ZUSAMMENFASSUNG –
Der wirtschaftliche Abschwung der Türkei hat sich nur noch verschärft, seit Präsident Recep Tayyip Erdogan nach den Wahlen vom Juni umfassende Machtbefugnisse erhielt. Einige Beobachter befürchten währenddessen, dass die Wirtschaft nicht Ankaras Hauptanliegen sein könnte.
Seit den Wahlen vom 24. Juni versuchen die türkischen Machthaber, die Nation in das Kleid eines Ein-Mann-Regimes zu zwängen. Dieses Outfit wurde von der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) in den 16 Jahren ihrer Regierungszeit genäht, teilweise zusammen mit der religiösen Gemeinschaft von Fethullah Gülen, welche die AKP inzwischen als Terrorgruppe bezeichnet. Angesichts der fortgeschrittenen Integration der Türkei in die globalisierte Wirtschaftsordnung hat dieses neue politische Gewand eine große Frage über das Schicksal der ohnehin schon angeschlagenen türkischen Wirtschaft aufgeworfen. Kann das Finanzsystem die Grenzen dieses Kleides weiter tragen? Werden sich inländische und ausländische Wirtschaftsakteure daran anpassen und es stillschweigend billigen können?
Das neue Outfit, das aus konservativen, sunnitisch-islamischen Gewändern besteht, ist auf einen Regierungsstil zugeschnitten, der die Legislative und die Judikative fast ausschließlich einer einzigen Person unterstellt – dem Präsidenten. Das Arrangement – offiziell das Präsidialsystem genannt und in einem umstrittenen Referendum im April 2017 mit knapper Mehrheit verabschiedet – trat nach den Wahlen vom 24. Juni in Kraft, bei denen Präsident Recep Tayyip Erdogan wiedergewählt wurde.
Verglichen mit anderen aufstrebenden Märkten wie Brasilien, Indien, Mexiko und Südafrika, ragt die Türkei als derjenige mit der höchsten Machtkonzentration in einzelnen Händen heraus, bei starker Unterdrückung der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten und der weitgehenden Umwandlung die Medien und Universitäten in staatliche Instrumente. Daher steht die Türkei dem eigentümlichen Risiko der Entfremdung und Entkopplung von ihrer Beziehung zum globalen Kapitalismus gegenüber.
Das neue Governance-System hat die „Checks and Balances“ beseitigt und das Land für die Fehler einer einzelnen Person anfällig gemacht, indem es die Legislativ- und Überwachungsfunktionen des Parlaments weitgehend außer Kraft gesetzt und den Präsidenten dazu befähigt hat, die Justiz zu formen und die Exekutive unter seine alleinige Kontrolle zu stellen.
Auf der Ebene der Exekutive ermächtigt das neue System den Präsidenten, Kabinettsmitglieder und Vizepräsidenten zu ernennen, während er an der Spitze seiner Partei bleibt. In einem seiner bemerkenswertesten Schritte verschmolz Erdogan die Staatskasse und das Finanzministerium und übergab die Post an seinen Schwiegersohn Berat Albayrak. Die wichtigsten Wirtschafts- und Finanzinstitutionen, einschließlich der Zentralbank und der öffentlichen Banken, waren alle an Albayraks Ministerium angeschlossen. Kurz gesagt, Erdogan hat die volle Kontrolle über die Wirtschaft erlangt.
In Bezug auf die Justiz werden 12 der 15 Richter des Verfassungsgerichts vom Präsidenten ernannt, die restlichen drei bleiben dem Parlament vorbehalten. Alle Mitglieder des Berufungsgerichts, drei Viertel des Staatsrats und vier Mitglieder des 13-köpfigen Richter- und Anklägerausschusses werden direkt vom Präsidenten gewählt, zusätzlich zum Justizminister und dem Staatssekretär des Ministers, die dem Ausschuss angehören.
Der Präsident ernennt auch die Mitglieder des Hochschulrates, der die Universitäten kontrolliert.
Das Parlament hat den größten Teil seines legislativen Einflusses auf einen Präsidenten verloren, der die Macht hat, per Dekret zu regieren. Das Parlament kann seinen Dekreten nur widersprechen, wenn die Opposition in der Legislatur über die Mehrheit verfügt, was derzeit nicht der Fall ist. Obwohl die AKP ihre absolute Mehrheit in den Umfragen vom 24. Juni verloren hat, dominiert sie weiterhin das Parlament dank ihrer Allianz mit der „Nationalistischen Bewegungspartei“ (MHP).
Der Präsident ist befugt, die nationale Sicherheitspolitik des Landes zu gestalten und kann den Ausnahmezustand verhängen. Das Mandat des Parlaments zur Haushaltsführung wurde ebenfalls auf den Präsidenten übertragen. Eine juristische Untersuchung gegen den Präsidenten kann nur dann beginnen, wenn 301 Abgeordnete innerhalb des 600-köpfigen Parlaments für einen solchen Schritt stimmen, während es 400 Stimmen erfordern würde, den Präsidenten einem Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof auszusetzen. Der Präsident kann auch leicht Wahlen ausrufen.
