Es ist an der Zeit, den Verleumdern und ihren Verleumdungen entgegenzutreten.
Durch die Errichtung des Britischen Völkerbundmandatsgebiets Palästina 1922 mit dem Ziel der Errichtung einer „nationalen Heimat für das jüdische Volk“ verlor die einheimische Bevölkerung Palästinas die Aussicht auf politische Selbstbestimmung. Dieser Verlust wurde besiegelt, als sich als Resultat des Mandats 1948 Israel gründete. Dabei flohen über 700.000 Palästinenser oder wurden vertrieben; sie wurden von Israel enteignet und mit Gewalt daran gehindert, an ihre Wohnorte und zu ihrem Besitz zurückzukehren.
Aus dieser Notgeburt in Unrecht auf geraubtem Land und dem sich daraus notwendig ergebenden Gefühl, nicht in Frieden leben zu können, leitet die regierende Mehrheit des heutigen Israels das Recht ab, im Jordan-Westuferland seit der Besetzung 1967 mit Militärrecht durchzuregieren und weiter Stück für Stück Land zu konfiszieren und in Gasa die Bevölkerung schlicht einzusperren und ins Elend zu stürzen.
Palästinenser haben sich lange mit Gewalt gegen diese Fremdbestimmung gewehrt: Flugzeugentführungen, Attentate, Bombenanschläge. Aber nach dem Ende der gewaltsamen Zweiten Intifada 2005 gewann die Idee des zivilen Widerstands mit dem friedlichen Mittel des Boykotts zunehmend Einfluss. Die Bewegung fordert „BDS“, d.h. Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel.
Abgelehnt wird dieser zivile Widerstand selbstverständlich von den in Israel herrschenden Nationalisten und der nationalistischen Internationale (Strache, Wilders, Orban, Trump), denen Israel als Vorbild dient. Die demokratische Mehrheit der deutschen Bevölkerung möchte sich einerseits mit dieser nationalistischen Welle nicht gemein machen, zu Recht. Andererseits können die europäischen Staaten und besonders Deutschland, die vor 80 Jahren Europas Juden vertrieben und ermordeten und ihnen keinen anderen Ausweg ließen, als sich eine neue Heimat zu suchen, es schlecht den Palästinensern gleichtun und diese neue Heimat nun wieder wegwünschen. Daher trifft die Frage des richtigen Umgangs mit Israel uns Deutsche in unserem Selbstverständnis: Inwieweit müssen sich die Nachkommen der Opfer des deutschen Rassismus nicht an Menschenrecht und Völkerrecht halten?
Die Form, in der solche kontroversen Fragen zu diskutieren sind, ist der demokratische Diskurs. Am Ende dieses Diskurses sollte stehen, dass Menschenrechte universell gelten und auf dieser Grundlage ein politischer Kompromiss gefunden werden muss.
Diesen Diskurs verhindern und verbieten wollen aber die israelischen Nationalisten: Nicht nur hat die Regierung Netanjahu die palästinensische Boykottbewegung zum Hauptfeind Israels erklärt, sondern sie wendet auch beträchtliche Geldmittel und Anstrengungen auf, um Politik und Medien im Ausland entsprechend zu beeinflussen. Siehe zum Beispiel die Reportage „The Lobby“ von Al Dschasira über Aktivitäten der israelischen Botschaft in London.
In der Öffentlichkeit propagieren die israelischen Nationalisten, dass die BDS-Bewegung (und in Verallgemeinerung jede grundsätzliche Kritik an Israels Vorgehen) „antisemitisch“ sei. Diese Sichtweise haben sich in Deutschland (und in anderen westlichen Ländern) manche Politiker zu eigen gemacht. Unter anderem wollen gegenwärtig die Stadt München (vertreten durch ihren OB Reiter) und die Stadt Frankfurt (vertreten durch Bürgermeister Becker), falls irgendein Berührungspunkt zur „antisemitischen BDS-Bewegung“ vermutet werden kann, ein Verbot der Überlassung städtischer Räume an Kritiker Israels durchsetzen – Räume, die der Allgemeinheit zur politischen Betätigung zustehen, aufgrund der grundgesetzlich verankerten Meinungsfreiheit.
Gegen den Kern der BDS-Bewegung aus Palästina ist der Vorwurf, sie sei „antisemitisch“ offensichtlich fehl am Platze: Sie wehrt sich gegen massivstes Unrecht; Menschenrecht und Völkerrecht stehen auf ihrer Seite. Dazuhin tut sie dies mit dem sanftestmöglichen Mittel. (Man vergleiche dagegen die individuellen Messerattacken jugendlicher Palästinenser im letzten Jahr.) Diese Wendung weg von Gewalt hin zu den Methoden Gandhis, Kings und Mandelas ist uneingeschränkt begrüßenswert.
