Europas Einfluss schwindet, mit einer EU-Armee will es zur militärischen Großmacht aufsteigen. Das ist nicht nur aussichtslos, sondern auch gefährlich.
Die Idee, dass Europa eine ausschließlich ›zivile Macht‹ ist, wird der sich abzeichnenden Realität nicht gerecht«, schrieb die damalige Außenbeauftragte der EU, Mogherini, bereits 2016 in der Tageszeitung Die Welt. Diese Aussage war damals stark durch die Erosion der transatlantischen Beziehungen unter Trump beeinflusst. Seither spielt der Anspruch der EU, eine Militärmacht zu werden, eine immer größere Rolle. Dementsprechend heißt es in den außenpolitischen Richtlinien der Kommission: »Das volle Spektrum der Verteidigungsfähigkeiten ist notwendig, um auf externe Krisen zu reagieren.« Und Ursula von der Leyen verkündete bei Amtsantritt als EU-Kommissionschefin: »Wir wollen eine starke geopolitische Union sein«, und dafür müsse man »auch die Sprache der Macht lernen«. Heute vernimmt man kaum ein Statement von ihr, in dem nicht die Sehnsucht nach Weltmacht zum Ausdruck kommt. Sie ist zum Gravitationsfeld der Brüsseler Politik geworden.
Gleichzeitig versucht Brüssel, eine Art Europatriotismus heranzuzüchten, der auf angeblich europäischen Werten fußt und der ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der übrigen Welt erzeugen soll. So hält Martin Schulz, 2017 Kanzlerkandidat der SPD, die EU für das »größte(n) Zivilisationsprojekt der Menschheitsgeschichte«und der zeitweilige Außenminister Sigmar Gabriel spricht vom »erfolgreichsten Projekt für Freiheit, Frieden und Wohlstand, das die Welt je gesehen hat.«
Der Grund dafür liegt im Aufstieg Chinas, der Verlagerung des Zentrums der Weltwirtschaft nach Asien und der Renaissance Russlands als Großmacht – perspektivisch auch Indiens und anderer Schwellenländer. Diese internationalen Umbrüche markieren das Ende einer Epoche: 500 Jahre Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus, in denen Europa und die USA dem »Rest der Welt« ihre Interessen aufzwingen konnten, sind passé.
Hinzu kommt, dass für die USA auch unter Biden gilt: »America first«. Das zeigten nicht zuletzt auch der Abzug aus Kabul oder das U-Boot-Abkommen mit England und Australien.
Die EU verfügt im Gegensatz dazu nicht nur über keine militärischen Machtressourcen, auch ihr ökonomisches Potenzial befindet sich auf dem absteigenden Ast. So betrug 1981 der BIP-Anteil der Volkswirtschaften, die heute die Eurozone bilden, noch 21 Prozent des globalen BIP, heute ist er auf 12 Prozent abgesunken. Einer Prognose der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers zufolge wird der Anteil bis 2050 auf 9 Prozent zurückgehen. Auch bei Schlüsseltechnologien wie Quantencomputern, Halbleitern oder Cloud-Computing hinkt die EU gegenüber den USA und China hinterher.
Angesichts dessen fragt Die Zeit: »Wie ist es möglich, dass die EU nicht in der Großmachtliga spielt?« Offenbar ist das alles auch eine narzisstische Kränkung des kollektiven Selbstbewusstseins, das sich nicht daran gewöhnen möchte, nicht mehr der Bauchnabel der Welt zu sein.
Strategische Autonomie – und ihre Grenzen
Gestoppt werden soll der Abstieg durch »strategische Autonomie«. Populär gemacht hat den Begriff der französische Präsident Macron. Was genau damit gemeint ist, bleibt unscharf – ein Container-Begriff, in den jeder das hineindeutet, was er möchte. Im Zentrum steht aber das Bedürfnis, sich auch militärisch als eigenständiger Akteur zu etablieren und die Abhängigkeit von den USA zu reduzieren – es geht also um eine graduelle Verschiebung und eine relative Autonomie, keineswegs aber um Abkopplung.
Allerdings zeigt sich hier auch gleich eine der beiden großen Barrieren, die der Realisierung der Brüsseler Wunschvorstellungen im Weg stehen. Die NATO, in der Washington – also ein geopolitischer Konkurrent – das Sagen hat, setzt einer wirklichen Autonomie enge Grenzen. So heißt es bereits im Lissabon-Vertrag, dass die Sicherheits- und Verteidigungspolitik »im Einklang« mit der NATO stehen muss.
Die zweite große Hürde stellen die heterogenen Interessenlagen der Mitgliedsländer dar. Einige EU-Länder wie Finnland, Schweden, Österreich, Irland und Zypern sind nicht Teil der NATO, während umgekehrt Großbritannien, Norwegen und Island zwar in der NATO, aber nicht in der EU sind. Konkret zeigt sich das etwa darin, dass Finnland Tarnkappenjets des Typs F-35A für 10 Milliarden Dollar beim US-Konzern Lockheed Martin bestellt, anstatt europäische Kampfjets wie etwa den Eurofighter von Airbus oder die französische Rafale von Dassault Aviation. Auch Polen hat kürzlich 32 Kampfflugzeuge aus den USA gekauft. Ein Ende der komplexen Gemengelage aus Konkurrenz um Rüstungsprofite, nationalen Sicherheitsinteressen und supranationalen Integrationsversuchen ist nicht in Sicht.
