Eine ideologiekritische Intervention gegen die Instrumentalisierung von Juden, Judentum und der jüdischen Katastrophe
Der Rechtstrend in der westlichen Welt hat bizarre Erscheinungsformen. Linke werden als »Nazis«, jüdische Antifaschisten als »Verräter« diffamiert. Bereits Anfang der 1980er-Jahre klagte der Dichter Erich Fried die Stigmatisierung jüdischer Linker als »rote Antisemiten« durch »Sprecher des Westens« an. Seine von den ersten Verwerfungen des neoliberal radikalisierten Kapitalismus geprägte Gegenwart beschrieb er als »Zeit der Verleumder«. Was damals mit wütenden Polemiken begann, ist heute zu einem Komplex aus Rufmordkampagnen und Sanktionen ausgewachsen, die aus den etablierten Parteien und AfD, von neokonservativen »Antideutschen«, »Antinationalen« und christlichen Fundamentalisten initiiert und von den hegemonialen Medien propagiert werden.
Kritische Juden sind wüstesten Attacken ausgesetzt: Drohungen, vereinzelt sogar Tätlichkeiten, meist aber Beschimpfungen und Herabwürdigungen, wie »Alibi-Jude« und »selbsthassender Jude«, sogar Holocaust-Überlebender und deren Nachkommen, gehören mittlerweile zum politischen Alltag. Die im September von der Deutschen Bundesregierung angenommene groteske Antisemitismus-Definition, mit der so gut wie jede Kritik an Israel, sogar an »nicht-jüdischen Einzelpersonen und/oder deren Eigentum« als Erscheinungsformen von Judenhass gebrandmarkt werden soll, zielt auf eine Kriminalisierung jüdischer Marxisten und anderer kapitalismuskritischer Linker. Die jüngst von deutschen Bürgermeistern und ihren Magistraten auf den Weg gebrachte Verordnung des Entzugs öffentlicher Veranstaltungsräume, durch den offensichtlich ein Redeverbot für jüdische Linke im Täterland exekutiert werden soll, wird den ohnehin in der Berliner Republik fortschreitenden Prozess der Entdemokratisierung und Einschränkung der Meinungsfreiheit beschleunigen.
Wie konnte es so weit kommen? Bereits 1967 hatte Ulrike Meinhof einen Strategiewechsel der Rechten analysiert, der auf die Vereinnahmung der Opfer des Völkermordes an den Juden durch die Täter und deren politische Erben zielt. Von der »Menschlichkeit der Juden« wolle die von den Springer-Medien flankierte deutsche Reaktion nichts wissen. Hingegen berausche sie sich an der unerbittlichen Härte wie an den »Blitzkriegen« der israelischen Armee und zelebriere deren Einmarsch in Jerusalem als »Vorwegnahme einer Parade durchs Brandenburger Tor«, notierte Meinhof. »Hätte man die Juden, statt sie zu vergasen, mit an den Ural genommen, der Zweite Weltkrieg wäre anders ausgegangen, die Fehler der Vergangenheit wurden als solche erkannt, der Antisemitismus bereut, die Läuterung fand statt, der neue deutsche Faschismus hat aus den alten Fehlern gelernt, nicht gegen − mit den Juden führt Antikommunismus zum Sieg.«
Diese düstere Vision ist längst Realität, zumindest ist Israel zur Projektionsfläche und zum Identifikationsmodell für die rechte »bürgerliche Mitte«, Rechtspopulisten, aber auch für transatlantische Faschisten geworden. Rechtsradikale können ungestört mit dem Slogan »AfD schützt Juden vor antisemitischen Migranten! Wir haben Israel schon immer unterstützt!« Wahlkämpfe bestreiten. Heute, wo die ultranationalistische Netanjahu-Regierung den Judenstaat und Palästina in den Abgrund treibt, gilt mehr denn je, was Meinhof damals konstatierte: »Wäre Israel ein sozialistisches Land, kein Zweifel, diese Sympathien gäbe es nicht.«
Wie die von Neocons und anderen Rechten in Großbritannien organisierte und zur regelrechten Hexenjagd eskalierende Hetze in Form von haltlosen Antisemitismusvorwürfen gegen Jeremy Corbyn und seine (jüdischen) Unterstützer zeigt, sind ähnliche dramatische Verschiebungen der politischen Koordinaten international in vollem Gange – offensichtlich, um auch noch den letzten Widerstand gegen Sozialabbau und die zusehends skrupellosere Umverteilung von unten nach oben wie gegen Aufrüstung und imperialistische Aggressionen zu brechen.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders irritierend, dass die Mehrheit der deutschen Linken samt ihren Medien diese verheerende Entwicklung verdrängt, beschweigt – nicht selten sogar gegen jüdische Sozialisten und Kommunisten in Stellung geht. Die Hochkonjunktur dieser Kultur des Opportunismus und Kniefalls vor dem, was die Bundeskanzlerin als »deutsche Staatsräson« definiert hat, ist umso verstörender, je deutlicher sich herauskristallisiert, dass die von oben verordnete »Israelsolidarität« gegen die jüdische Linke ein Epiphänomen einer gewaltigen Regression der Aufarbeitung deutscher Vergangenheit im Dienste »deutscher Normalisierung« ist.
In den 1950er-Jahren wurde das von Konrad Adenauer antisemitisch mit »der Macht der Juden« als unvermeidlich deklarierte »Wiedergutmachungs«-Abkommen von israelischen wie deutschen Kritikern nicht nur als dringend benötigte Aufbauhilfe für den Judenstaat, sondern auch als Persilschein für das post- und dezidiert nicht antifaschistische Deutschland und Freibrief für dessen Wiederbewaffnung und Eintritt in die NATO erkannt. Ende der 1990er haben deutsche Linke noch die schändliche Instrumentalisierung der Opfer der Shoah (die erst durch einen imperialistischen Raubzug gegen Polen und die Sowjetunion geschehen konnte) zum »Argument« für neue deutsche Angriffskriege noch als Tabubruch skandalisiert. Heute indes wird die nur durch eine ideologische Verkleisterung von Judentum, Zionismus, Israel auf der einen und Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an der israelischen Besatzungspolitik auf der anderen Seite mögliche Diskriminierung aller Juden, die sich dieser perfiden Praxis nicht beugen wollen, weitgehend hingenommen.
Als wäre das nicht unerträglich genug: Dieser Verrat an der Emanzipations- und Aufklärungsagenda aller fortschrittlichen Kräfte degradiert nicht nur dissidente Juden zu Bauernopfern. Er bedeutet unweigerlich die Kapitulation vor dem deutschen Großmachtstreben, der bellizistischen Regime-Change-Politik der NATO und dem mörderischen Krieg gegen die Flüchtlinge aus Afrika und Asien. Auf der ideologischen Ebene fördert er irrationale kulturkämpferische bis antisemitische Welterklärungsmodelle, Eliten- und Westliche-Welt-Chauvinismus, Islamhass bis hin zu offenen antimuslimischen Rassismus. Nicht zuletzt sind die mit ihm einhergehende Inflationierung des Antisemitismusvorwurfs und die Entleerung und Verdinglichung des kategorischen Imperativs »Nie wieder!« untrügliche Zeichen der Auflösung linker Fundamentalopposition und der Errungenschaften des Historischen Materialismus.
Das 2017 gegründete Projekt Kritische Aufklärung wird diesen dramatischen Niedergang auf einer ideologiekritischen Konferenz mit Vorträgen und anderen Beiträgen von deutschen und internationalen Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten und Aktivisten analysieren, aufarbeiten und Gegenstrategien diskutieren.
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