Populismus ist in aller Munde! Die Mainstream-Medien bringen regelmäßig Interviews mit Chantal Mouffe oder mit anderen Persönlichkeiten, die das populistische Konzept vertreten. Sie rufen linke Organisationen dazu auf, einen populistischen Weg einzuschlagen.
Als in den 80er Jahren erste Schriften und Bücher von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, zwei der angesehensten Vertreter*innen der Populismus-Theorien, erschienen, war der Populismus eher ein in der Peripherie der kapitalistischen Länder auftauchendes Phänomen. Heute sehen wir zunehmend populistische Bewegungen in verschiedenen Formen in den westlichen kapitalistischen Ländern. Daher ist es unmöglich, den modernen (heutigen) Populismus, trotz ähnlicher Artikulationsformen, als ein Ideologie oder Bewegung der Bauern oder als eine nur in der Peripherie auftauchende Bewegung zu definieren. Zwar haben zwei weitere Soziologen, Gino Germani und Torcuato Di Tella, grundsätzlich die „plötzliche Teilnahme“ der neuen sozialen Schichten (z. B. die Landbevölkerung in lateinamerikanischen Ländern) am politischen Leben als Hauptgrund für den Populismus gesehen. Heute kann man aber schwerlich von einer ähnlichen Situation in den westlichen Ländern sprechen.
In der westlichen linken Szene ist das Interesse am Populismus seit den Wahlerfolgen von Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien sprunghaft gestiegen. Danach wurde jeder linke politische Erfolg (oder Teilerfolg), wie die Wahlergebnisse für Bernie Sanders in den USA und für Corbyn in Großbritannien oder Mélenchon in Frankreich als große Erfolge der populistischen Bewegungen dargestellt. Obwohl die Wahlerfolge von Podemos nicht ein Ergebnis von Laclaus und Mouffes Thesen und ihrer politischen Vorschläge sind, sondern schon lange vor den Wahlen auf den Protesten basierten, die sich gegen die massenhaften Wohnungsenteignungen und gegen die horrende Verschuldung der Lohnabhängigen richteten, sind die theoretischen Analysen beider Soziologen für die Appelle zu einer linkspopulistischen Orientierung maßgebend.
Besonders die führenden Persönlichkeiten der Podemos haben sich öfter auf die Thesen von Laclau und Mouffe zum Populismus berufen. Einer der theoretischen Köpfe der Podemos, Íñigo Errejón, schreibt zum Beispiel in der Vorstellung seines Buches „Ernesto Laclau, theorist of hegemony” Folgendes über Laclau: „[Die] Konzeptualisierung des Populismus machte Laclaus Kategorien zu einem bedeutsamen Bezugsrahmen, um den politischen Wandel, die Bildung nationalstaatlicher Regierungen und die staatlichen Reformen in Lateinamerika zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstehen zu können.“ [1]
Spätestens jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns nicht mehr über die Äußerungen oder ein bestimmtes Verhalten der als Populisten definierten Politiker streiten, sondern dass wir uns mit den theoretischen und ideologischen Konzepten der Theoretiker des Linkspopulismus, Laclau und Mouffe, beschäftigen.
Theorie des Populismus
Laclau hat sein erstes Buch über den Populismus im Jahr 1977 mit dem Titel Politics and Ideology in Marxist Theory – Capitalism, Fascism, Populism (New Left Books) [2] veröffentlicht. In dem Buch kommt Laclau zu dem Ergebnis, dass „es keinen Sozialismus ohne Populismus gibt, und die höchsten Formen des Populismus nur sozialistisch sein können“. (Laclau 1981, S. 173) Aus diesem Grund rief er alle linken Organisationen dazu auf, sich an einer linkspopulistischen Politik zu orientieren. Was für ein „Sozialismus“ beabsichtigt ist und mit welcher populistischen Politik dieses Ziel erreicht werden soll, wurde von Laclau in den darauffolgenden vierundzwanzig Jahren in verschiedenen Texten und Büchern detailliert dargestellt. An vielen seiner Arbeiten war die belgische Soziologin Mouffe beteiligt. Manche Bücher verfassten sie gemeinsam. 1985 wurde von ihnen das Buch Hegemony and Socialist Strategy – Towards a Radical Democratic Politics publiziert. Dieses Buch erschien auf Deutsch unter dem Titel Hegemonie und Radikale Demokratie – Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wenn man das Buch gelesen hat, wird deutlich, dass der deutsche Titel die Thesen der Autoren viel treffender zum Ausdruck bringt als der Titel des Originals. Sie werfen dem Marxismus vor, dass er nur den Klassenwiderspruch kenne und gegenüber jeglichem sonstigen Widerspruch in der Gesellschaft blind sei. Die marxistische Gesellschaftsanalyse und die daraus resultierenden marxistischen Strategien würden vor allem daran scheitern, dass sie eine klassenreduktionistische Herangehensweise vornähmen:
„Nur wenn wir auf […] das Prärogativ einer ‚universalen Klasse‘ verzichten, wird es möglich sein, ernsthaft das gegenwärtige Maß an Gültigkeit der marxistischen Kategorien zu erörtern. Es ist nicht länger möglich, die Subjektivitäts- und Klassenkonzeption, wie sie durch den Marxismus ausgearbeitet worden ist, seine Vorstellung vom historischen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung und selbstverständlich auch nicht seine Konzeption des Kommunismus als einer transparenten Gesellschaft, in der die Antagonismen verschwunden sind, beizubehalten.“ (Laclau, Mouffe, 2006, S. 34)
Laclau und Mouffe sind der Meinung, dass die Arbeiterklasse „in ihrer historischen Mission der Emanzipation versagt“ (a. a. O. S. 211) hat. Das begründen sie mit der Behauptung, dass der Marxismus sich an die Arbeiterklasse als ein einheitliches Subjekt geklammert hat und die Fragmentierung dieses sozialen Subjekts nicht verstanden hat. (a. a. O. S. 208)
Hegemonie
In dem Kapitel „Hegemonie: Genealogie [Ursprungsgeschichte] eines Begriffs“ versuchen die Autoren zu beweisen, dass die „Klasseneinheit“ für die Arbeiterklasse nicht existiert. Dazu werden die Schriften von Rosa Luxemburg zur politischen Einheit und Spontanität des Massenstreiks als Beleg angeführt. Es wird aber mit keinem Wort diskutiert oder untersucht, worin denn die Einheit der Klasse besteht: nämlich in dem objektiv gemeinsamen Interesse und den gleichen Widersprüchen zu dem herrschenden System und zur herrschenden Klasse.
