Von Kerstin Lanje und Tobias Reichert
Deutschland hat sich verpflichtet, die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) bis 2030 umzusetzen. In SDG 2 verpflichten sich die Staaten, Hunger zu bekämpfen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu schaffen. Zudem betont die Bundesregierung in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2016, dass der Aufbau einer wettbewerbsfähigen Agrar- und Ernährungswirtschaft in Entwicklungsländern die wachsende Nachfrage nach Lebensmitteln vor Ort besser bedienen könne und gleichzeitig Arbeit und Einkommen im ländlichen Raum schaffen würde. Bisher läuft die deutsche und europäische Agrarpolitik aber in eine völlig andere Richtung. Was die Umsetzung des SDG 2 politisch bedeutet, lässt sich beispielhaft am Milchsektor aufzeigen.
In den letzten zwei Jahren wurde deutlich, wie stark der Milchsektor von Handelsverzerrungen und Marktungleichgewichten betroffen ist. Das Angebot an Milch ist in Europa höher als die Nachfrage. Die Erzeugerpreise in Deutschland sind auf ein existenzbedrohendes Niveau gefallen und lagen trotz leichter Erholung im März 2017 bei nur 31,82 Cent/kg. 1 Viele Milchbäuerinnen und -bauern haben in jüngster Vergangenheit ihre Höfe aufgegeben; alleine in Bayern waren es 2.000, in Niedersachsen 10.000 Betriebe. Milch, die in Europa nicht nachgefragt wird, landet auf dem Weltmarkt und konkurriert insbesondere als Milchpulver mit der lokalen Milchproduktion in Entwicklungsländern. Schon jetzt stammt 26 Prozent der auf dem Weltmarkt gehandelten Milchmenge aus der Europäischen Union. Die Exportorientierung lässt sich an den Zahlen ablesen: In den letzten zehn Jahren ist der Export von Magermilchpulver der EU um das 6,5-fache auf über 574.000 Tonnen gestiegen. Aus Deutschland wird jeder zweite Liter der hier gemolkenen Milch exportiert, der größte Teil geht in andere Länder der EU.
Für 2017 erwartet die EU-Kommission, dass die hohen Lagerbestände an Magermilchpulver abschmelzen und die Verkäufe um fast ein Viertel auf 712.000 Tonnen zulegen. Für 2018 wird eine Zunahme des Exports von Magermilchpulver in Drittländer um 13 Prozent angenommen. Die niederländische Rabobank schätzt, dass die europäische Milchproduktion bis 2020 um bis zu acht Prozent steigen wird, die heimische Nachfrage jedoch kaum. Auch in Deutschland setzen die Molkereien auf die Erzeugung von Milchpulver. Als Marktführer hat das Deutsche Milchkontor seine Produktionskapazitäten verdoppelt. Die Ammerland Molkerei exportiert Milchprodukte in 60 Länder und hat gar ein eigenes Vertriebsbüro in Peking eröffnet, um ihre Exportchancen zu erhöhen.
Diese hohe verfügbare Milchmenge ist begründet zum einen im Auslaufen der Milchquote im April 2015. Damals fielen die bis dahin vorhandenen Produktionsbegrenzungen. Zum anderen können Exportmärkte nur durch billige, standardisierte Massenprodukte erobert werden. Die Preise müssen dauerhaft niedrig sein, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein zu können.
Markterschließung steht an erster Stelle
Die EU-Kommission geht davon aus, dass die zusätzliche Nachfrage nach europäischen Agrarprodukten in den nächsten zehn bis 15 Jahren zu 90 Prozent außerhalb der EU entstehen wird. Wichtig ist somit der Zugang zu diesen Exportmärkten. EU-Agrarkommissar Phil Hogan wirbt für Marktöffnung, Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt hat das Budget für Exportförderung auf gegenwärtig 7,2 Millionen Euro aufgestockt und setzt auch auf die steigende Nachfrage aus dem Ausland.
Diese Exportorientierung mit der Neuausrichtung der EU-Agrarpolitik auf den (niedrigeren) Weltmarktpreis wird flankiert von der Marktöffnung für europäische Agrarprodukte in anderen Ländern, vorangetrieben durch die EU-Handelspolitik, die den Abbau des Außenschutzes durch Zölle oder Quoten durch Handelsabkommen forciert.
Handelsverzerrungen werden heute nicht mehr explizit durch Agrarexportsubventionen ausgelöst, deren Höhe 1992 noch 10 Milliarden Euro betrug. Der Effekt der im Agrarhaushalt der EU vorgesehenen Direktzahlungen und marktbezogenen Ausgaben in Höhe von 312,7 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2014 bis 2020 ähnelt jedoch dem der Exportsubventionen. So können europäische Agrarprodukte die EU zu Preisen unterhalb der Erzeugungskosten verlassen. Ein Drittel des Einkommens der Landwirte besteht aus Direktzahlungen, die so die niedrigen Preise ermöglichen.
