4,15 Mio. Vollzeitkräfte haben 2016 zu Niedriglöhnen gearbeitet
von Markus Krüsemann / miese-jobs.de
Im Bereich der Vollzeitbeschäftigung ist der Niedriglohnsektor seit Jahren eine stabile Größe. Auch 2016 waren wieder mehr als vier Mio. ArbeitnehmerInnen mit Vollzeitjob betroffen. Damit zählt weiterhin jede fünfte Vollzeitkraft zu den Geringverdienenden. Wer dies ändern will, muss vor allem die Ursachen der Einkommenspolarisierung beseitigen.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat ihre Entgeltstatistik für 2016 vorgelegt. Darin informiert sie im Jahresrhythmus über die Entwicklung und Verteilung der Bruttomonatsentgelte von Vollzeitbeschäftigten. Für 2016 hält die Analyse laut Medienberichten gute Nachrichten bereit. Das Bruttogehalt von Vollzeitkräften sei im vergangenen Jahr um 50 Euro pro Monat gestiegen. Bevor sich jetzt jemand wundert und das Plus auf seinen Gehaltsabrechnungen für 2016 vermisst: Es handelt sich um eine statistische Kennziffer. Gemeint ist hier das rechnerisch ermittelte (und um 50 Euro höhere) Medianeinkommen oder mittlere Einkommen, das die Menge der EntgeltbezieherInnen in zwei Hälften teilt. Die eine Hälfte verdient mehr, die andere weniger.
Unter denen, die weniger verdienen, soll hier die Gruppe der Geringverdiener genauer betrachtet werden, also jener Beschäftigtengruppe, die per Definition weniger als zwei Drittel des Medianentgelts erhalten hat. Wie hat sich die Niedriglohnbeschäftigung von sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten 2016 im Vergleich zu den Vorjahren entwickelt? Auch darüber gibt die Entgeltstatistik der BA Auskunft. Gute Nachrichten sind das jedoch nicht.
Entwicklung des Niedriglohnsektors bei Vollzeitkräften seit 2012
Einschränkend muss vorausgeschickt werden, dass die Bundesagentur im Jahr 2014 mit der Umstellung der Beschäftigungsstatistik auch eine Revision der Entgeltstatistik vorgenommen hat. Seitdem werden nicht mehr alle sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten sondern nur eine so genannte „relevante Beschäftigtengruppe“ berücksichtigt. Neben den zuvor bereits ausgeschlossenen Personen in Ausbildung bleiben einige weitere Personengruppen außen vor. Letztendlich werden aber immer noch 98 Prozent aller Vollzeitkräfte erfasst. Allerdings sind die nach dem neuen Erhebungsverfahren erzielten Ergebnisse (sie liegen ab 2012 vor) nicht mehr mit den Zahlen früherer Jahre vergleichbar.
Gemessen an der für 2016 ermittelten bundeseinheitlichen Niedriglohnschwelle von 2.088 Euro im Monat (brutto) weist die Entgeltstatistik 4,15 Millionen „Vollzeitbeschäftigte der Kerngruppe“ aus, die zum Jahresende 2016 zu Niedriglöhnen gearbeitet haben. 2012 lag ihre Zahl noch bei knapp vier Millionen. Seitdem ist sie zwar langsam, aber stetig gestiegen. Der Anteil der Geringverdienenden an allen Vollzeitkräften im Kernbereich schrumpfte dagegen von 20,4 Prozent im Jahr 2012 auf 20,1 Prozent in 2016. Das liegt daran, dass die Zahl der Vollzeitbeschäftigten in den letzten Jahren stärker zulegte als die Zahl der schlecht verdienenden Teilgruppe. Dennoch arbeitet weiterhin jede fünfte Vollzeitkraft im Niedriglohnsektor.
Vollzeitbeschäftigte der Kerngruppe insgesamt und mit Entgelten unterhalb der Niedriglohnschwelle ( in 1000)
Auswertungen der BA, die mit für Ost- und Westdeutschland getrennt berechneten Niedriglohnschwellen hantieren, kommen zu insgesamt geringeren Werten. So werden für Ende 2016 bundesweit etwa nur 3,80 Mio. Niedriglöhner ausgewiesen. In der Tendenz, zunehmende Zahl an Geringverdienenden bei gleichzeitig zurückgehenden Anteilswerten, ändert sich aber auch im Ost-West-Vergleich fast nichts. Lediglich für die Zahl der ostdeutschen Vollzeitbeschäftigten mit Entgelten unterhalb der Niedriglohnschwelle „Ost“ zeigt sich eine im Verlauf der Jahre uneinheitliche Entwicklung. Zuletzt (2015-2016) ist ihre Zahl aber auch wieder gestiegen. Von einem Bedeutungsverlust des Niedriglohnsektors kann demnach keine Rede sein.
Effekte des gesetzlichen Mindestlohns bei Vollzeitbeschäftigten
2015 und 2016 hatten Beschäftigte in Deutschland (abgesehen von Ausnahmen) Anspruch auf einen Stundenlohn von mindestens 8,50 Euro (brutto). Obwohl nach Angaben der Mindestlohnkommission auch mehr als 800.000 Vollzeitbeschäftigte mit zuvor niedrigeren Löhnen davon profitiert haben dürften, auf die Entwicklung des Niedriglohnsektors blieb dies ohne Wirkung. Auch mit 8,50 Euro sind sie in beiden Jahren NiedriglohnbezieherInnen geblieben.
