von Toros Sarian
In ihrer Regierungserklärung am 21. März kritisierte Merkel mit ungewohnter Deutlichkeit die türkische Invasion in Afrin, es sei „inakzeptabel, was ins Afrin passiert“ und die deutsche Regierung verurteile es „auf das Schärfste“. Heiko Maas ging in seiner ersten Rede als Außenminister ebenfalls auf die türkische Invasion ein und warnte vor einer dauerhaften Besetzung Afrins als Verletzung des Völkerrechts: „Oberste Priorität für uns hat (…) die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der Schutz von Leib und Leben der Zivilbevölkerung in Afrin“, behauptete Maas.
Diese bislang ungewohnt kritischen Äußerungen Merkels und ihres neuen Außenministers könnten eine „schwere diplomatische Verwerfungen auslösen“, stand im Handelsblatt zu lesen. Die Kritik der Bundesregierung wurde zudem als „ein deutliches Zeichen“ an die Türkei gewertet. Berlin habe Ankara die „Grenzen der Akzeptanz“ aufgezeigt.
Es wäre schön, wenn diese Einschätzung zutreffen würde, aber Parallel zu den kritischen Worten im Bundestag wird die seit jeher bekannte Türkei-Politik fortgesetzt und Ankara weiterhin mit Waffen beliefert, die gegen die Zivilbevölkerung in Afrin eingesetzt werden. Gleichzeitig zeigen die anhaltenden Repressionen gegen kurdische Verbände und Aktivisten in Deutschland, dass sich an der Haltung der deutschen Regierung gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung nichts geändert hat. Mit ihrer Kriminalisierungs- und Unterdrückungspolitik ergänzt Berlin den Krieg der türkischen Regierung gegen das kurdische Volk. Die willkürlichen Repressionen gegen kurdische Vereine und politische Aktivisten in Deutschland sind letztendlich eine Kopie der Repressionen in der Türkei. Diese anti-kurdische Politik betreibt die deutsche Regierung bereits seit Jahrzehnten, wobei die deutschen „Sicherheitsbehörden“ eng mit ihren türkischen „Kollegen“ zusammenarbeiten.
Neustes Beispiel für die die anti-kurdische Politik Deutschlands ist die Durchsuchung eines kurdischen Vereins in Hannover. Die Aktion sei „auf gerichtlichen Beschluss erfolgt“ heißt es, aber die genauen Gründe dafür wurden nicht genannt.
Deutschlands „unrühmlichen Rolle“ an der Seite der Türkei
Seit inzwischen über 150 Jahren unterstützt Deutschland die unterdrückerische Politik türkischer Herrscher und Regierungen. Der israelische Militärhistoriker Jehuda L. Wallach hat in seinem Buch „Anatomie einer Militärhilfe – Die preußisch-deutschen Militärmissionen in der Türkei 1835-1919“ sehr ausführlich die enge und umfassende militärische Unterstützung Deutschland für die Türkei dargestellt. Die Kurden waren die ersten Opfer der deutsch-türkischen militärischen Zusammenarbeit: Die erste preußisch-deutsche Militärmission wurde von Helmuth von Moltke geleitet, der als Militärberater der osmanischen Armee Zeuge wurde, wie Tausende von Kurden niedergemetzelt wurden. Der Grund des grausamen Vorgehens war damals derselbe wie heute: die Kurden leisteten Widerstand gegen die türkische Herrschaft. Türkische Truppen gingen mit großer Grausamkeit gegen die aufständischen Kurden vor und verwüsteten die besetzten Dörfer. Über seine Erlebnisse während dieses Feldzugs schrieb Moltke 1838: „Diese Eroberung hat Tausenden nicht bloß Bewaffneten, sondern auch von Wehrlosen, von Weibern und Kindern das Leben gekostet, hat Tausende von Ortschaften zerstört und den Fleiß vieler Jahre nutzlos gemacht“.[1] Der preußische Offizier war schockiert über die Grausamkeit der „Eroberung“ rebellischer Kurdengebiete: „Neben mehreren tausend Stück Vieh kamen heute sechshundert Gefangene an. Die Hälfte sind Weiber mit kleinen Kindern. Dass es aber auch Kinder mit Bajonettstichen gibt, wirft ein trauriges Licht auf die ganze Handlung. Selbst Säuglinge werden vor den Pascha gebracht und ebenso mit fünfzig bis hundert Piaster bezahlt, wie Haufen von abgeschnittenen Ohren und Köpfen. Der schweigende Kummer der Kurden, die laute Verzweiflung der Frauen gewährte einen herzzerreißenden Anblick.“[2] Durch die Berichte Moltkes erhielt die Regierung in Berlin zwar einen Eindruck von der grausamen Vorgehensweise der osmanischen Regierung gegen die Kurden, aber Folgen in den Beziehungen zu den türkischen Herrschern blieben aus. Dass ihre neuen türkischen „Freunden“ ihre kurdischen Untertanen massakrierte, interessierte Berlin nicht.
