Die Präsidentenwahl birgt viele Gefahren für die demokratischen Kräfte in sich. Die größte Gefahr geht aber von den Linksliberalen aus, die zu Beginn der Erdogan-Ära, im Glauben, dass dieser demokratische Reformen bringen würde – nach dem Motto “es reicht zwar nicht, aber Ok“ – ihre Zustimmung ausgesprochen hatten. Genauso wie damals, machen sie sich jetzt für ein breites Bündnis stark, dabei vergessen sie aber, dass solche Bündnisse bislang immer zu Lasten der demokratischen Kräfte gingen. Jedesmal wenn die Sozialdemokraten (CHP) ein breites Bündnis mit Nationalisten und Islamisten eingegangen sind, bezahlte die Bevölkerung und insbesondere die Sozialisten die Zeche.
Es gibt viele Beispiele in der Geschichte der Türkei, wer von Bündnissen profitiert hat. Die Hoffnung rechte Wähler nach “links“ zu ziehen erfüllte sich nie, im Gegenteil, die Bevölkerung rutschte Stück für Stück nach rechst. Es waren immer die Rechten, die von den demokratischen Forderungen der Sozialdemokraten profitierten. Vor allem die anti-Kurdische Haltung der Sozialdemokraten (CHP) und der Linksliberalen verstärkte die zunehmende nationalistische, islamische Gesinnung.
Mit all diesen Erfahrungen treten genau diese Herrschaften nun wieder auf den Plan und schlagen sogar einen Islamisten – Abdullah Gül – als Präsidentschaftskandidaten für das breite Bündnis vor. Hauptsache gegen Erdogan. Über die möglichen Konsequenzen dieser Haltung, will momentan niemand nachdenken.
Bei der letzen Präsidentenwahl hatte die CHP den islamistisch/nationalen Ekmeleddin Ihsanoglu von der Nationalistischen Partei (MHP) als ihren Kandidaten gegen Erdogan nominiert. Auch damals ging man ein Bündnis ein und verlor. Die Folge dieser Entscheidung: die MHP wurde zum Handlanger Erdogans und eine Art Ersatzreifen der AKP. Beide Parteien haben alle neuen Gesetze gemeinsam durch das Parlament gebracht und standen in allen Belangen hinter Erdogan: Verlängerung des Ausnahmezustands, erlassene Dekrete, die Afrin Operation und letztlich die Änderung des Wahlgesetzes zu Gunsten von Erdogan.
Obwohl sich die CHP gegen die Verlängerung des Ausnamezustands und erlassene Dekrete ausgesprochen hatte, stand sie aber hinter Erdogan, wenn es gegen Kurden ging (Afrin Operation). Die Haltung der Linksliberalen ist mehr oder weniger gleich.
Die nun vorgezogene Wahl ist ein Zeichen dafür, dass die massiven Probleme des Staates weder von Erdogan noch von seinem möglichen Nachfolger gelöst werden können. Die Bemühungen beider Seiten ein möglichst breites Bündnis zu bilden, brachten gerade die Parteien/Menschen zusammen, die sich normalerweise bekämpft haben. Aber beide Seiten haben doch einige Gemeinsamkeiten, sie sind anti-kurdisch, halten dem tiefen Staat die Treue und signalisieren dem Westen, dass sie Streiks der Arbeiter und Proteste der Massen nicht zulassen werden.
Die Umstrukturierung der Parteien, (zwei Bündnisse = zwei Parteiensystem) soll auf jeden Fall durchgezogen und die kurdische HDP herausgehalten werden. Die seit Jahren andauernde anti-kurdische Zusammenarbeit zwischen AKP, CHP und MHP scheint die Vorbereitung dieses Plans zu sein.
Es ist keine Wahl wie jede andere, es ist ein Regimewechsel.
