In Argentinien hing die Durchsetzung von Arbeitsrechten immer eng mit den weltwirtschaftlichen Konjunkturen zusammen. Die selbstorganisierten Proteste zeitigten dabei einige Erfolge. Vieles davon steht aber durch den Zugriff des Staates auf die Gewerkschaften und den internationalen Konkurrenzdruck wieder auf dem Spiel.
So fern und doch so nah: Argentinien übernahm den G20-Vorsitz direkt von Deutschland und richtet Ende November das nächste Gipfeltreffen aus. Die dortige Regierung hängt einer »argentinischen Illusion« an, wie Gaby Weber ihren neuen Dokumentarfilm untertitelt: dem »Traum von der Ersten Welt«. Einfach modern und kapitalfreundlich zu sein ändert nichts an der katastrophalen Verschuldung und an der Abhängigkeit von der Willkür dessen, was so harmlos »Welthandel« genannt wird. Dabei sah es für Argentinien schon einmal besser aus.
Durch Masseneinwanderung spanischer, italienischer und polnischer Arbeitskräfte startete Argentinien mit stark vergrößerter Bevölkerung in nagelneuen Großstädten ins 20. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot sich die Chance, in die Weltmarktlücken vorzustoßen, welche die Kapitalvernichtung des totalen Krieges aufgerissen hatte. Die wachsenden Gewinne aus der Agrarproduktion in diesem kurzen ,Window of Opportunity‘ nutzte General Juan Perón, gewählter Präsident der »Republik der Massen« (so der Historiker J.L. Romero). Er stieß eine mehrstufige Industrialisierung, die von Verstaatlichung und dem Ausbau der Infrastruktur flankiert war, hin zur von ihm propagierten »ökonomischen Unabhängigkeit« an.
Peróns Erpressung
Gleichzeitig stellte Perón die Arbeitskräfte, die sich in mächtigen anarchistischen und kommunistischen Organisationen lautstark bemerkbar gemacht hatten, nicht nur ruhig – er brachte sie mit beispiellosen Zugeständnissen massenhaft begeistert hinter sich: bezahlter Urlaub, Jahresendprämie, bessere Arbeitsbedingungen, Versicherung gegen Unfälle, kürzere Arbeitszeiten, Mindestlohn, Gesundheitsversorgung, Preiskontrolle für Lebensmittel und Mieten sowie als teuerstes und wichtigstes Herzstück die Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung.
Der Preis dafür war, dass nur die von Peróns Gewerkschaften Erfassten in den Genuss der meisten Leistungen kamen. Zuerst waren das die ArbeitsmigrantInnen aus der Provinz und den Nachbarländern Bolivien und Paraguay. Die Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder wuchs im Zuge dieser veritablen Erpressung sowie der brutalen Zerschlagung jeder Selbstorganisation auf zeitweise über 80 Prozent der Klasse an. Dieses vorübergehend erfolgreiche Modell autoritärer Verstaatlichung des Klassenkampfes bescherte einer großen Mehrheit nicht nur die geforderte »genuine Arbeit«, die zum Lebensunterhalt reicht, sondern einen der damals höchsten Lebensstandards weltweit. Das rächte sich jedoch, als seine Grundlagen, vor allem die begonnene Industrialisierung durch Umleitung der Agrogewinne, nach Peróns Sturz wieder beseitigt werden sollten. Während die selbstorganisierten Arbeitskämpfe sich ab Ende der 1960er Jahre erneut radikalisierten und auch der Peronismus diese nicht mehr bändigen konnte, agierten die Gewerkschaften immer mehr als staatliches Durchsetzungsorgan. Sie wurden schließlich integraler Teil der mörderischen Militärdiktatur ab 1976, die sich nicht zuletzt gegen die Reste der ArbeiterInnenselbstorganisation wandte, in enger Abstimmung mit Unternehmen wie Mercedes-Benz.
Neoliberal bis zum Staatsbankrott
Als »Musterland des IWF« zerstörte Argentinien während der Zeit der Militärdiktatur die eigene industrielle Infrastruktur, halbierte die Reallöhne nahezu und setzte die Privatisierungspolitik des Ausverkaufs auch nach der Wiedereinführung des Parlamentarismus 1983 bis zum Staatsbankrott fort. Immer weiter greifende Privatisierungen von Staatsbetrieben erzeugten Massen von Erwerbslosen, die ab Mitte der 1990er Jahre mit Straßenblockaden (piquetes) eine Protestform etablierten, die Ende der 1990er von den sozial schon stärker Abgehängten unter dem Schlachtruf »Piqueteros, carajo!« aufgegriffen und zur Massenbewegung ausgeweitet wurden. Sie verband sich im Dezember 2001 mit den Kochtopfprotesten (cacerolazos) der städtischen ‚Mittelklasse‘, deren Bankkonten soeben eingefroren worden waren, zum wütenden Aufstand Hunderttausender, der innerhalb einer Woche fünf Präsidenten aus dem Amt jagte.
