvorhaben zu verhindern. Aber von der Politik wird diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen. Letztendlich gibt es für die Verantwortlichen ja auch rechtlich diese Möglichkeit nicht mehr. Unsere Taktik ist deshalb, am Image dieser Unternehmen wie Pandion anzusetzen und sie zu demaskieren – also zu zeigen: das sind hier nicht die netten Freunde der Nachbarschaft, sondern es sind die, die dafür sorgen, dass wir in ein paar Jahren wegziehen müssen.
re:volt: Wie ließen sich denn diese Flächen besser nutzen und was wünscht ihr euch für die kommende Zeit?
Amanda: Was Ballungsräume wie Berlin wirklich brauchen, sind Grünflächen. Hier im Kiez gibt es nur einen begrünten Platz, den Rudolfplatz, und das reicht nicht. Es gibt zwar noch den Bürger:innengarten Laskerwiese, der aber für Lidl-Parkplätze vor einiger Zeit verkleinert wurde. Dabei sind es Grün- und Erholungsflächen, die die Lebensqualität der Menschen, die hier leben, erhalten und steigern.
Was ich mir deshalb wünsche ist, dass der Druck auf die Politik auch nach der Wahl groß bleibt. Sie sollen Politik für die Menschen machen und nicht für sich selbst oder die Immobilienlobby. So sieht es im Moment aber leider nicht aus. Hier im Viertel soll es demnächst eine massive Nachverdichtung geben, bei der zwischen den Häusern noch weitere Wohnhäuser gebaut werden. Da sind zwar auch Sozialwohnungen dabei, aber bei Weitem nicht so viele, wie es bräuchte.
Für unsere Ini wünsche ich mir, dass wir uns weiter vernetzen – wir sind hier im Kiez auch schon dabei.
Timo: Die Sozialwohnungen, die Amanda angesprochen hat, sind vielen Anwohner:innen hier ein wichtiges Anliegen. Es ist kein Geheimnis, dass Berlin einen erheblichen Mangel an bezahlbarem Wohnraum hat. Die Schaffung von kommunalem, bezahlbarem Wohnraum ist also eine wichtige politische Forderung für uns. Natürlich wünschen wir uns auch einen Mietendeckel auf Bundesebene. Unsere WG hat durch den Berliner Mietendeckel 200 € im Monat gespart. Dann wurde er gekippt, es gab diese krasse Nachzahlung und zwei Wochen später lag das Wahlprogramm der FDP im Briefkasten. So ging es hier Vielen. Wir unterstützen auch die Enteignungsbestrebungen von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“.
Auf gesellschaftlicher Ebene wünschen wir uns, den Menschen nahebringen zu können, dass Gentrifizierung ein komplexes Problem ist. Das heißt, dass es bei den Bauprojekten im Kiez zwar aktuell nicht um die Wohnungen der Menschen geht, dass diese Gentrifizierungsprozesse sie aber trotzdem betreffen. Pandion, Trockland und Adam Europe bauen zwar gerade auf diesen Freiflächen, aber in der Folge wird das Viertel aufgewertet und der Mietspiegel steigt. Und in ein paar Jahren werden dann vielleicht nicht genau diese, aber x-beliebige andere Investor:innen die Wohnhäuser der Menschen kaufen und sie durch Wuchermieten verdrängen. Unser Ziel ist es, das aufzuzeigen, die Menschen auf der Straße, in den Spätis usw. anzusprechen. Wir wünschen uns, als Ini größer zu werden und letztendlich diese scheiß Unternehmen aus dem Kiez zu vertreiben.
Die Wohnungsfrage heute
Der historische Vergleich zwischen Engels‘ Beobachtungen und der heutigen Wohnungsfrage zeigt zweierlei. Zum einen wird schnell klar, dass das konkrete Erscheinungsbild der Wohnungsnot sich gewandelt hat. Während Arbeiter*innen im 19. Jahrhundert, so wie es Engels auch ausführlich in seinem Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ am Beispiel Manchester beschreibt, noch in völlig überfüllten, verschmutzten und krank machenden Behausungen leben mussten, haben sich die Wohnbedingungen zumindest der Menschen, die eine Wohnung haben, demgegenüber verbessert. Als wenig ruhmreiches Gegenbeispiel sei an dieser Stelle allerdings noch einmal auf die Container-Wohnungen für Gastarbeiter*innen verwiesen, die nicht nur als Wiederkehr des industriekapitalistischen Cottage-Systems[2] gelten können, sondern insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie eine reale Gesundheitsgefährdung der Arbeiter*innen durch beengte Wohnverhältnisse darstellen.
Was im Vergleich aber auch deutlich wird ist, dass die Mechanismen, die zu explodierenden Mieten, Wohnungsnot und erheblichem existenziellen Druck insbesondere auf die unteren Klassen führt, nach wie vor dieselben sind, wie zu Engels‘ Lebzeiten. Das liegt daran, dass ihnen die gleichen grundlegenden sozialen Verhältnisse zugrunde liegen, nämlich die der kapitalistischen Klassengesellschaft.