Laclau und Mouffe sind auf der Suche nach einem gesellschaftlichen Subjekt, das keinen Klassencharakter aufweist und sich nicht zu einer Klasse zugehörig fühlt.
Sie erklären, dass keine Klassenkämpfe möglich seien und dass keine Klassenkämpfe existieren, weil es die Klasseneinheit nicht gibt. Laclau/Mouffe bemühen sich um eine „Konstruktion (…) vereinheitlichter Subjekte, deren wesentliche Determinierung populär beziehungsweise demokratisch ist.“ Sie setzen dies einer Determinierung auf der Basis soziologischer und historischer Analysen gegenüber. In ihrem Konzept bilden politische Aspekte und Befindlichkeiten den Bezugsrahmen. Laclau und Mouffe berufen sich sehr oft auf Antonio Gramscis Texte, um ihr Konzept von Hegemonie zu stützen [3]. Im Gegensatz zu Gramscis Thesen, dass die Hegemonie auf der Basis der gesellschaftlichen Klassen aufgebaut werden kann und das hegemoniale Subjekt aus den Klassen und/oder aus Klassenschichten hervorgehen kann, lehnen sie in ihrer Konzeption jeden Bezug auf Klassen ab.Alle ihre Konzepte gestalten sie völlig losgelöst von Klassenanalysen. Für sie kann Hegemonie durch das Volk gegen die Herrschenden außerhalb der Klassenstrukturen hergestellt werden.
„Der Nullpunkt der Krise“
Am Anfang ihres Buches versuchen die Autoren, anhand von Luxemburgs und Kautskys Texten zu beweisen, dass der Marxismus in einer Krise steckt. Sie sind der Meinung, dass die seit den 70er Jahren viel beschworene Krise nicht eine Krise der politischen Parteien und Gruppen ist, sondern dass der Marxismus mit all seinen grundsätzlichen Analysen und Konzepten in der Krise steckt. Sie wollen beweisen, dass die Arbeiterklasse in keiner Epoche der Geschichte eine Einheit bildete und mit der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften (und der damit einhergehenden Fragmentierung) ihren Klassencharakter verloren hatte.
„Diese Krise [des Marxismus], die als Hintergrund für alle marxistischen Debatten seit der Jahrhundertwende bis zum [Ersten Welt-]Krieg diente, schien von zwei grundlegenden Momenten beherrscht zu sein: das neue Bewusstsein von der Undurchsichtigkeit des Sozialen, von den Komplexitäten und Widerständen eines zunehmend organisierten Kapitalismus sowie die Fragmentierung der verschiedenen Positionen der sozialen Agenten, die gemäß dem klassische Paradigma hätten vereinigt sein sollen. (…) Es wäre falsch, dies als eine bloße Übergangskrise anzusehen; im Gegenteil, der Marxismus verlor zu dieser Zeit seine Unschuld.“ (a. a. O. S. 50) Es stimmt, dass der Kapitalismus eine Fragmentierung der sozialen Agenten hervorbrachte und sich mit der Entwicklung des Kapitalismus immer wieder neue Fragmentierungen in den sozialen Verhältnissen einnisten. Aber es stimmt nicht, dass die marxistische Gesellschaftsanalyse eine absolute Vereinheitlichung aller sozialen Agenten vorausgesagt hat.
„Es ist klar, welche strategische Konzeption aus dieser Vision des Verlaufs des Kapitalismus hergeleitet werden konnte. Das Subjekt dieser Strategie war natürlich die Partei der Arbeiter. Kautsky lehnte nachdrücklich den revisionistischen Begriff einer ‚Volkspartei‘ ab, weil sie seiner Auffassung nach eine Übertragung der Interessen anderer Klassen in das Innere der Partei und deshalb den Verlust des revolutionären Charakters der Bewegung zur Folge haben würde.“ (a. a. O. S. 54) Ergo: Weil Kautskys Analysen und Konzepte falsch waren, sei es falsch, das von Kautsky abgelehnte Konzept der Volkspartei abzulehnen. Es ist merkwürdig, dass die Autoren Laclau und Mouffe diese Diskussion nicht mit anderen Repräsentanten des Marxismus ‒ z. B. mit Lenin [4] im Zusammenhang mit seiner Kritik an den Narodniki ‒ führen, sondern mit Kautsky.