Schon für die letzte Krise am Weltmilchmarkt war die Europäische Union mit ihrer Produktionssteigerung von 11 Millionen Tonnen verantwortlich, davon alleine 2014 sechs Millionen Tonnen.
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Steigerung landwirtschaftlicher Produktivität und Einkommenserhöhung von Weidetierhaltern
Die Milchproduktion hat ein großes Potenzial zur Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern. Weltweit wird die Milch von über 120 Millionen Milchviehbetrieben erzeugt, die im Durchschnitt 2,9 Kühe halten.
In Afrika südlich der Sahara, mit einem Anteil von 20 Prozent ein wichtiger Absatzmarkt für Milchpulver aus der EU, zeigt sich seit 2007 eine Zunahme der Importe auf 1,24 Millionen Tonnen, gemessen in Milchäquivalenten. Besonders billig auf dem Markt ist mit Pflanzenfett angereichertes Milchpulver. Hierfür wird der Milch das natürliche Fett entzogen und zu höherwertigen Produkten wie Butter verarbeitet. Der Milch wird stattdessen Pflanzenfett beigefügt. Ein großer Anstieg ist im wichtigen Absatzmarkt Nigeria zu verzeichnen, wo die Importe aus der EU um das Zweieinhalbfache auf 70.000 Tonnen stiegen. Besonders drastisch ist die Entwicklung in einigen Staaten wie Mali oder Kamerun, die vor zehn Jahren keine nennenswerten Mengen importierten und nun ein Importwachstum von mehreren tausend Tonnen verzeichnen.
Auswirkungen auf die lokale Milchwirtschaft
Welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die lokale Milchwirtschaft hat, kann am Beispiel Burkina Faso gezeigt werden. In dem Land wurden 2010 weniger als 2.000 Tonnen des mit Pflanzenfett angereicherten Milchpulvers importiert, 2015 waren es bereits 5.187 Tonnen. Und das, obwohl es in Burkina Faso eine lokale Milchviehhaltung mit zwei Millionen Milchproduzent/innen und zehn Millionen Kühen gibt. Viele Menschen leben von der Weiterverarbeitung und dem Verkauf von Milch und Milchprodukten. MISEREOR fördert seit über zehn Jahren den Aufbau lokaler Molkereien in Burkina Faso, wo mittlerweile über 40 Kleinstmolkereien entstanden sind, die das Auskommen ihrer Mitglieder, überwiegend Frauen, sichern. Die Produktion schwankt. Mitunter geben die Kühe nur zwei Liter, in der Regenzeit auch bis zu sechs Liter. Die Milch wird zur Molkerei gebracht und abgekocht oder als Joghurt verkauft. Das Einkommen reicht, um Futtermittel anzubauen, die eigene Ernährung zu sichern und die Kinder zur Schule zu schicken.
Aus entwicklungspolitischer und menschenrechtlicher Perspektive ist es wichtig sicherzustellen, dass die Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung gestärkt werden kann. Etwa 80 Prozent der erzeugten Milch wird in den Produzentenfamilien selbst konsumiert und höchstens unverarbeitet in der näheren Umgebung zum Verkauf angeboten. In den Supermärkten und Kiosken sind fast ausschließlich Produkte aus importiertem Milchpulver zu finden, die deutlich billiger als lokale Milcherzeugnisse angeboten werden. Umgerechnet kostet ein Liter Milch, hergestellt aus mit Pflanzenfett angereichertem Milchpulver, etwa 34 Cent, lokale Milch hingegen zwischen 76 Cent und 1,10 Euro.
Aufbau einer wettbewerbsfähigen Agrar- und Ernährungswirtschaft in Entwicklungsländern
Als wettbewerbsfähig gegenüber der Europäischen Milchwirtschaft kann man die Kleinstmolkereien in Burkina Faso noch nicht bezeichnen. Man muss aber berücksichtigen, dass durch diese Einkommen eine Lebensperspektive für die Weidetierhalter der ethnischen Gruppe der Peulh entstanden ist. Bei den Peulh, die keine Alternative zur Tierhaltung und Milchwirtschaft haben, sind es die Frauen (meist Analphabetinnen), die für die Produktion und den Verkauf der Milch zuständig sind. Diese Tätigkeit ist somit ihre einzige Möglichkeit, Einkommen zu erzielen. Einfach ist es nicht, konkurrenzfähiger zu werden. Notwendig wäre die Steigerung des Futtermittelanbaus, das Einkreuzen von Milchkühen, die mehr Milch geben und Investitionen in die Vermarktung. Die hoffnungsvollen Anfänge werden jedoch konterkariert durch Bestrebungen großer internationaler Molkereien, den Markt selbst zu bedienen.