Schulterschluss in der sozialen Frage
Damals wie heute wird der Wohnungsmarkt größtenteils der Spekulation und Profitmacherei Weniger überlassen, was zu einem immer knapper werdenden Angebot preiswerter Wohnungen insbesondere in den Großstädten führt. Betroffen sind davon natürlich vor allem Prekarisierte, wie Geringverdiener*innen, Erwerbslose, Rentner*innen und (oft in mehrfacher Hinsicht strukturell benachteiligte) Migrant*innen, in immer weiter zunehmendem Maße aber auch bürgerliche Gesellschaftsschichten mit durchschnittlichem Verdienst. Genau darin liegt das transformatorische Potenzial der Mieter*innenbewegung. Wenn selbst ein „normales“ Gehalt nicht mehr ausreicht, um eine erschwingliche Wohnung zu finden, steigt das Problembewusstsein für die kapitalistische Wohnungsspekulation in der Gesellschaft und folglich auch der Druck, Veränderungen herbeizuführen. Erst im April diesen Jahres zeigte eine spontane Großdemonstration in Berlin anlässlich des gekippten Mietendeckels mit zehntausenden Teilnehmer*innen die enorme Mobilisierungskraft, die die Problematik inzwischen hat.
Damit sind große und breit aufgestellte Mietendemos und die vielen Mieter*inneninitiativen zwar noch nicht der Beginn einer Revolution, aber doch ein deutliches Zeichen für einen gesellschaftlichen Schulterschluss in der sozialen Frage, in deren Zentrum die Wohnungsfrage erneut gerückt ist. Die politischen Folgen sind noch nicht ausgemacht. Denkbar ist zum einen die Anwendung einer sozialen Befriedungsstrategie durch die Herrschenden, bei der Konzessionen in beide Richtungen – der Mieter*innen und der Wohnungseigentümer*innen – gemacht werden und bei der die unteren Klassen wiederum leer ausgehen, während das Kleinbürgertum beruhigt ist. Ebenso können die seit Jahren laufenden Solidarisierungsprozesse in der Mieter*innenbewegung zusammen mit dem zunehmenden gesellschaftlichen Druck jedoch auch den Weg zu einer bedarfsgerechten, sozial verträglichen Wohnungspolitik von unten ebnen, die die Ärmsten mit einschließt.
Der Vorschlag, den individuellen Erwerb von Wohnungseigentum zu forcieren, anstatt sich der Mietenproblematik anzunehmen, ist jedenfalls ähnlich unsinnig wie zu Engels‘ Lebzeiten: nicht nur ist diese Forderung für die meisten Menschen, also die mit kleinen bis mittleren Einkommen, wegen der ebenfalls enormen Kaufpreise für Immobilien reiner Hohn, wobei die Preise bei größerer Käufer*innennachfrage sogar in noch schwindelerregendere Höhen steigen dürften. Auch wirkt diese Form der „Problemlösung“ anachronistisch angesichts sich flexibilisierender Lebensmodelle, innerhalb derer sich immer weniger Menschen dauerhaft an einen Ort binden (wollen).
Mietenproteste als Absage an die herrschenden Verhältnisse
Deutlich klar wird durch die historische Kontinuität und die Überschneidungen zwischen den Zuständen in den frühen 1870er Jahren und heute aber, dass eine sozial gerechte Lösung der Wohnungsfrage, bei der das Recht auf Wohnen nicht der Spekulation preisgegeben wird, innerhalb kapitalistischer Gesellschaften nicht zu erwarten ist. Sei es nun die gezielte Aufwertung von Vierteln durch Luxusbebauung, wie es der Friedrichshainer Süden gerade erlebt, oder die direktere Form der Verdrängung, nämlich der Ankauf von Wohnimmobilien durch finanzstarke Investor*innen und die folgende Entmietung, (Luxus-)Sanierung und teure Neuvermietung – die Mechanismen, die zur Wohnungsnot führen, vollziehen sich innerhalb dieses spezifischen Gesellschaftsverhältnisses stetig neu. Einhergehen kann das mit einer verschärften ökonomischen Ausbeutung von Lohnabhängigen in den betroffenen Gebieten, z.B. indem wegen steigender Ladenmieten die Arbeit intensiviert wird, um das Geschäft profitabel zu halten. Im Lasker-Kiez wurden mit Beginn der Luxus-Bauprojekte zwei Lebensmittelläden geschlossen und abgerissen. In der Folge muss ein kleiner Supermarkt tausende Haushalte versorgen, was zur völligen Überlastung der dort Beschäftigten führt.
Die Proteste durch Mieter*innen-Inis wie der aus dem Lasker-Kiez sind daher letztlich immer auch eine Absage an die herrschenden Verhältnisse. Ihr Potenzial und ihre Relevanz für die Menschen unserer Gesellschaft treten durch die historische Einordnung deutlich hervor: Es geht um’s Ganze.
Oder mit Engels‘ Worten: „Solange die kapitalistische Produktionsweise besteht, solange ist es Torheit, die Wohnungsfrage oder irgendeine andre das Geschick der Arbeiter betreffende gesellschaftliche Frage einzeln lösen zu wollen.“ Um schnelle Abhilfe zu schaffen und weil man irgendwo ja anfangen muss, liefert uns Engels auch einen Vorschlag für den ersten Schritt: Die Enteignung von Wohnraum und anschließende Nutzung entsprechend der Bedürfnisse der Menschen, die ihn brauchen.
[1] Alle Zitate sind Engels‘ Text „Zur Wohnungsfrage“ von 1872/73 entnommen.
[2] Im Cottage-System mussten Arbeiter*innen in den dafür bereitgestellten Wohnungen ihrer Fabrikherren wohnen. Dieses Vorgehen erzeugte Gehorsam: streikten die Arbeiter*innen mussten sie nicht nur um ihren Arbeitsplatz, sondern auch um ihr Dach über dem Kopf fürchten.
Quelle: https://revoltmag.org/articles/wohnungsfrage-reloaded-150-jahre-wohnen-als-ware/