Laclau und Mouffe berufen sich auch auf andere Autoren, um zu beweisen, dass der Klassenkampf nicht nötig und nicht möglich sei: „[Arthur] Rosenberg beschreibt uns in zugleich weitsichtiger und zaudernder Weise den Prozess der Verallgemeinerung der hegemonialen Form von Politik – die sich als eine Bedingung für das Auftauchen jeder kollektiven Identität durchsetzt, sobald artikulatorische Praxen das Prinzip der gesellschaftlichen Teilung bestimmen ‒ und zeigt uns gleichzeitig die Nichtigkeit der Bestrebung, dass der ‚Klassenkampf‘ sich automatisch und a priori auf der Grundlage dieses Prinzips konstituieren sollte.” (ibid. S. 191) Ergo: Klassen-Antagonismus zwischen den Kapitalisten und der Arbeiterklasse ist eine vorübergehende Erscheinung. Deswegen müsse die Politik entsprechend den aktuellen Situationen andauernd geändert werden.
Gibt es Unterdrückung im Kapitalismus?
Als ein Ergebnis der Klassenwidersprüche entstehen Ausbeutung und Unterdrückung bestimmter Schichten und Klassen in der Gesellschaft. Wenn man im politischen Kampf die Existenz der Klassen nicht in Betracht zieht, wie kann man dann die Ausbeutung und Unterdrückung feststellen beziehungsweise dagegen Widerstand leisten? Darüber finden wir in dem Buch, das der Dekonstruktion des Marxismus gewidmet ist: „(U)nsere Aufgabe [besteht] darin …, die Bedingungen zu identifizieren, in denen ein Unterordnungsverhältnis zu einem Unterdrückungsverhältnis wird und sich dadurch zum Ort eines Antagonismus konstituiert.“ (a. a. O. S. 193f)
Laclau und Mouffe versuchen zu beweisen, dass manche Formen der Unterordnung nicht schlimm sind, weil in solchen Verhältnissen keine Unterdrückung existiert: „Wir verstehen unter einem Unterordnungsverhältnis die Unterwerfung eines sozialen Agenten unter die Entscheidungen eines anderen – beispielsweise die Unterwerfung eines Arbeiters unter die Entscheidung eines Unternehmers, oder im bestimmten Formen der Familienorganisation die der Frau unter die Entscheidungen des Mannes und so weiter.“ (ibid. S. 194)
„Es ist klar, warum Unterordnungsverhältnisse an sich betrachtet keine antagonistischen Verhältnisse sein können: ein Unterordnungsverhältnis errichtet nur eine Reihe differentieller Positionen zwischen den sozialen Agenten, und wie wir bereits wissen, kann ein System von Differenzen, das jede soziale Identität als Positivität konstruiert, nicht nur nicht antagonistisch sein, sondern würde die idealen Bedingungen für die Beseitigung aller Antagonismen bewirken.“ (a. a. O. S. 194)
Unterordnung müsse nicht unbedingt Unterdrückung bedeuten. Unterwerfung der Arbeiter*innen unter das Kapital (prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne usw., wenn sie als Alternative nur die Arbeitslosigkeit haben) ist nicht notwendig Unterdrückung. Infolgedessen ist es auch nicht in jedem Fall nötig, gegen solche „Unterordnungen“ zu kämpfen.
Hier legen Laclau und Mouffe, wie der/die Leser*in später sehen wird, den ersten Baustein, um den Klassenantagonismus grundsätzlich zu ignorieren. Es scheint, dass beide Autoren vergessen haben, dass die sozialen Identitäten nicht durch unser willkürliches Eingreifen entstehen, sondern durch die gesellschaftlichen materiellen Bedingungen und die zwischenmenschlichen Verhältnisse, die sich durch diese Bedingungen formen.
Weiter Laclau und Mouffe: „Unsere These ist, daß erst ab dem Moment, als der demokratische Diskurs in der Lage war, die verschiedenen Widerstandsformen gegen die Unterordnung zu artikulieren, die Bedingungen der Möglichkeit des Kampfes gegen die verschiedenen Typen von Ungleichheit existierten.“ (a. a. O. S. 195)
Würden wir dieser Logik folgen, müssten wir feststellen, dass es, bevor die Demokratie, wie sie in den kapitalistischen Gesellschaften existiert, erfunden wurde, keine „Möglichkeiten des Kampfes“ gegen Unterdrückung gab, weil man, um Widerstandformen zu artikulieren, einen „demokratischen Diskurs“ brauchte. Was ist mit den Sklavenaufständen, mit den Bauernaufständen, die nicht nur in westlichen (sprich: europäischen) nichtdemokratischen Gesellschaften stattgefunden haben? Welcher demokratische Diskurs herrschte in den Gesellschaften, in denen die Aufstände der Bauern und Leibeigenen stattfanden? Im undemokratischen Mittelalter etwa gab es Hunderte Widerstände in verschiedenen Formen auf allen Kontinenten ‒ Engelbrekt-Aufstand in Schweden 1434–1436, Kärntner Bauernaufstand im Jahr 1478, Şeyh Bedreddin in Osmanischen Reich 1419–1420 – um nur einige wenige zu nennen.
Die These, dass „die Widerstandsformen sich erst in einem demokratischen Diskurs artikulieren können“, stimmt auch für unsere Zeit nicht. Welcher demokratische Diskurs herrschte in Tunesien oder in Ägypten, als der arabische Frühling begann?
Gibt es Klassen in kapitalistischen Gesellschaften?