Später wurden die Armenier Opfer des deutsch-türkischen Bündnisses. Die 1908 an die Macht gelangte, extrem nationalistische Regierung der „Jungtürken“ betrachtete sie als „innere Feinde“ und begann im April 1915 mit ihrer systematischen Deportation und Vernichtung. Es hat sehr lange gedauert, bis der Bundestag 2016 den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Völkern des Osmanischen Reiches anerkannte und zugleich auch die „unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches“ bedauerte, „das als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten und Missionare über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen.“
Deutschland war an allen Verbrechen an Kurden und Armeniern mitschuldig. Die Grausamkeiten der türkischen Truppen an den Kurden bezeugte Moltke 1838; über die Grausamkeiten während des Völkermordes an den Armeniern 1915 sind weitaus mehr deutsche Dokumente vorhanden. Dutzende von deutschen Offizieren, Diplomaten, Mitarbeitern der Bagdad-Bahn und deutschen Einrichtungen in der verbündeten Türkei wurden Zeugen des Völkermordes, dem 1,5 Mio. Armenier zum Opfer fielen. Nun sind erneut die Kurden Opfer des deutsch-türkischen Bündnisses: Heute wird die „Weltöffentlichkeit“ Zeuge, wie die türkische Armee und ihre islamistischen Verbündeten mit deutschen Waffen kurdische Zivilisten massakriert.
Kontinuität deutscher Türkei-Politik
Die Bundesrepublik knüpfte an die „unrühmliche“ Tradition des Kaiserreiches an und setzte die Unterstützung der Türkei fort. Nach dem faschistischen Militärputsch im September 1980 war die „sozial-liberale“ Koalitionsregierung einer der Sponsoren der Militärregierung. Sowohl unter der rot-grünen als auch später unter der CDU geführten Regierungen wurde diese enge „Partnerschaft“ fortgesetzt. Somit spielt es also keine Rolle, welche Koalitionsregierung gerade an der Macht ist; die enge deutsch-türkische Partnerschaft bildete immer eine Konstante deutscher Außenpolitik.
Wenn Merkel im Bundestag die Politik der türkischen Regierung kritisiert, dann ist das pure Heuchelei, denn es war schließlich die Politik ihrer Regierung, die maßgeblich zum Erstarken der Erdogan-Regierung beigetragen hat. Die einst von der rot-grünen Schröder Regierung massiv vorangetriebene Politik eines EU Beitritts der Türkei hat entgegen aller Erwartungen, Hoffnungen, Behauptungen und Prognosen nicht zu einer grundlegenden Demokratisierung der Türkei geführt. Ganz im Gegenteil: Die Türkei hat sich nach Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen immer mehr von den demokratischen Prinzipien der EU entfernt, zu denen sie sich eigentlich verpflichtet hatte. Brüssel und die wichtigen EU-Staaten wie Deutschland haben niemals nennenswerten Druck ausgeübt, um die Umsetzung der vorgesehenen Demokratisierung durchzusetzen und die demokratischen Kräfte in der Türkei zu unterstützen. Die von türkischen Regierungen meisterlich beherrschte Hinhaltetaktik hat sich wieder einmal als erfolgreich erwiesen. Aber vielleicht auch nur deshalb, weil die EU-Staaten sich bereitwillig darauf eingelassen haben. Sie haben jedenfalls mit ihrer Türkei-Politik ihre Glaubwürdigkeit längst verspielt – wenn es denn überhaupt noch Glaubwürdigkeit zu verspielen gab.