Nun ist es denkbar, dass zwar nicht die palästinensischen BDS-Aktivisten antisemitisch motiviert sind, wohl aber ihre deutschen Unterstützer. Gegen diese Behauptung hat Abraham Melzer sein Buch „Die Antisemitenmacher“ geschrieben. Darin schafft er es, in einfachen Worten differenziert auseinanderzusetzen, was Antisemitismus ist, was Kritik an Israel ist und was das eine mit dem anderen zu tun hat, nämlich ziemlich wenig.
Das Buch ist auch ein sehr persönliches Buch geworden; in warmen, bewegenden Passagen erzählt Melzer von der Flüchtlingsgeschichte seines Vaters und von seiner eigenen Kindheit und Jugend in Israel. Auch hätte ich bei der obsessiven Verbissenheit, die Melzer in den letzten Jahren an den Tag legte, um den Lebensweg seines Jugendfreundes Henryk M. Broder hin zum witzelsüchtigen Vordenker der Neuen Rechten zu verurteilen, nicht gedacht, dass ich nochmal Passagen empfehlen könnte, die Melzer über Broder schreibt; aber tatsächlich sind seine Erinnerungen an die gemeinsame Jugend mit Broder in Köln/Düsseldorf und an seine Lebenshilfe für Broder während dessen Zeit in Israel anrührend.
Am Ende kommt das Buch doch etwas in die Wiederholungsschleife, da hätte konsequenteres Lektorat gutgetan, aber das tut dem positiven Gesamteindruck keinen Abbruch: Das ist ein Buch, das den Antisemitismusvorwurf als politischen Kampfbegriff klug und wirkungsvoll auseinandernimmt.
Melzer selbst ist einer der Betroffenen der neuen deutschen Zensur: Die Vorstellung der seinem neuen Buch zugrundeliegenden Gedanken wurde ihm im September 2016 von der Stadt München verwehrt, durch Drohung des Entzugs städtischer Gelder an mögliche Veranstaltungsorte. Ebenso wollte dies im Oktober 2017 die Stadt Frankfurt, wurde aber durch eine einstweilige Verfügung des Amtsgerichts Frankfurt eines Besseren belehrt.
In Großbritannien hat sich aus linken jüdischen Kreisen wegen vieler ähnlicher Vorfälle die Initiative Free Speech on Israel gegründetund erfolgreiche Arbeit gegen die inflationäre Verwendung des Antisemitismusvorwurfs gegen linke Kritiker Israels geleistet. Nun hat sich eine ähnliche Initiative in Deutschland gebildet, und wird am 10. Februar 2018 in Berlin eine Konferenz abhalten. Nach dem Titel eines Gedichts von Erich Fried (1921-1988) genau zu diesem Thema steht diese Konferenz unter dem Motto „Zur Zeit der Verleumder“. Sie wendet sich vor allem an Menschen, denen die Tradition des Marxismus etwas bedeutet. Angekündigt sind bislang Vorträge des israelisch-deutschen Soziologen Moshe Zuckermann, des deutschen Schauspielers Rolf Becker, des israelischen Mitgründers der außerparlamentarischen Opposition „Mazpen“ Moshe Machover, der Frankfurter (M) Gruppe „Free Palestine FFM“ und der britischen Aktivistin Jackie Walker, die aufgrund des Vorwurfs des Antisemitismus politische Ämter verlor. Schirmherrin ist unter anderen die deutschjüdische Musikerin Esther Bejarano.
Wahrscheinlich werden die „Antisemitenmacher“ in der deutschen Politik und den Medien sich auch nicht durch Argumente dieser Konferenz beirren lassen und auf leider inzwischen bewährte Manier auch diese von Juden getragene Konferenz als „antisemitisch“ abwatschen, sich dabei ganz großartig auf Seiten der Menschenrechte sehen und fortfahren, die Menschenrechte der Bevölkerung Palästinas zu ignorieren.
Von einigen aber wird diese Konferenz vielleicht als ein Denkanstoß wahrgenommen. Ihr Problem, ob nun Parteimitglieder der Grünen, der CDU/CSU, SPD, FDP oder der Linken, ist ja, dass sie sich trotz ihrer menschenrechtlichen Argumentationsfigur – und trotz einer bei manchen vielleicht sogar ehrlichen Motivation – mit der Unterstützung des menschenrechtsverletzenden Israels politisch auf der Seite der neuen europäischen Rechten und ihres deutschen Ablegers AfD wiederfinden.
Rolf Verleger, Jahrgang 1951, ist Psychologe und war bis 2017 Professor an der Universität zu Lübeck. Er ist Sohn zweier Überlebender der Vernichtung des europäischen Judentums. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland. Seitdem engagiert er sich für Gerechtigkeit in Palästina, ist Mitglied der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ und Mitgründer und Vorsitzender des „Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung“. Zuletzt erschienen von ihm „Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht“ sowie „100 Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus“.
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Quelle: https://www.rubikon.news/artikel/meinungsfreiheit-nur-fur-israel-freunde-ansonsten-zensur