Bei ihrer Dekonstruktion des Marxismus arbeiten beide Autoren gründlich. „Es gab ohne Zweifel im neunzehnten Jahrhundert radikal antikapitalistische Kämpfe, nur waren sie keine Kämpfe des Proletariats – wenn wir unter ‚Proletariat‘ eher den Arbeitertyp verstehen, der durch die Entwicklung des Kapitalismus produziert wurde, als jene Handwerker, deren Qualifikationen und Lebensweisen durch die Etablierung des kapitalistischen Produktionssystems bedroht waren.“ (a. a. O. S. 197) Wer ist als Arbeiter*in zu definieren? Die Handwerker, nebenbei bemerkt auch die Bauern, waren im neunzehnten Jahrhundert durch den Verlust ihres Eigentums an den Produktionsmitteln zu Arbeiter*innen geworden. Die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln, die schließlich ein entscheidendes Kriterium für die Klassenbestimmung ist, spielen in dem Populismuskonzept von Laclau und Mouffe jedoch keine Rolle.
Sind nur diejenigen Handwerker als Proletarier zu definieren, deren Qualifikationen und Lebensweisen durch die Etablierung des kapitalistischen Produktionssystems bedroht sind? Für Marx und Engels war die Frage der handwerklichen Qualifikationen kein Kriterium bei der Definition der Klassenzugehörigkeit: Engels: „Das Proletariat ist diejenige Klasse der Gesellschaft, welche ihren Lebensunterhalt einzig und allein aus dem Verkauf ihrer Arbeit und nicht aus dem Profit irgendeines Kapitals zieht; deren Wohl und Wehe, deren Leben und Tod, deren ganze Existenz von der Nachfrage nach Arbeit, also von dem Wechsel der guten und schlechten Geschäftszeiten, von den Schwankungen einer zügellosen Konkurrenz abhängt.“ [5] Weiter Engels: „Unter Proletariat [wird verstanden] die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.“ [6] Wie klar zu sehen ist, schreibt Engels nicht von einer sozialen Schicht, die durch ihre handwerklichen Fähigkeiten oder elendige Lebensweisen, schwierige Arbeitsbedingungen oder gnadenlose Ausbeutung definiert wird.
Die marxistische Definition des Proletariats bzw. der Arbeiterklasse basiert auf den (klar definierten) Produktionsverhältnissen. Besonders in den 1970er und 1980er Jahren ging dieses Verständnis verloren. Viele US-amerikanische und westeuropäische Soziologen haben aus verschiedenen Beweggründen versucht, den Begriff „Proletariat“ zu relativieren. A. Giddens, U. Beck, A. Gorz, E.O. Wright, P. Bourdieu haben in dieser Entwicklung eine führende Rolle gespielt. Laclau und Mouffe schließen sich auf ihre Weise an.
Um ihre Positionen zu verteidigen, legen Laclau und Mouffe keine empirisch-soziologischen Untersuchungen vor. Sie versuchen nicht, die Arbeiter*innen nach ihrer Rolle und ihrer Stellung in der kapitalistischen Produktion zu definieren, sondern nach Alter, Kultur und ähnlichen Kriterien. Sie erklären zur europäischen Arbeiterbewegung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts: „Diese Arbeiterbewegung versucht (…) immer weniger, die inzwischen auf solider Basis stehenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse anzuzweifeln“ (a. a. O. S. 198). So würden „die Unterordnungsverhältnisse zwischen Arbeitern und Kapitalisten (…) bis zu einem gewissen Grade als legitime differentielle Positionen“ anerkannt (ibid., Hervorhebung S. E.).
Durch wen werden diese Unterordnungsverhältnisse legitimiert? Durch den herrschenden Diskurs! Der herrschende Diskurs ist aber immer der Diskurs der Herrschenden (siehe K. Marx/Engels Deutsche Ideologie). Die beiden Autoren behandeln ausführlich antagonistische Verhältnisse in der Gesellschaft. Augenfällig ist, dass die „Antagonismen“ immer außerhalb der Klassenstrukturen gesucht werden. Die „neuen Antagonismen“, die durch „neue soziale Bewegungen“ zum Ausdruck gebracht werden, haben angeblich den Klassenantagonismus abgelöst.
„Der unbefriedigende Begriff ‚neue soziale Bewegungen‘ faßt“ – so erklären Laclau und Mouffe – „eine Reihe höchst unterschiedlicher Kämpfe zusammen: urbane, ökologische, anti-autoritäre, antiinstitutionelle, feministische, antirassistische sowie ethnische, regionale oder sexuelle Minderheiten. Ihr gemeinsamer Nenner wäre ihre Unterscheidung von Arbeiterkämpfen als ‚Klassen‘kämpfen.“ Es sei – so weiter Laclau und Mouffe – „sinnlos, auf der problematischen Natur dieses letzteren Begriffs zu bestehen: Er verschmelzt eine Reihe ganz unterschiedlicher Kämpfe auf der Ebene der Produktionsverhältnisse …“ (a.a.O. S. 196)
Was bewirken diese „neuen Antagonismen“ im kapitalistischen System?
Laclau und Mouffe erklären, dass die an die Stelle des Klassenkampfes getretenen „neuen Antagonismen“ – etwa die Friedensbewegung – „der Ausdruck von Widerstandsformen“ sind und dass „sie perfekt in den theoretischen Rahmen passen“, den Laclau und Mouffe aufgestellt haben. (a. a. O. S. 206)
„Der Hauptgedanke […] ist, dass die neuen Kämpfe […] aus einer doppelten Perspektive verstanden werden sollten: einerseits als Transformation der sozialen Verhältnisse, […] andererseits als Effekte der Verschiebung des um den liberal-demokratischen Diskurs konstituierten egalitären Imaginären in neue Bereiche des sozialen Lebens.“ (a. a. O. S. 207)
Heißt das: Wir müssen, falls wir uns für den Linkspopulismus entscheiden, in den „neuen Bereichen des sozialen Lebens“, in den Protestbewegungen, einen liberal-demokratischen Diskurs gegen die Gentrifizierung, Umweltprobleme oder Überwachung eingehen?