Dass die rudimentären Ansätze der Demokratie durch die Erdogan Regierung nach und nach beseitigt werden, ist somit nicht etwas, was erst seit 1-2 Jahren zu beobachten ist. Diejenigen, die heute die Zustände in der Türkei kritisieren, waren – bis auf die Linkspartei – mitverantwortlich dafür, dass es in der Türkei zu den heutigen Verhältnissen gekommen ist. Mitverantwortlich für die Lage in der Türkei sind sowohl die rot-grüne Regierung unter Schröder als auch die folgenden Koalitionsregierungen unter Merkel. Von den Parteien und Politikern, die so lange Zeit die AKP hochgelobt haben – sie wurde zeitweise sogar als die CDU der Türkei betrachtet – sind keine selbstkritischen Worte zu vernehmen.[3]
Deutschland hat weder den Willen noch den Mut der Erdogan-Regierung irgendwelche „Grenzen der Akzeptanz“ zu setzen, insofern wird die Kritik im Bundestag nicht eine „schwere diplomatische Verwerfungen auslösen“. Auch früher hatte es immer wieder türkeikritische Statements deutscher Politiker gegeben: Der ehemalige deutsche Außenminister und jetzige Bundespräsident Steinmeiner hatte im Juli 2017 die Erdogan-Regierung kritisiert und die angeblich schärfere Gangart der deutschen Türkei-Politik gelobt. Steinmeier sagte damals, dass die Entwicklung in der Türkei nicht länger hingenommen werden könne, dies sei schließlich auch eine „Frage der Selbstachtung“ Deutschlands.[4] Doch gibt es überhaupt eine deutsche Selbstachtung? Ein Blick auf die vergangenen 150 Jahre deutscher Türkei-Politik zeigt ganz klar, dass die Frage der Selbstachtung in der deutschen „Realpolitik“ nie eine Rolle gespielt hat. Niemand weiß das besser als die türkische Regierung und die türkische Bevölkerung. Entsprechend nimmt Ankara die Kritik aus Berlin nicht ernst und eine regierungsnahe Zeitung veröffentlichte auf ihrer Titelseite Merkel als Adolf Hitler.
Die Kritik von Merkel und Maas sind somit eher eine leere, verbale Attacke, um bei der von Erdogan genervten deutschen Bevölkerung zu punkten. Den kritischen Worten an die Adresse Erdogans folgten prompt repressive Aktionen gegen Kurden in Deutschland, folgten neue Waffenlieferungen in die Türkei. Ankara wurde so gewissermaßen signalisiert, dass sich an der Haltung Berlins nichts geändert hat – und auch nichts ändern wird. Somit sind die Äußerungen von Merkel und Maas nur ein erneuter Beweis für die grenzenlose Heuchelei deutscher Politik.
Deutsche Waren boykottieren!
Es stellt sich letztendlich die Frage, wie dieser deutschen Politik etwas entgegensetzen können. Alle Appelle an die deutsche Regierung, die Repression gegen Kurden und kurdische Einrichtungen in Deutschland zu beenden, die Türkei dazu zu bewegen, die demokratischen Rechte der Kurden anzuerkennen und den Krieg gegen sie zu beenden, sind bis heute ergebnislos geblieben. Dass mit Appellen und Demonstrationen etwas erreicht werden kann ist nach den bisherigen Erfahrungen eher unwahrscheinlich. Mit Appellen an die „internationale Solidarität“ lassen sich nur sehr marginale Kreise mobilisieren. Welche Möglichkeiten stehen den Kurden also noch offen, um friedlich Druck auf die deutsche Politik auszuüben?
Nach der türkischen Invasion Afrins hat die kurdische Bewegung – wieder einmal – das Mittel des Boykotts gegen die Türkei ins Spiel gebracht. In dem Boykottaufruf der KCK (Komela Ciwakên Kurdistan / Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) heißt es:
„Der größte Schlag, der der Kriegsökonomie versetzt werden kann, ist der Boykott industrieller Produktionsgüter, insbesondere Lebensmittel und Güter des Bau- und Textilgewerbes, die von dem kolonialistischen türkischen Regime und neoliberalen Unternehmen abgesetzt und exportiert werden. (…) Der Boykott sollte nicht nur auf türkische Unternehmen und den türkischen Staat begrenzt bleiben, sondern auch die Produkte ihrer Partnerunternehmen umfassen. Sobald die ausländischen Unternehmen bemerken, dass sie unter den Geschäftsbeziehungen zu türkischen Unternehmen und zum türkischen Staat leiden, werden sie ihre Geschäfte überdenken. (…) In diesem Sinne und aus den dargelegten Gründen rufen wir als KCK die Menschen in allen Teilen Kurdistans, die Nachbarvölker und die Freunde des kurdischen Volkes im Ausland dazu auf, die Konsumgüter aus der Türkei zu boykottieren und keinen Urlaub in der Türkei zu machen.“[5]
Das Mittel des Boykotts könnte aber auch gegen ein anderes Land gerichtet werden, auf dessen Unterstützung sich die türkische Regierung im Kampf gegen die Kurden immer verlassen konnte: Deutschland. Die Auswirkungen einer breiten, gegen Deutschland gerichteten Boykottkampagne könnten größer sein, als gegen die Türkei. Auf nichts reagieren die Deutschen so empfindlich wie auf wirtschaftliche Einbußen. Warum also nicht zu einem Boykott des Landes aufrufen, dass nicht nur die unterdrückerische türkische Politik stützt, sondern bereits seit Jahrzehnten im Exil in Deutschland lebende politische Aktivisten unterdrückt?
