Die türkische Regierung hat die Verwaltung übernommen und die Gestaltungsmacht im syrischen Nordwesten: Zwischenergebnis ist ein Gebiet mit wenig Sicherheit für die Zivilbevölkerung und einem „hohem Grad an Gewaltkriminalität“
Die Herrschaftsgebiete des Sultans Erdogan zeichnen sich nicht dadurch aus, das dort besonders auf Menschenrechte geachtet würde, eher ist das Gegenteil der Fall. Auffällig wird das nun auch, wie erwartet, in Afrin. Nun könnte man einwenden, dass Afrin in Syrien liegt, in einer Kriegszone also und Menschenrechte in solchen Gebieten ohnehin wenig respektiert werden.
Allerdings zeichnete sich Afrin im Nordwesten Syriens als Gebiet aus, in dem es gelungen war, im syrischen Krieg eine Art friedlicher Oase zu erhalten – bis Erdogan Ende Januar dieses Jahres mit der Operation „Olivenzweig“, für deren Benennung ihm und seinem Militärkommando ein George-Orwell-Preis zusteht, die Verhältnisse völlig veränderte: aus der Sicht der Zivilbevölkerung nicht zum Besseren.
„Schwere Bedenken“
Zum Stand der Dinge in Afrin meldet das OHCHR in seinem Juni-Monatsreport „schwere Bedenken“, was die Sicherheit und das Wohlergehen der Zivilbevölkerung angeht, einen „hohem Grad an Gewaltkriminalität“, Diebstähle, Plünderungen, Entführungen, Misshandlungen und Morde; kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Milizen, deren Schießereien auch Zivilisten verletzen oder töten; Vertreibungen, Enteignungen und Diskriminierungen sowie Einschränkung der Bewegungsfreiheit, was besonders für Erkrankte zu größeren Schwierigkeiten führt.
Dass eine Anzahl der Milizenmitglieder, die in Afrin operieren, laut Aussagen von Zivilisten gegenüber der UN-Behörde, „in der Gegend bekannten Kriminelle, Schmuggler und Drogenhändler“ sind und die Spannungen zwischen Milizen noch weiter durch die Ankunft von zusätzlichen Kämpfern der Ost-Ghouta-Milizen Failaq ar-Rahman und Jaish al-Islam sowie deren Familien verschärft wurden, liegt in der Verantwortung der türkischen Regierung.
Die Verwaltung übernommen
Diese hat, wie der Bericht zu Anfang ausführt, unbemerkt von der großen Öffentlichkeit die Verwaltung des syrischen(!) Distrikts übernommen. Was das OHCHR zur türkischen Administration jenseits der Grenze berichtet, reicht sehr nah an die Realisierung neo-osmanischer Träume (siehe: Ist Afrin jetzt Teil der türkischen Provinz Antakya?).
Die existierende lokale Regierungsstruktur wurde von einem lokalen Rat übernommen, der von der Türkei geschaffen wurde und „Rettungsrat von Afrin“ genannt wird. Eine lokale Zivilpolizei, ausgebildet und ausgestattet von der Türkei, wird in der Stadt Afrin eingesetzt. (…). Ein syrischer Staatsbürger wurde von türkischen Vertretern zum Richter für Afrin bestellt. Diese Person soll Afrin von der Türkei aus regelmäßig besuchen.
Er hat aus Sicherheitsgründen seinen Sitz nicht in Afrin. Die Aufsicht über die Regierungsstrukturen wird von der Türkei ausgeübt. Zwei türkische Staatsbürger haben vom Gouverneur (Wali) des türkischen Distrikts Hatay die Aufgabe bekommen, als Gouverneur (Wali) in Afrin zu fungieren und ihm Bericht zu erstatten. Die beiden Walis besuchen Afrin abwechselnd, jeder an einem Tag, und erstatten dann im türkischen Hatay Bericht.
OHCHR-Bericht
Ergänzt wird das Bild einer „Umstrukturierung“ des syrischen Distrikts unter türkischer Leitung von Berichten, wonach Geflüchtete aus dem Süden Syriens, die meist Araber sind, von bewaffneten Gruppen in Wohnungen oder Häuser von Kurden untergebracht werden, die ihrerseits während der Operation „Olivenzweig“ geflohen sind.
„Viele der Zurückkehrenden“, so heißt es im OHCHR-Bericht, hätten ihr früheres Zuhause von Milizenkämpfern aus Ost-Ghouta, Homs und Hama sowie deren Familien besetzt vorgefunden und wenig Erfolg damit gehabt, ihre Wohnung wieder zu bekommen.
Dazu wird auch von „amtlichen“ Enteignungen berichtet, die im Fall von Kurden damit begründet werden, dass die Eigentümer in Verbindung mit der YPG standen oder stehen.
Mit dieser Art der Anklage – Verbindung zur YPG und damit zur PKK – , die im großen Maßstab auch in der Türkei für Verhaftungen, Existenzvernichtungen und gravierende Menschenrechtsverletzungen sorgen kann, werden auch in Afrin Menschen verschleppt, um entweder zu verschwinden oder vor Sharia-Gerichte gebracht zu werden, wie dies der Bericht für allerdings nur einen Fall meldet.
Auseinandersetzungen zwischen Milizen
Bemerkenswert ist, dass der OHCHR-Bericht an dieser Stelle anmerkt, dass manche Kurden zuvor, unter PYD-Verwaltung, zur Wehrpflicht in Kampfeinheiten gezwungen waren, und da sie folglich mit der YPG gekämpft haben, nun im Visier der türkischen Militärs und der Milizen stehen.
An Milizen die die Herrschaft der Türkei in Afrin aufrechterhalten, in dem sie gegen die Bevölkerung vorgehen wie auch gegen kritische Journalisten, werden genannt die eng mit Dschihadisten verquickte Ahrar al-Sharqija und Ahrar al-Shamal, die gegen kritische Berichterstattung nicht gerade zimperlich vorgeht. Kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen Zivilisten nicht geschont werden, werden gemeldet zwischen Ahrar al-Sharqija und Ahrar al-Sham; Diebstähle, Plünderungen, Grausamkeiten und Kampfhandlungen von der Sultan Murad Division, einer Miliz mit vielen Turkmenen, und der Hamza-Miliz.
Schaut man sich vor diesem Hintergrund die Karte im benachbarten Idlib an, wo die Herrschaftsbereiche der unterschiedlichen Milizen verzeichnet sind, wie sie in diesem Artikel zu finden ist, so zeigt das die großen Schwierigkeiten an, mit denen die türkische Regierung weiterhin zu tun bekommt. Sie gilt Syrien, Russland und Iran als Garantiemacht der bewaffneten Opposition …
An der gegenwärtigen Situation in Afrin bestätigt sich erneut, dass die „Rebellen“-Herrschaft für Zivilisten keine unbedingt erstrebenswerte Option ist und dass anderseits die kurdische Selbstverwaltung, wie sich vor dem Einmarsch der Milizen unter türkischer Führung zeigte, demgegenüber die Möglichkeit eines besseren Zusammenlebens vorführte.
Quelle: heise.de