Antagonismen ohne Klassencharakter
Der Begriff „Antagonismus“ nimmt in Laclaus und Mouffes Texten einen wichtigen Platz ein. Je mehr man sich in ihre Bücher und Artikel vertieft, umso mehr bekommt man den Eindruck, dass dieser Begriff entwickelt wurde, um den Begriff „Klassenwiderspruch“ zu ersetzen.
„Der Verzicht auf die Kategorie des Subjekts als einer einheitlichen, transparenten genähten [?! – S. E.] Entität öffnet den Weg für das Erkennen der Besonderheiten der Antagonismen, die sich auf der Basis unterschiedlicher Subjektpositionen herausbilden, und damit auch für die Möglichkeit zur Vertiefung einer pluralistischen und demokratischen Konzeption.“ (a. a. O. S. 208) Zweifelsohne gibt es solche Antagonismen. In der marxistischen Literatur wurde nirgends behauptet, dass es nur einen antagonistischen Widerspruch in der Gesellschaft gebe. Strategisch gesehen ist die entscheidende Frage aber, ob diese „fragmentierten Antagonismen“ (wohlgemerkt ohne die antagonistischen Widersprüche zwischen Lohnarbeit und Kapital) einen gesellschaftlichen Systemwechsel erforderlich machen ‒ und auch möglich machen, wenn sie sich gegen den gemeinsamen Feind vereinen. Die beiden Theoretiker des Linkspopulismus Laclau und Mouffe versuchen überhaupt nicht, solch eine Vereinigung zu erreichen, sondern appellieren, dass der Widerstand gegen die herrschende Klasse fragmentiert bleiben solle. Eine Vereinigung auf der Klassenbasis könne für den hoch gelobten Pluralismus nur „schädlich“ sein.
„In einem grundlegenden Sinne ist das Projekt einer radikalen und pluralen Demokratie deshalb nichts anderes als der Kampf um ein Höchstmaß an Autonomisierung“ (a. a. O. S. 209) Das heißt: Jeder „Bereich“ soll für sich kämpfen. Wenn ein gemeinsamer Kampf der sozialen Opposition nicht nötig ist, dann ist es auch nicht nötig, innerhalb einer sozialen Schicht oder Klasse ein gemeinsames Bewusstsein zu entwickeln. Es reiche, in jedem „Bereich“ die eigenen Antagonismen und das diesen Antagonismen umfassende Bewusstsein zu entwickeln. Klassenbewusstsein sei nicht mehr nötig und erforderlich.
Der Linkspopulismus, den Laclau und Mouffe verteidigen, soll für jeden einzelnen sozialen Widerspruch eine autonome Bewegung bilden: „Sobald die Konzeption der Arbeiterklasse als ‚universaler Klasse‘ abgelehnt wird, wird es möglich, die Pluralität von Antagonismen, die auf dem willkürlich unter dem Etikett ‚Arbeiterkämpfe‘ zusammengefassten Feld stattfinden, […] anzuerkennen.“ (ibid.)
Laclau und Mouffe rufen wiederholt dazu auf, dass jede gesellschaftliche Schicht oder Gruppe für sich eine separate und autonome Organisierung schaffen soll. Wie ist es aber mit dem gemeinsamen Kampf gegen die Herrschenden?
Alle halbwegs erfolgreichen populistischen Führer*in wissen: Ihr Erfolg hängt davon ab, möglichst breite Massen hinter sich zu sammeln, indem sie ihre Unzufriedenheit auf ein einheitliches Ziel fokussieren.
Sollen all diese unterschiedlichen Gruppen sich nicht als „das Volk“ gemeinsam artikulieren und Widerstand leisten? Wie soll die Arbeiterklasse sich verhalten? Dazu schreiben Laclau und Mouffe: „Zum Beispiel gibt es keine notwendigen Verbindungen zwischen Antisexismus und Antikapitalismus […]. Daraus folgt, dass eine Konstruktion dieser Antagonismen nur auf der Grundlage separater Kämpfe möglich ist […]“ (a. a. O. S. 221; Hervorhebung S. E.) Als ob sexistisches Verhalten nicht auch ein Produkt der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wäre, unabhängig davon, dass es auch schon vorher existierte!
Laclau präzisiert seine Position in Bezug auf die Arbeiterklasse und die Antagonismen in seinem letzten Buch On Populist Reason folgendermaßen: „(A)uf begrifflicher Ebene bedeutet ‚Arbeiter‘ nur der ‚Verkäufer der Arbeitskraft‘. In diesem Fall bin ich jedoch nicht in der Lage, irgendeinen Antagonismus zu definieren. Um zu behaupten, dass es einen inhärenten Antagonismus gibt, weil der Kapitalist den Mehrwert aus dem Arbeiter herauszieht, ist es eindeutig unzureichend.“ (Laclau 2005, S. 149)
Das ist der entscheidende Punkt in Laclaus Konzept. Wenn zwischen Arbeiter*innen und Kapitalist*innen – also zwischen Lohnarbeit und Kapital – kein antagonistischer Widerspruch existiert, dann ist es auch nicht nötig, dass die Arbeiterklasse und ihre Interessen in dem Kampf um die Hegemonie eine zentrale Rolle spielen. Denn: „Es gibt keinen Grund, warum Kämpfe, die in den Produktionsverhältnissen stattfinden, privilegierte Punkte eines globalen antikapitalistischen Kampfes sein sollten.“ (a. a. O. S. 150)
Die Frage ist, inwieweit ein „Kampf“ als antikapitalistisch bezeichnet werden kann, wenn er die Antagonismen, die sich aus den Produktionsverhältnissen ergeben, außer Acht lässt?