Selbst bei einer 40 Std.-Woche und zusätzlichen Gratifikationen (Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld etc.) in Höhe eines weiteren Monatsgehalts bliebe am Ende rechnerisch nur ein Bruttomonatsentgelt von weniger als 1.600 Euro. Die bundeseinheitliche Niedriglohnschwelle lag laut BA aber bereits 2015 bei 2.056 Euro, 2016 bei 2.088 Euro. Auch bei nach Ost und West getrennt berechneten Medianentgelten reicht es nicht, denn die Niedriglohnschwelle „Ost“ lag 2015 bei 1.633 Euro, 2016 bei 1.673 Euro. Damit ist klar, dass sich die Wirkung des gesetzlichen Mindestlohns in der Entgeltstatistik der BA nur in der Entwicklung der Entgeltklassen bis 1.600 Euro niederschlägt. Angaben zur Verteilung nach entsprechend eng gegliederten Klassen monatlicher Bruttoarbeitsentgelte liegen allerdings nur für das Jahr 2016 vor.
Der Niedriglohnsektor nach Anforderungsniveau
In der Entgeltstatistik wird die Entwicklung der Bruttomonatsentgelte nach vielen unterschiedlichen Merkmalen aufgeschlüsselt. Für die Entwicklung des Niedriglohnsektors soll hier abschließend und beispielhaft nur die nach Anforderungsniveau der Arbeit unterschiedliche Betroffenheit der Vollzeitbeschäftigten dargestellt werden. Allen Angaben liegt wieder die bundeseinheitliche Niedriglohnschwelle von 2.088 Euro zugrunde.
Anteile von Vollzeitbeschäftigten der Kerngruppe mit Entgelten unterhalb der Niedriglohnschwelle nach Anforderungsniveau (in Prozent)
Wie obige Grafik zeigt, arbeiteten Ende 2016 annähernd zwei Drittel aller in Vollzeit Niedriglohnbeschäftigten der Kerngruppe auf dem Anforderungsniveau einer Fachkraft, gut 29 Prozent übten Helfertätigkeiten aus. Innerhalb der Gruppe der Helfer ist aber fast jeder Zweite ein Geringverdiener. Sei sind damit am stärksten von niedrigen Monatsentgelten betroffen. Bei den auf Fachkräfteniveau arbeitenden Vollzeitkräften sind „nur“ 21,7 Prozent Niedriglöhner.
Fazit: Ursachen des hohen Lohngefälles müssen beseitigt werden
Seit Jahren ist die Entwicklung des Niedriglohnsektors (ob mit oder ohne Einbeziehung von Teilzeitkräften und Minijobbenden) von einer geringen Dynamik geprägt. Angesichts der guten konjunkturellen Entwicklung, der zunehmenden Erwerbstätigkeit, der wieder steigenden Zahl an Normalarbeitsverhältnissen und der zurückgehenden Arbeitslosigkeit ist die bloße Tatsache, dass Niedriglohnbeschäftigung sich längst nicht mehr so stark ausweitet wie im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends allerdings keine gute Nachricht. Auch ihr relativer Bedeutungsverlust am Arbeitsmarkt fällt vor diesem Hintergrund viel zu niedrig aus.
Die aktuellen Befunde der Entgeltstatistik sind diesbezüglich noch bedenklicher, denn mit der weiter um sich greifenden atypischen Beschäftigung (siehe 19.05.2017) nimmt ein wichtiger Niedriglohntreiber ja gerade keinen oder nur sehr geringen Einfluss auf die Entwicklung der Entgelte von Vollzeitbeschäftigten. Der Vollzeit-Niedriglohnsektor will dennoch nicht merklich schrumpfen. Die in den letzten Jahren vergleichsweise gute Entwicklung der Nominallöhne (siehe 22.03.2017) und der Tariflöhne scheint in dieser Hinsicht auch nicht recht geholfen zu haben.
Die Ursachen für die geronnenen Entlohnungsverhältnisse am Arbeitsmarkt sind vielfältig, man denke nur an den allgemeinen Tertiarisierungsprozess, in dem relativ gut bezahlte Industriearbeitsplätze an Bedeutung verlieren zugunsten von Dienstleistungsjobs, die vielfach schlechter entlohnt werden. Ganz sicher aber spielen hier Prozesse der Einkommenspolarisierung und eines stark gewachsenen Lohngefälles zwischen den ArbeitnehmerInnen eine wichtige Rolle. Einer Analyse von Gerhard Bosch und Thorsten Kalina zufolge sind die Bruttostundenlöhne der abhängig Beschäftigten bereits zwischen 1996 und 2004 auseinandergedriftet, ein Prozess, der trotz des Jobbooms ab 2005 nicht zum Stillstand gekommen ist. Hier hat nicht zuletzt auch das Hartz-IV-System mit seinen rigiden Zumutbarkeitsregeln und den Sanktionsdrohungen seine traurige Wirkung entfaltet. Wenn Erwerbslose gezwungen werden, nahezu jede (auch unqualifizierte und schlecht entlohnte) Arbeit anzunehmen, dann braucht sich niemand zu wundern, dass mit der Verbilligung der Ware Arbeit ein stabiler Niedriglohnsektor verankert worden ist. Der wird erst wieder (weitgehend) verschwinden, wenn die Ursachen für das Lohngefälle und die generelle Einkommenspolarisierung bekämpft und beseitigt werden.
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Quellen:
Hannoversche Allgemeine online vom 23.07.2017.
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