Erhebliche Differenzen bestehen auch in der Wahrnehmung von Freund, Feind und Verbündeten. Vor allem in Polen und den baltischen Ländern dominiert eine Mischung aus extremem Nationalismus und hysterischer Russophobie. Gerechtfertigt wird das in der Regel mit historischen Erfahrungen. Allerdings zeigt ein Blick auf die jahrhundertelange Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland, dass solche extrem ideologischen Feindbilder überwunden werden können, wenn der politische Wille vorhanden ist.
Ausdruck finden die Differenzen auch in einer besonderen Nähe der östlichen Mitglieder zu NATO und den USA. Spektakulärstes Beispiel für die Differenzen war Washingtons Krieg gegen den Irak, bei dem alle östlichen Mitgliedsländer in Bushs »Koalition der Willigen« eintraten, während Frankreich und Deutschland sich nicht beteiligten.
Auch in der gegenwärtigen Krise um die Ukraine spielen diese Interessengegensätze eine entscheidende Rolle. Während Polen und die baltischen Staaten die aggressive Stimmung gegen Moskau anheizen – mit rhetorischer Unterstützung der deutschen Außenministerin Baerbock – ist die gute Nachricht, dass sich Macron und Scholz um Deeskalation bemühen. Das Kommuniqué der Bundesregierung über das Telefonat zwischen Scholz und Putin ist demonstrativ sachlich und plädiert für die Umsetzung des Minsker Abkommens, das Kiew unbedingt los werden möchte, sowie für die Wiederaufnahme der Gespräche im Normandie-Format, also zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine. Offenbar gibt es eine informelle Festlegung in der Bundesregierung, dass sich Scholz, genau wie Merkel, die Kompetenz für die wichtigen Außenbeziehungen vorbehält.
All diese Widersprüche gründen letztlich auf einer Tatsache, die gern übersehen wird: Die EU ist kein Staat wie die USA, China oder Russland, sondern ein Hybrid aus einer Allianz von Nationalstaaten und Elementen supranationaler Staatlichkeit. Diese komplizierte Schönwetterkonstruktion verfügt nicht über die Handlungsfähigkeit eines Staates. Die sogenannte Mehrebenen-Governance ist dem Ausmaß und der Komplexität der Krisen des 21. Jahrhunderts nicht gewachsen. Deshalb reicht es auch nicht, die militärischen Fähigkeiten der einzelnen Mitgliedsstaaten einfach aufzuaddieren. Die Rüstungsausgaben der EU belaufen sich laut den Berechnungen des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) auf 231 Milliarden – beinahe viermal so hoch wie die Ausgaben Russlands mit 62 Milliarden Dollar. Nur die USA (778 Milliarden Dollar) und China (252 Milliarden Dollar) wenden mehr für Rüstung auf. Aber solange sich diese Ausgaben auf 27 Nationalstaaten verteilen, für die das Militär nach wie vor ein Attribut ihrer Souveränität darstellt, ergibt sich daraus kein gemeinsames militärisches Potenzial.
Militarisierung durch PESCO
Das zentrale Instrument für die Aufrüstung ist die sogenannte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO). Ausgesprochen interessant ist, dass PESCO von vorneherein darauf ausgerichtet ist, dass der Aufbau militärischer Kapazitäten von den Mitgliedstaaten durchgeführt wird, »die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen«. Sie können beliebige Untergruppen bilden, quasi ihre eigenen Koalitionen der Willigen, ohne dass die anderen mitmachen müssten. Das hat zweierlei Konsequenzen.
Zum einen zeichnet sich hier eine Flexibilisierung der Integration hin zu einem »Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten« ab. Es entstehen zusätzlich zur bereits existierenden Fragmentierung verschiedene Kategorien von Mitgliedsländern, die sich in Zentrum und Peripherie, Nord und Süd, Ost und West, Eurozone und Nicht-Eurozone zersplittern. Anders als im Verfahren der sogenannten Verstärkten Zusammenarbeit, in demetwa das gescheiterte Projekt einer Finanztransaktionssteuer verhandelt wurde und das ein Mindestquorum von neun Mitgliedsländern vorsieht, genügen bei PESCO schon zwei Partner. Insofern wird hier realistischerweise die komplizierte Mehrebenen-Governance von vorneherein umgangen.
Zum anderen handelt es sich bei den Mitgliedsstaaten, welche »anspruchsvollere Kriterien« erfüllen, erwartungsgemäß um die großen und wirtschaftlich potenten Länder, in erster Linie Frankreich und Deutschland, und in der zweiten Reihe Italien und Spanien. Damit wird die informelle Machthierarchie mit Berlin und Paris an der Spitze verfestigt. Neben den vielen anderen Demokratiedefiziten liegt in diesem quasi imperialen Machtgefälle einer der größten Demokratie-Defekte der EU. Tatsächlich konzentrieren sich auch alle größeren PESCO-Vorhaben um Frankreich und Deutschland.