Laclau schreibt: „(E)s ist unmöglich, a priori zu bestimmen, wer die hegemonialen Akteure in diesem Kampf sein werden. Es ist keineswegs klar, dass es die Arbeiter sein werden.“ (ibid. S. 150) Wenn es möglich ist, ohne an den mehrwertproduzierenden Verhältnissen zu rütteln, einen Kampf gegen das Kapital zu führen, dann braucht man in der Tat keine Arbeiterklasse in diesem Kampf. Dann ist der Weg frei für die neuen gesellschaftlichen Subjekte.
Radikale Demokratie
Viele Soziologen und Autoren haben sich mit dem Thema „radikale Demokratie“ beschäftigt, darunter Jacques Rancière, Jacques Derrida, Claude Lefort, Jürgen Habermas, John Rawls und viele andere! Was aber Laclau und Mouffe in Bezug auf radikale Demokratie vorschlagen, unterscheidet sich grundsätzlich. Was für manche der genannten Autoren ein philosophisches Diskussionsthema ist, kommt bei Laclau und Mouffe einem entwickelten Konzept für ein politisches Programm gleich, da sie ihre Vorschläge in ein linkspopulistisches Gesamtkonzept integrieren.
In seinem Buch „On Populist Reason“ schreibt Laclau: „Ein faschistisches Regime kann demokratische Forderungen soweit aufnehmen und artikulieren wie ein liberales [Regime]“ (Laclau 2005, S. 125)
Welches Demokratieverständnis liegt hier vor? In ihrem 2008 in deutscher Sprache erschienenen Buch Das Demokratische Paradox schreibt Mouffe: „Alle signifikanten Siege der Linken waren immer das Ergebnis einer Allianz mit wichtigen Sektoren der Mittelklassen, deren Interessen mit jenen der popularen Sektoren artikuliert wurden.“ (Mouffe 2008, S. 119) Mit „der Linken“ ist offensichtlich die Labour Party (New Labour) unter Tony Blair gemeint. Aber wie kann der Wahlsieg dieser neoliberalen Regierung einen demokratischen Sieg bedeuten? Durch diese „Siege“ wurden keinerlei Machtstrukturen oder Herrschaftsformen angerührt. Um solch eine Meinung zu haben, muss Mouffe unter Macht und Herrschaft etwas ganz anderes verstehen als wir.
„Zur Hauptfrage demokratischer Politik wird […] nicht etwa [die Frage], wie sich Macht eliminieren lässt, sondern wie sich Machtformen konstituieren lassen, die mit demokratischen Werten kompatibel sind.“ Das Projekt, „das wir radikale und plurale Demokratie genannt haben, […] anerkennt, dass die Spezifik moderner pluralistischer Demokratie […] nicht in der Abwesenheit von Herrschaft und Gewalt besteht, sondern in der Etablierung einer Reihe von Institutionen, durch die diese eingegrenzt und herausgefordert werden können.“ (a. a. O. S. 37).
Um also eine radikal demokratische Gesellschaft zu erreichen, brauchen wir erstens die vorhandenen Machtstrukturen des Großkapitals nicht anzutasten, zweitens würde es reichen, eine Reihe von neuen Institutionen zu etablieren! Solch ein politisches Programm zu vertreten, in einer Epoche, in der der Kapitalismus mehr und mehr autoritäre Formen annimmt, ist, gelinde gesagt, eine unentschuldbare Blindheit.
Weiter Mouffe: „Was wir heute brauchen, ist eine Form der ‚post-sozialdemokratischen Politik‘, unter der Bedingung, dass dies keinen Rückfall hinter die Sozialdemokratie bedeutet, zu irgendwelchen prä-sozialdemokratischen, liberalen Vorstellungen, sondern ein Fortschritt hin zu einem radikaleren und pluralistischeren Typus von Demokratie.“ (a. a. O. S. 120) Was bedeutet „post-sozialdemokratische Politik“, die uns zu einer demokratischen und pluralen Gesellschaft beziehungsweise zu einem (so Laclau) „populistischen Sozialismus“ führen soll?
In dem Abschnitt „Ein Neues Linkes Projekt“ in ihrem Buch Das demokratische Paradox konkretisiert Mouffe ihre Vorschläge. Gegen die ungezügelte und destruktive Entwicklung des Kapitalismus schlägt Mouffe „eine Reihe von Maßnahmen“ vor: „(e)ine signifikante Reduktion der legalen und effektiven Arbeitszeit, kombiniert mit einer Politik aktiver Umverteilung unter den Festangestellten.“
Was ist mit den Nicht-Festangestellten, also den unter prekären Bedingungen Arbeitenden? Atypische Beschäftigungsverhältnisse machen in Deutschland bereits 40 % aus. [7] (https://www.boeckler.de/wsi_5859.htm).
