Ich schreibe E-Mails, aber die Benutzung von Smartphones ist mir zu kompliziert», sagte Samir Amin vor etwa einem Jahr in seinem letzten Interview mit dieser Zeitung. Entsprechend blickte er demonstrativ gelassen auf die «Digitalisierung» überhaupt, die ja im Allgemeinen als absoluter Bruch zu einem ganz neuen Modus des Sozialen theoretisiert wird: «Solche Erfindungen sind wichtig, aber es wurden immer schon Sachen erfunden. Das sollte man in der gegenwärtigen Diskussion im Kopf behalten. Deswegen glaube ich auch nicht, dass die Digitalisierung das wichtigste Charakteristikum der heutigen Zeit ist.»
Diese heute fast schon provozierend klingende Distanz zu den aufgeregten «2.0»- bis «4.0.»-Debatten zwischen Los Angeles und Berlin mag auch mit Amins langjährigem akademischen Standort zu tun haben: Von der senegalesischen Hauptstadt Dakar aus gesehen – wo neben einer heute kriselnden Textilwirtschaft klassische Branchen wie die Nahrungsmittel-, die Kunststoff- sowie die Holzindustrie prägend sind und eine Ölraffinerie nebst Überseehafen wie symbolisch auf die chronisch asymmetrische Einbindung afrikanischer Staaten in die sogenannte Weltwirtschaft hinweist -, liegen derlei techno-utopistische Fantasien der «Disruption» wohl etwas ferner.
Nichtsdestotrotz war der 1930 geborene Intellektuelle alten Schlages, Sohn eines ägyptisch-französischen Medizinerpaars, durchaus «im Netz». So gibt es einen Twitteraccount und ein zumindest in seinem Namen betriebenes Facebook-Profil, über das bis 2016 regelmäßig «Notizen» Amins zu Fragen der internationalen Politik veröffentlicht wurden. Diese Kommentare, Entwürfe und Fragmente geben einen Zugang zum Denken des Samir Amin – sowohl, was ganz konkrete Konflikte angeht, als auch hinsichtlich eher langfristiger politischer Strategien. Deutlich wird dort, wie genau sich Samir Amin im Allgemeinen stets und ausdrücklich als «Antiimperialist» verstand – und dass er darin stets unbeirrt blieb.
So zog er, der nach der Jahrtausendwende zunächst ein Protagonist der Weltsozialforums-Bewegung war, sich nach dem 2016 in Kanada stattgefundenen Treffen aus diesem Format mit geharnischter Kritik zurück: Es sei zu einer «imperialistischen Maskerade» verkommen, maßgeblich finanziert von «CIA-unterstützten Institutionen wie Ford- und Rockefeller-Stiftung». Die israelische Politik in den besetzten Gebieten sowie die Blockade von Gaza hat er stets scharf kritisiert, die als Demokratieexport bemäntelten «Regime-Change-Kriege», wozu er ausdrücklich auch den syrischen Konflikt zählte, ohnehin. Das Weltbild, das sich Amin seit seiner Pariser Studienzeit erarbeitet hat, während der er als Mitherausgeber der Zeitschrift «Étudiants Anticolonialistes» der Dekolonisierung ein theoretisches Organ gab, lässt sich komprimiert in seinem 2003 erschienenen Buch nachlesen, dessen Titel mit «Der liberale Virus» zu übersetzen wäre – das aber, wie die allermeisten seiner Dutzenden Schriften, nie auf Deutsch erschienen ist. In diesem Buch geht es nicht nur um eine geopolitische oder machttechnische Rekonstruktion der US-amerikanischen Suprematie, sondern auch um die Frage, wie sich deren Ideologie zur Tradition der europäischen Aufklärung verhält.
Als demgegenüber antiimperialistische Strategie empfiehlt Amin in einer seiner letzten «Notizen» ein «Projekt der Souveränität», das sich dem bis heute herrschenden Dogma privatwirtschaftlichen Freihandels diametral gegenüberstellt: Es dreht sich um massiven strategischen Staatsinterventionismus, ein möglichst unabhängiges nationales Finanzsystem und eine Wiederaufrichtung regionaler und nationaler Landwirtschaften – es umfasst also so ziemlich alles, was der traditionelle wirtschaftliche Liberalismus als unfunktional abtut und der jüngere politische gelegentlich gar als «nationalistisch» kritisiert.
Dieses souveränistische Projekt verweist auf die sogenannten Dependenztheorien, die in den 1970er Jahren auch den westlichen Diskurs über «Entwicklungspolitik» prägten – und in den Metropolen mittlerweile verschüttet scheinen. Ob das vielfache Scheitern nicht nur, aber oft auch afrikanischer Nationalökonomien nun darauf beruht, dass solche Modelle untauglich seien, oder ob sie niemals tatsächlich versucht wurden (oder werden konnten), ist dabei keine akademische Frage, sondern zunehmend ein sehr handfestes globales Problem: Man denke an die viel zitierten «Fluchtursachen», die jetzt alle angeblich bekämpfen wollen.
Nicht nur in dieser Debatte wird nun die angesehene, aber politisch unvollendete Position Amins fehlen, der am Sonntag in Paris verstarb. Sondern auch in der spezielleren, marxistisch-ökonomischen, an der er bis zuletzt engagiert teilnahm: Das allerletzte Posting auf jenem Facebook-Profil betrifft das «alge-braische Modell des Wertgesetzes».
Foto:Foto: Ulli Winkler
Quelle: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1097267.samir-amin-unbeirrt-und-unvollendet.html