Das Resultat war ein peronistisches Revival unter den Kirchner-Regierungen von 2003 bis 2015. Sie nutzten die vorübergehende wirtschaftliche Erholung für sparsame Sozialmaßnahmen und verstanden es, die Protestbewegungen für sich einzuspannen. Die Piqueteros wurden zu Arbeitsbeschaffungsprojekten angeregt, die dann aber meist ohne ausreichende Finanzierung an ihnen hängen blieben. Die fürs Kapital bedrohlichen kollektiven Aneignungen, vor allem die instandbesetzten Betriebe, wurden verschaukelt, erpresst und teilweise in einen Do-it-yourself-Billiglohnsektor verwandelt. Immer versuchte der Kirchnerismus, der Selbstorganisation zuvorzukommen – diese sollte stabilisierend wirksam werden, nicht aber selbstermächtigend. Es ergab sich ein klassisch abgestuftes Bestechungssystem mit unterschiedlichen Zugeständnissen.
Der neue liberalkonservative Präsident Mauricio Macri versucht nun, ausländisches Kapital – gerade auch deutsches – mit sozialem Kahlschlag und Repression gegen widerspenstige Arbeitskräfte anzulocken. Die informellen Arbeitskräfte, viele aus anderen südamerikanischen Ländern, sind durch die Einführung einer neuen Migrationskontrolle zur Anpassung an die ‚Erste Welt‘ direkt betroffen, und ebenso von der weitgehenden Straffreiheit der Staatsgewalt bei ihren immer wieder tödlichen Einsätzen in den Armenvierteln. Die Massenproteste gegen Entlassungen und Kürzungen, am heftigsten die ‚Rentenreform‘, sind auch für diese Arbeitskräfte relevant, aber nicht entscheidend. Bei den regulär Beschäftigten, besonders den Gewerkschaftsmitgliedern, verhält es sich genau umgekehrt: Um ihre Arbeitsplätze und Rentenansprüche geht es dabei ganz konkret, während Polizeigewalt und Migrationskontrolle sie weniger betreffen, sie diese viel zu oft sogar gutheißen.
Die revolutionär-sozialistischen Parteien, die als Linksfront FIT zu nationalen Wahlen antreten, sind die wichtigste nicht-peronistische linke Kraft. Sie sind im Parlament vertreten und erreichen die verschiedenen Sektoren gleichermaßen, vertreten deren Anliegen aber unterschiedlich stark. Bei den Massenprotesten gegen die Sparpolitik waren sie geschlossen zu Zehntausenden beteiligt und überproportional von der Repression betroffen. Auch bei den großen Frauenprotesten gegen Feminizide und die reaktionäre Abtreibungsgesetzgebung sind sie massenhaft vertreten. Die Straßenblockaden der Piqueteros und die Proteste gegen die Migrationskontrolle bestreitet von ihnen aber nur die Erwerbslosenorganisation Polo Obrero, allein oder mit schwacher und fluider linksperonistischer und linksliberaler Unterstützung.
Kämpfe zusammenführen
In Argentinien wird sichtbar, wie sehr die Lage der Arbeitskräfte von ihren Kämpfen sowie der Auswahl der politischen Verbündeten abhängt. Der häufigste Satz aus den instandbesetzten Betrieben, »Alles, was wir haben, mussten wir uns erkämpfen«, gilt für die gesamte arbeitende Klasse: Sozialversicherungen, öffentliche Einrichtungen oder Arbeitsrechte, ja die ganze ‚Freiheit‘ der Wahl des Ausbeutungsplatzes – alles wurde in Protesten, Streiks, Aufständen und Revolutionen der Herrschaft abgetrotzt. Und es steht jederzeit wieder auf dem Spiel.
Im Abgleich mit hiesigen Verhältnissen stellen sich trotz der Unterschiede – erheblich längere Arbeitszeiten, offener zutage liegender Klassenkonflikt, größere Armut – durchaus ähnliche Fragen: Wie weit lässt sich der Krisendruck auf wen abwälzen? Welche Belohnungen verspricht die Nation, welche Ängste schürt der Staat? Mit welcher Aussicht und auf welcher Grundlage entschließen sich die Arbeitskräfte zum Widerstand, der allein Staat und Kapital entzaubern kann? Wie lassen sich die Kämpfe um G20, Migration und Nation länderübergreifend verbinden? Wie entkommen die Arbeitskräfte den verhängnisvollen Bündnissen mit denen, die ihnen jede erstrittene Macht sogleich wieder entreißen?
Daniel Kulla ist Buchautor, Übersetzer und Vortragsreisender zu Ideologie, Rausch, Lust und Klassenkampf und bloggt auf classless.org. Er veröffentlichte 2015 die deutsche Fassung von »Sin Patrón« über instandbesetzte Betriebe in Argentinien.
(07.05.2018)
Quelle: https://www.linksnet.de/artikel/47450