Dass die Konzentration auf das billige Milchpulver und die Absatzmärkte in Afrika Teil einer langfristigen Strategie ist, zeigen die Investitionen europäischer Unternehmen. ARLA, FrieslandCampina und Danone investieren verstärkt in die Milchverarbeitung in Westafrika, meist indem sie bestehende afrikanische Unternehmen aufkaufen oder Beteiligungen erwerben. Einige in Westafrika besonders aktive Konzerne haben Unternehmenszweige in Deutschland und verarbeiten deutsche Milch.
Im September 2014 gab z.B. ARLA den Aufbau zweier Gemeinschaftsunternehmen im Senegal und in Nigeria bekannt. Im September 2014 kaufte Royal Friesland/Campina von der OLAM-Gruppe aus Singapur Anteile im Geschäftsfeld Milch an der Elfenbeinküste für 18,7 Millionen Euro und für 6,3 Millionen die Milchmarke „Pearl“. Danone legte 2015 eine Anleihe von 1,3 Milliarden Euro für seine Investitionen im afrikanischen Kontext auf und investierte 21 Millionen Euro in den Einstieg in die Unternehmen FAN-Milk Westafrika und Brookside Dairy (Kenia).
Die große Mehrheit dieser Unternehmen nutzt ganz überwiegend oder ausschließlich importierte Rohstoffe, vor allem Milchpulver, die entweder in Portionen von Haushaltsgröße umgepackt oder zu anderen Produkten wie Trinkmilch, Joghurt oder Kondensmilch weiterverarbeitet werden.
Schutz der heimischen Märkte als Beitrag zur SDG-Umsetzung
Das Beispiel der Peulh zeigt, was geschehen muss, damit die SDGs erreicht werden. Das Potenzial der lokalen Milchwirtschaft zur Armutsbekämpfung in Burkina Faso muss anerkannt, geschützt und unterstützt werden. Wie oben beschrieben sind erhebliche Investitionen in Burkina Fasos Milchwirtschaft erforderlich. Dieses ist auch vor dem Hintergrund der steigenden Arbeits- und Perspektivlosigkeit junger Menschen im ländlichen Raum notwendig.
Unerlässlich ist zudem, im Handelsabkommen der EU mit Westafrika den handelspolitische Spielraum zum Schutz der heimischen Milchwirtschaft zu stärken. Nach derzeitigen Plänen soll der Außenschutz in Form von Einfuhrzöllen auf Milchpulver (ab 25 kg-Packungen) für immer auf 0 Prozent gesenkt werden.
Es muss möglich sein, diese Verabredung auch wieder aufzuheben. MISEREOR fordert deshalb ein Moratorium der derzeitigen Verhandlungen über ein Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. Partnerorganisationen von MISEREOR fordern einen Außenschutz für Milchpulver in Höhe von 35 Prozent. Des Weiteren muss die EU ein dauerhaftes Kriseninstrument zur Regulierung des Angebots installieren, das passend zur Nachfrage an der Produktionsmenge ansetzt und für alle EU-Mitgliedsstaaten gilt. Für den Einsatz eines solchen Instruments sprechen zwei Gründe. Zum einen ist es die Stabilisierung der EU-Binnenwirtschaft, indem über angemessene Milchpreise EU-weit Milchbetriebe und Arbeitsplätze in diesem Wirtschaftssektor erhalten bleiben. Zum anderen darf die Überproduktion in der EU nicht für den Export in Drittländer ohne Folgenabschätzung der Auswirkungen auf die Erzeuger/innen in Entwicklungsländern erfolgen. Nur so können diese ihre Milchwirtschaft entwickeln, ihre Produkte absetzen und ein Einkommen erwirtschaften. Armut, Migration und Hunger werden reduziert. Dass eine von der EU geförderte Milchreduktionsmaßnahme hilft, musste auch EU-Agrarkommissar Hogan anerkennen: In der EU reduzierte sich die Milchmenge um über 850.000 Tonnen Rohmilch, nach dem die EU-Kommission einen Anreiz zur Mengenreduzierung installierte und Erzeuger 14 Cent pro Kilogramm nicht angelieferte Milch bekamen.
https://www.2030report.de/de/bericht/1400/kapitel/2-billige-nahrungsmittel-und-ihre-folgen