Weiter schlägt Mouffe vor: „(d)ie Förderung der massiven Entwicklung vieler non-profit-Aktivitäten durch Genossenschaften, die sowohl mit der privaten als auch der öffentlichen Wirtschaft interagieren, um zum Entstehen einer wirklich pluralistischen Ökonomie beizutragen – anstelle einer reinen Marktökonomie. Das Ende der Stigmatisierung der ärmsten und ausgeschlossenen Gesellschaftssektoren durch Bereitstellung eines bedingungslosen Mindesteinkommens (Grundeinkommens), entweder für jede Person, die über kein Minimum an Rücklagen verfügt, oder ohne Berücksichtigung anderer Einkommen, des Alters, Geschlechts oder Zivilstands. […] Gemeinsam implementiert könnten diese drei Maßnahmenbündel die Basis einer post-sozialdemokratischen Antwort auf den Neoliberalismus darstellen.“ (a. a. O. S. 123)
Hier wird völlig außer Acht gelassen, dass autoritäre politische Tendenzen eine Folge der kapitalistischen Entwicklung sind. Wir erleben heute eine Demontage der Demokratie auf allen Kontinenten. Dagegen kämpft man nicht, indem man eine Interaktion von privater und öffentlicher Wirtschaft fördert. Mit einem Grundeinkommen für alle können weder die Klassenwidersprüche gelöst werden, noch kann damit die Demokratie entwickelt werden. In dem Maßnahmenkatalog von Mouffe fehlt schlicht jeglicher antikapitalistische Aspekt.
Die linkspopulistische Ideologie und Politik mag vielleicht für die Parteien und Organisationen, deren Endziel ein Wahlsieg bei Parlamentswahlen ist, nützlich und akzeptabel sein, aber nicht für die revolutionäre Linke.
Parlamente
In einem Artikel, der vor vier Monaten im Magazin des Rotary Clubs veröffentlicht wurde, finden wir noch konkretere Aussagen von Mouffe: „Die Rolle der Parlamente und Institutionen, die den Bürgern ermöglichen, politische Entscheidungen zu beeinflussen, wurde drastisch reduziert. […] Diese Entwicklung, die bei Weitem keinen Fortschritt hin zu einer reiferen Gesellschaft darstellt, […] untergräbt die Grundfesten unseres westlichen Demokratiemodells, das üblicherweise als ‚liberale Demokratie‘ bezeichnet wird.“ [8]
Es ist sehr zweifelhaft, ob „die Bürger“ überhaupt reale Möglichkeiten haben, die wichtigen politischen Entscheidungen zu beeinflussen. Mitbestimmung wird mehr und mehr aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens entfernt. Das Volk darf über Rauchverbote, über Fahrradwege und Ähnliches mitbestimmen, aber nicht über wichtige politische Themen. In der real existierenden „liberalen Demokratie“ nimmt der politische Einfluss demokratisch nicht legitimierter Gruppen (nicht nur von Lobbyisten) unablässig zu. Das System der „liberalen Demokratie“ lädt solche Gruppen und Managerteams der globalen Konzerne ein, Entscheidungen hinter dem Rücken der Bevölkerung zu beeinflussen. Die Parlamente und Institutionen des parlamentarischen Systems entscheiden „über die Köpfe“ der Bürger*innen hinweg.
Mouffes Äußerungen kommen nicht von ungefähr. In ihrem gemeinsam mit Laclau verfassten Buch heißt es: „Eine linke Alternative [kann] nur aus der Konstruktion eines anderen Äquivalenzensystems bestehen.“
Wie schaut dieses Gleichwertigkeitssystem aus?
„Die Aufgabe der Linken kann […] nicht darin liegen, auf die liberal-demokratische Ideologie zu verzichten, sondern hat sie im Gegenteil in Richtung auf eine radikale und plurale Demokratie zu vertiefen und auszuweiten.“ (Laclau und Mouffe, 2006, S. 219) Und in einem Artikel, der im Jahr 1990 im Socialist Register erschien, schreibt Mouffe: „Unser Verständnis von radikaler und pluraler Demokratie ist […] von vielen anderen Formen radikaler oder partizipativer Demokratie zu unterscheiden. Was wir befürworten, ist eine Art ‚radikale liberale Demokratie‘ wir stellen sie nicht als Ablehnung des liberalen demokratischen Regimes und als Institution einer neuen politischen Form der Gesellschaft dar.“ (Mouffe 1990, S. 58) Deutlicher geht es kaum!
Die Konsequenzen linkspopulistischer Politik
Das Konzept des Linkspopulismus, wie es von Laclau und Mouffe entwickelt wurde und wie es von Podemos und anderen linkspopulistischen Organisationen vertreten wird, verlangt von linken und revolutionären Organisationen eine völlige Umgestaltung ihrer strategischen und programmatischen Ziele.
Das Volk und die Nation: Laclau und Mouffe lehnen ein Klassenkonzept für die Linke ab. Ihre Hauptargumentation gegen ein Klassenkonzept ist die Fragmentierung der Klassen, insbesondere der Arbeiterklasse.
Doch kein wirklicher Marxist hat je behauptet, dass die Arbeiterklasse ein monolithischer und einheitlicher Block sei. Von Marx bis Mandel haben sie immer auf die verschiedenen Schichten und Strukturen hingewiesen (von der Arbeiteraristokratie bis zum Lumpenproletariat).
Aber das ändert nichts daran, dass alle Arbeiter*innen rund um den Globus den gleichen antagonistischen Widersprüchen zwischen Lohnarbeit und Kapital unterworfen sind und die Auswirkungen am eigenen Leib erleben. Genau deswegen ist ein gemeinsamer Kampf der „Proletarier aller Länder“ der beste Weg, gesellschaftliche Änderungen durchzusetzen.