Bisher sind das 47 Projekte in verschiedensten Koalitionen. Darunter ein gemeinsames Sanitätskommando, abhörsichere Funktechnik und militärische Ausbildungszentren. Angekündigt ist auch die Schaffung eines gemeinsamen Oberkommandos. Strategisch wirklich relevante Rüstungsprojekte gibt es allerdings nur drei an der Zahl.
Als erstes zu nennen wäre das Kampfflugzeug Future Combat Air System (FCAS), das im Wesentlichen von Frankreich und Deutschland unter spanischer Beteiligung produziert werden soll. Der Jet soll im Verein mit Kampfdrohnen und Kleinstdrohnen sowie mit eigener digitaler Cloud fliegen. Er soll ab 2040 zur Verfügung stehen. Die Schätzung der Kosten schwankt derzeit zwischen 100 bis 300 Milliarden Euro.
Zudem ist ein neuer Kampfpanzer geplant, das Main Ground Combat System (MGCS), ebenfalls ein deutsch-französisches Projekt. Von deutscher Seite ist der Rüstungskonzern Krauss Maffei und auf französischer Seite Nexter beteiligt. Die Indienststellung soll im Jahr 2035 erfolgen. Der Stückpreis wird derzeit auf 10 Millionen Euro geschätzt.
Und schließlich ist die sogenannte Euro-Drohne geplant, an der Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien beteiligt sind. Airbus ist Führer des Konsortiums, zu dem Dassault und der italienische Rüstungskonzern Leonardo gehören. Bestellt wurden bisher sieben Systeme mit jeweils drei Drohnen. Der Preis soll bei 7,1 Milliarden Euro liegen. Die Auslieferung ist für 2029 vorgesehen.
Für sich genommen mögen sich diese Projekte beeindruckend ausnehmen. Aber in globalem Kontext sind sie nicht geeignet, das Ziel weltmachtfähiger militärischer Fähigkeiten aufzubauen. Zudem ist keineswegs gesichert, dass die Projekte erfolgreich umgesetzt werden. So kommt eine interne Evaluierung der EU-Kommission zu dem Schluss, dass nur ein Drittel realisiert werden wird. Das betrifft vorwiegend die kleineren Projekte. Aber auch bei den großen treten beträchtliche Schwierigkeiten auf. So streiten sich die französischen und deutschen Rüstungsfirmen um den Zugriff auf Technologien und Patente. Es geht also immer auch um Industriepolitik und Profite.
Zu alledem kommt schließlich hinzu, dass Frankreich in der Rivalität mit Deutschland um die Führung der EU das Militär als Mittel sieht, um die ökonomische Dominanz Deutschlands zu kompensieren. Durch den Brexit hat sich die Machtarchitektur an der Spitze der EU verändert. Denn mit dem Austritt Großbritanniens verließ auch eine Atommacht und ein ständiges Sicherheitsratsmitglied die EU. Für die Mitgliedschaft in der ersten Liga der Geopolitik sind Atomwaffen aber immer noch das entscheidende Kriterium. Das verschafft Paris die Monopolstellung als einziger Atommacht und ständigem Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Frankreich hofft damit, seine Führungsrolle wieder einnehmen zu können, die es bis zur deutschen Wiedervereinigung innehatte. Deutschen Versuchen, Mitbestimmung über die Atomwaffen Frankeichs und seinen Sicherheitsratssitz zu bekommen, hat Paris eine klare Absage erteilt.
Kein Grund für friedenspolitisches Laissez-faire
In absehbarer Zukunft wird es also keine EU-Armee geben, doch das bedeutet nicht, dass sich emanzipatorische Friedenspolitik zurücklehnen und den Dingen ihren Lauf lassen könnte. Denn unabhängig vom Thema EU-Armee verschlechtert sich gegenwärtig das sicherheitspolitische Klima zwischen den Großmächten an mehreren Fronten dramatisch – vor allem im Indopazifik zwischen USA und China und in Europa zwischen Russland und den NATO-Ländern. Die Welt steuert auf einen zweiten Kalten Kriegzu.
Was wir stattdessen brauchen, ist eine Politik, die auf Entspannung, Kooperation und friedliche Koexistenz setzt. Anstatt sich auf das aussichtslose Unterfangen einer Armee zu versteifen, sollte sich die EU lieber auf die friedenspolitischen Traditionen Europas besinnen. Vom Westfälischen Frieden, über Kants Schrift Zum Ewigen Frieden bis zur Entspannungspolitik Willy Brandts gibt es historische Vorbilder. Denn Frieden ist zwar nicht alles, aber ohne Frieden ist alles andere nichts.
Peter Wahl ist Gesellschaftswissenschaftler und Publizist. Zuletzt erschien von ihm »Krieg und Frieden in der Globalen (Un)Ordnung« im Sammelband »Das Chaos verstehen – Welche Zukunft in Zeiten von Zivilisationskrise und Corona« (VSA Hamburg, 2021).