Was mit dem Referendum vor einem Jahr beschlossen wurde, nämlich die Machtkonzentration per “ein Mann Diktatur“, wird endgültig besiegelt – egal wer der Wahl gewinnt:
Der Präsident
kann das Parlament auflösen;
kann neue Wahlen anordnen;
verfügt allein über Justiz, Polizei, Armee, Geheimdienste;
kann Parteien verbieten;
kann Streiks verbieten;
kann Kriege ohne Zustimmung des Parlaments führen usw…
In so einer Situation bedeutet ein Bündnis mit Islamisten und Nationalisten mit einem nationalistischen/islamitischen Kandidaten:
Kurden werden komplett von dem Prozess ausgeschlossen;
Neo-Liberale Politiken werden ohne Widerstand, auf Kosten der Bevölkerung durchgesetzt;
für die Verbrechen der AKP wird niemand zur Rechenschaft gezogen werden;
Nationalisten und Islamisten werden verstärkt hoffähig gemacht;
es werden nur zwei Blockparteien überleben;
Menschenrechte, Arbeitsrecht, Rechte von Minderheiten werden stark eingeschränkt.
Nach den letzten Prognosen bekommt das AKP-MHP Bündnis nur noch 297 von 600 Abgeordneten, somit verfügt das breite Bündnis im Parlament über die Mehrheit. Nur ist das bei den Befugnissen des Präsidenten ein Witz.
Die AKP hat ihren Kandidaten – Erdogan, die neue Ultra-Nationalistische IYI Partei hat Meral Aksener, die kurdische HDP hat Selahattin Demirtas (der sich im Gefängnis befindet) nominiert, die CHP hat bislang keinen Kandidaten bekannt gegeben. Im ersten Wahlgang werden Parlament und Präsident gewählt. Vermutlich wird keiner der Präsidentschaftskandidaten die Wahl im ersten Wahlgang für sich entscheiden.
Somit wird es zwischen den ersten zwei Kandidaten, mit den meisten Stimmen, zu einer Stichwahl kommen.
Man kann davon ausgehen, dass Erdogan einer dieser beiden Kandidaten der Stichwahl sein wird. Viel wichtiger ist aber wer der zweite Kandidat sein wird! In Frage kommen der Kandidat der CHP (noch nicht nominiert) , Meral Aksener von der IYI Partei und Selahattin Dermitas von der HDP.
Demirtas kann nur auf die Stimmen der Kurden sowie auf Teile der Linken und Demokraten zählen. Die Wahl eines kurdischen Präsidenten ist jedoch aufgrund der derzeitigen islamistisch-nationalistischen Gesinnungslage nicht realistisch.
Deshalb ist die Auswahl des Kandidaten des breiten Bündnisses unter CHP Führung von großer Bedeutung. Kein Rechter, kein Islamist, kein Nationalist – ansonsten werden die Kurden nicht für diesen Kandidaten stimmen. Andererseits ist es sehr fraglich, ob die Islamisten und Nationalisten einen, von den Kurden unterstützten, Kandidaten des breiten Bündnisses wählen würden.
Den ehemaligen Staatspräsidenten Gül oder ähnliche Personen zum Kandidaten des Bündnisses zu nominieren, wie von einigen Linksliberalen vorgeschlagen, wäre eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Dies wäre vergleichbar mit den Kandidaten der letzten Präsidentschaftswahl in Frankreich – Macron und Le Pen.
Der Gründer der MHP (nationalistische Partei), Alparslan Türkes sagte nach dem Militärputsch 1980 vor Gericht. „Wir sind im Gefängnis, aber unsere Ideen sind an der Macht“. Nun sind die Gedanken seiner Nachfolger an der Macht.
Die Linksliberalen und einige von der CHP scheinen nicht aus der Geschichte gelernt zu haben, sie träumen immer noch davon Stimmen von Rechts fangen zu können.
Wie gehabt – vor der Wahl ist nach der Wahl….und nach der Wahl ist vor der Wahl…
Bild: SELÇUK DEMİREL,
Verfasst für Freiesicht.org