Laclaus und Mouffes alternativer Vorschlag ist „das Volk“. Das Volk soll das Subjekt der gesellschaftlichen Änderungen durch eine linkspopulistische Politik sein. Der Begriff „Volk“ umfasst die gesamte Population in einem Land, die nicht zur regierenden Elite oder der herrschenden „Kaste“ gehört.
Wohlgemerkt: Das Volk ist mit einem bestimmten Land identifizierbar. Jedes Volk gehört zu einem anderen Land. Das deutsche Volk hat mit dem italienischen oder mit dem polnischen Volk nichts zu tun. Jedes Volk hat seine besonderen Eigenschaften, die es von anderen Völkern unterscheidet. Daher kommen die nationalistischen Konzepte und die Orientierung des Linkspopulismus.
Weil nicht die Arbeiterklasse, sondern das Volk das Subjekt der gesellschaftlichen Änderungen ist, ist der Rahmen, in dem das Volk agiert: das nationale Gebiet. Linkspopulistische Organisationen sollen die Opposition klassenübergreifend in ihrem jeweils eigenen nationalen Rahmen bündeln.
Möglicherweise (!) wäre eine nationalistische Herangehensweise in der Zeit der Entstehung der Nationalstaaten in gewisser Weise sinnvoll gewesen, aber sicher nicht in der Epoche der Globalisierung. In einer Zeit, in der die nationalen Grenzen wirtschaftlich kaum eine Bedeutung mehr haben, sollen wir den Kampf gegen den Kapitalismus auf unser eigenes Land begrenzen. Im Globalisierungszeitalter sind die Grenzen nicht mehr zwischen den nationalen Staaten, sondern zwischen den Einflussbereichen der globalen Firmen gezogen. Wo die Arbeiter*innen von verschiedenen Nationalitäten mit den gleichen Kapitalist*innen sich in ähnlichen antagonistischen Widersprüchen befinden, sollen wir den Internationalismus über Bord werfen!
Einheit des Widerstands
Wir haben gesehen, dass die beiden Theoretiker des Linkspopulismus Laclau und Mouffe eine Einheit der Arbeiterklasse ablehnen, weil für sie der vereinende antagonistische Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht mehr existiert. Was ist aber mit der Einheit des Widerstands? Wäre so eine Einheit zumindest innerhalb der oppositionellen Volksgruppen möglich? Nein, nicht mal das sei möglich! Laclau und Mouffe: „Wenn die vielfältigen Subjektpositionen sowie die verschiedenen Antagonismen und Bruchpunkte eine Verschiedenheit und keine Verschiedenartigkeit bilden, ist es klar, dass sie nicht auf einen Punkt zurückgeführt werden können, von dem aus sie alle von einem einzigen Diskurs umfasst und erklärt werden können.“ Dadurch „ist freilich […] die Möglichkeit eines einheitlichen Diskurses der Linken beseitigt.“ (Laclau, Mouffe 2006 S. 236f)
Der entscheidende Punkt für Laclau und Mouffe ist, dass es „ohne Verzicht auf den Diskurs des Universalen“ „keine radikale und plurale Demokratie gibt“. (ibid. S. 237) Es gibt also eine radikale und plurale Demokratie nur dann, wenn wir auf den universalen Diskurs ‒ das heißt etwa: auf den Internationalismus ‒ verzichten. Wenn es in einer bis in den letzten Winkel der globalisierten Welt keinen universalen Diskurs mehr gibt, dann gibt es auch keinen gemeinsamen Widerstand der Unterdrückten mehr. Wir haben aber in der letzten Dekade alle miterlebt, dass der Widerstand der Unterdrückten, in welcher Form auch immer, sich zunehmend globalisierte und nationale Grenzen sprengte (Arabischer Frühling, Occupy Bewegung, Ni Una Menos [Nicht eine weniger], Ökologie-Bewegung, usw.).
Und da raten uns die Populisten, allen voran Mouffe, dass wir [und alle Unterdrückten] uns in unsere nationalen Grenzen zurückziehen sollen.
Resümee
Linkspopulistische Konzepte bedrohen in keiner Weise die ideologische Hegemonie der herrschenden Klasse. Wirtschaftliche und politische Krisen führen nicht zwangsläufig zum Aufkommen populistischer Bewegungen. Sie werden aber dann stärker, wenn linke Organisationen keine überzeugenden ideologischen oder politischen Alternativen anbieten. Das Erstarken linkspopulistischer Organisationen ist Ausdruck eines Einflussverlusts revolutionärer Ideen.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2017 (November/Dezember 2017).[1] Siehe die Buchpräsentation in https://www.versobooks.com/blogs/1578-ernesto-laclau-theorist-of-hegemony
[2] Dieses Buch erschien 1981 auch in deutscher Sprache: Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschismus, Populismus.
[3] Zum Teil begründen sie auch ihre Thesen über die Radikale Demokratie mit Gramsci.
[4] Vgl. Zwei Schriften von Lenin: Was sind die ‘Volksfreunde’ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? und Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve, im besonderen Kapitel II. in: Lenin Werke Bd. 1, S. 119ff. und S. 339ff.
[5] Engels, MEW- Bd. 4, Dietz Verlag, Grundsätze des Kommunismus S. 363
[6] Engels, MEW- Bd.4, Dietz Verlag, Kommunistische Manifest, S. 462 [Anmerkung von Engels zur englischen Ausgabe von 1888]
[7] Siehe: WSI Datenbank – “Atypische Beschäftigung“ (https://www.boeckler.de/wsi_5859.htm)
[8] Rotary Magazin, 5/2017 Siehe: https://rotary.de/gesellschaft/der-populistische-moment-a-10638.html