Ein Boykott deutscher Waren könnte vor allem in der EU eine große Dimension annehmen, wenn sich außer Kurden auch andere Opfer des deutsch-türkischen Bündnisses oder der deutschen Politik daran beteiligen würden. Somit könnte ein EU-weiter Boykott der deutschen Wirtschaft einen empfindlichen Schaden zufügen. Warum deutsche Äpfel kaufen, wenn auch französische im Angebot sind? Statt ein deutsches, könnte auch ein – oft gleichwertiges und dabei günstigeres – ausländisches Auto gekauft werden. Es wäre nebenbei auch ein Boykott deutscher Autokonzerne, die durch Manipulation der Abgaswerte einen der größten Umweltskandale der Geschichte ausgelöst haben. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, deutsche Produkte zu meiden bzw. sie zu ersetzen, ohne dabei nennenswerte Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.
Die Bundesregierung wird der türkischen Unterdrückungspolitik sicherlich keine „Grenzen der Akzeptanz“ setzen, sie wird weiterhin den Verkauf von Waffen an Ankara erlauben und sie wird die Repression gegen politischen Aktivisten aus der Türkei fortsetzen. Die Hoffnung und Erwartung, dass die altbekannte Türkei-Politik beendet wird, ist illusionär. Deutschland wird seine verhängnisvolle Partnerschaft fortsetzen, wenn nichts dagegen unternommen wird. Der Aufruf der KCK sollte durch eine Boykottkampagne gegen Deutschland ergänzt werden.
Mit Demonstrationen, Appellen und kritischen Reden im Bundestag bislang nichts erreicht wurde; und es ist nicht zu erwarten, dass es in Zukunft anders sein wird. Es ist notwendig, zu überlegen, wie Druck erzeugt werden kann, um zu verhindern, dass mit deutscher Unterstützung weitere Verbrechen stattfinden, die meist in kurzer Zeit vergessen werden. Wer erinnert sich noch daran, was vor 30 Jahren Halabdscha, in Irak-Kurdistan passiert ist? Es waren deutsche Firmen, die das Saddam-Regime in die Lage versetzt hatten, das Giftgas herzustellen, das im März 1988 in Halabdscha gegen Kurden eingesetzt wurde: „Diskrete Firmen wie die Karl Kolb KG und ihre Schwester Pilot Plant aus dem hessischen Dreieich etwa. Oder das Hamburger Unternehmen W.E.T. (Water Engineering Trading). Firmen mit solch harmlosen Namen hatten den Irak seit Anfang der achtziger Jahre Anlagen und Zubehör geliefert, mit denen chemische Kampfstoffe produziert werden konnten. Zwischen 1982 und 1988 lieferten deutsche Firmen einer Studie zufolge Waffen im Wert von 625 Millionen Dollar. Die Unterstützung Husseins war politisch gewollt“.[6]
Es ist höchste Zeit, dass die deutsche Unterstützung für verbrecherische Staaten endlich beendet wird. Wenn die „demokratische Öffentlichkeit“ und die „Linke“ sich als unfähig erweist, in diesem Sinne aktiv zu werden und etwas zu erreichen, dann trägt sie auch einen gewissen Anteil an der deutschen Mitschuld.
Quelle: spyurk.de
[1] https://www.welt.de/print-welt/article406646/Die-Kurden-sind-die-Verlierer-der-modernen-Geschichte.html
[2] http://www.zeit.de/1992/16/oft-besiegt-nie-unterworfen
[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei-erdogans-partei-will-die-cdu-der-tuerkei-sein-1196313.html
[4] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/frank-walter-steinmeier-erdogan-versucht-das-land-auf-sich-zuzuschneiden-a-1159277.html
[5] https://anfdeutsch.com/aktuelles/kck-ruft-zum-boykott-tuerkischer-waren-auf-2777
[6] http://www.spiegel.de/einestages/giftgasangriff-auf-halabdscha-1988-a-951065.html