In der Bundesrepublik Deutschland wird 10% der Einwohner seit Jahren das Wahlrecht verweigert. In der Presse und in der Politik hört man immer wieder über das falsche Wahlverhalten der aus der Türkei stammenden WählerInnen. Dabei wird überhaupt nicht erwähnt, dass sie zum ersten Mal wählen durften, weil Erdogan ihnen erstmals das Wahlrecht ermöglicht hat.
Einer der Kritikpunkte ist „wie können sie in einem demokratischen Land leben und sich für eine autoritäre Politik entscheiden?“.
Ja, die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratisches Land, aber mit Handicap. 10% der Einwohner dürfen bei politischen Entscheidungen nicht partizipieren. Nicht bei Bundestagswahlen, nicht bei Kommunalwahlen, nicht Mal bei Volksentscheiden.
Dass diese Situation nirgendwo auf der politischen Agenda steht, ist ein großes Defizit des Demokratieverständnisses der WahlbürgerInnen dieses Landes.
Menschen die ihr Leben hier verbracht haben, aber bei unmittelbaren Entscheidungen über ihr eigenes Leben nie mitbestimmen konnten, können mit dem Wort „Demokratie“ wenig assoziieren.
Mindestens formal gleiche Rechte wären angebracht, um ein Land als demokratisch zu bezeichnen. Nicht weil alle EinwohnerInnen automatisch auch gleiche Rechte genießen könnten. Das wissen die Menschen aus Ihrem eigenen Leben, dass das nicht so ist. Sonnst gäbe es keine Frauenbewegung, keine Anti-Rassismus Bewegung, keine ArbeiterInnen Bewegung.
Müsste ein demokratischer Staat nicht eigentlich Qualitätskriterien entwickeln und fortlaufend überprüfen, ob sie auch die eigenen Demokratiekriterien erfüllen und diesen gerecht werden?
Wenn dem so wäre, könnten sich der einzelne Mensch annähernd als gleichberechtigte Bürger fühlen und auch so verhalten.
Jede/r UreinwohnerIn dieses Landes fühlt sich besser als eine MigrantIn und fordert auch mehr offizielle Privilegien für sich und benimmt sich entsprechend. Warum? Weil sie wissen, dass sie sowohl formell als auch informell mehr Rechte haben.
Solange diese Situation nicht behoben wird, sollte sich die Bundesrepublik Deutschland als eine unvollständige Demokratie bezeichnen, ihre UreinwohnerInnen als unvollständige DemokratInnen.
Demnächst wird wieder in der Türkei gewählt; statt sich mit dem Wahlverhalten der aus der Türkei stammenden EinwohnerInnen der BRD zu beschäftigen, sollte die Presse sich lieber mit dem Demokratiedefizit dieses Landes beschäftigen und darüber diskutieren, wie lange noch das Land 10% der EinwohnerInnen die politische Mitbestimmung verweigern will und somit sicherlich dazu beiträgt, dass die UreinwohnerInnen ihre latenten rassistischen Einstellungen in der AFD besser bündeln können.
Verfasst für freiesicht.org