Angesichts der von Erdogan über die Jahre angesammelten Bilanz von Polarisierungspolitik und Vetternwirtschaft bezweifeln insbesondere ausländische Finanzakteure, dass er seine neuen Befugnisse nutzen wird, um die richtigen Entscheidungen für die Wirtschaft zu treffen. Nur wenige Wochen vor den Wahlen hatte Erdogan während einer Reise nach London institutionelle Investoren bestürzt, als er die Unabhängigkeit der Zentralbank und konventionelle Wirtschaftstheorien bestritt.
Nun, da das Land seine neuen politischen Kleider erworben hat, sinkt das Vertrauen ausländischer Investoren weiter. Die türkische Risikoprämie erreichte am 2. August ein Rekordhoch von 345 Basispunkten, nachdem Washington wegen der Inhaftierung eines amerikanischen Pastors Sanktionen gegen Ankara verhängt hatte, was ein beispielloses Tief in den angespannten Beziehungen zwischen den beiden NATO-Verbündeten markierte. Eine höhere Risikoprämie bedeutet höhere Kreditkosten für die Türkei in einer Zeit, in der die Bereitstellung neuer externer Mittel für die Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist.
Die wichtigsten Wirtschaftsindikatoren haben sich seit dem Beginn des Ein-Mann-Regimes nur verschlechtert. Die Inflation ist weiter gestiegen, die türkische Lira ist weiter eingebrochen – die harte Währung wurde noch teurer – und die Markterwartungen haben sich kaum verbessert. Die Anleger meiden weiter die Lira, deren freier Fall die psychologische Marke von 5 gegen den Dollar am 1. August durchbrochen hat. 1. Normalerweise sollte die Zentralbank die Zinsen erhöhen, um die Währung zu stützen, aber sie hat nicht gehandelt. Infolgedessen bleibt die türkische Wirtschaft zwischen steigenden Hartwährungspreisen und bereits hohen Kreditkosten von etwa 25% eingeklemmt.
Unter dem Einfluss dieser Zange fiel die Verbraucherinflation im Vergleich zum Vorjahr im Juli fast 16%, während die Erzeugerinflation 25% erreichte, ohne dass in naher Zukunft eine Lockerung zu erwarten wäre.
Die Spannungen mit den Vereinigten Staaten scheinen verdammt, den wirtschaftlichen Fragilitäten neue Schichten hinzuzufügen, da die AKP sich weigert, ihren konfrontativen Tonfall gegenüber Washington aufzugeben. Nach Ansicht einiger Beobachter könnte Ankara die Krise sogar als eine Gelegenheit nutzen, die Schuld für den wirtschaftlichen Abschwung ausländischen Mächten zuzuschieben, insbesondere den Vereinigten Staaten, und so ihre traditionsreiches Narrativ von externen Feinden fortspinnen, die den Fortschritt der Türkei untergraben wollen.
Während er sein 100-tägiges Programm am 3. August ankündigte, appellierte Erdogan noch einmal an die Bürger, die harte Währung und das Gold, das sie „unterm Kopfkissen“ aufbewahren, „rauszuholen“, ihre Ersparnisse in türkische Lira umzuwandeln und sie in das Finanzsystem zu leiten. Angesichts des anhaltenden Anstiegs der Devisenpreise scheint seine Forderung selbst bei seinen eigenen Unterstützer wenig Wirkung zu zeigen. Erdogan sagte weiter, die Türkei werde sich nicht vom Westen abhängig machen und sich des chinesischen Markts für Kredite bedienen, obwohl er keine Erklärung dafür gab, warum die Chinesen die Türkei anders behandeln sollten als amerikanische und europäische Kreditgeber.
Angesichts der fortgeschrittenen Integration der Türkei in die globale Wirtschaft und ihrer starken Abhängigkeit von dieser wird Ankaras Aufgabe, das Finanzsystem des Landes zu verwalten, unter dem Ein-Mann-Regime immer schwieriger. Der Außenhandel der Türkei beläuft sich auf die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts, und die Auslandsaktiva in der Türkei bewegen sich zwischen 650 und 700 Milliarden Dollar. Im Gegensatz zum Iran und Russland ist die Türkei kein Energieexporteur, was es umso unbehaglicher Macht, mit ihrem neuen politischen Outfit auf der westlich dominierten Wirtschaftsszene zu tanzen.
Einige Beobachter nehmen an, dass die Hauptaufgabe der AKP darin bestehe, weiterhin ihr Outfit zu tragen, statt sich dem wirtschaftlichen Tanz mit dem Westen zu widmen. Die AKP habe, so das Argument, keine andere Wahl, als die neuen Kleider zu bewahren und durchzusetzen und kümmere sich wenig darum, welche Form die Wirtschaft darin annehmen werde, sei es nun Kollaps oder Kontraktion, und sie werde sich auf ihre politische Macht stützen um jene zu unterdrücken, die sich beschweren.
Während die Konjunkturaussichten die Türkei in Richtung des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu drängen scheinen, zeichnet sich für das AKP-Regime eine kritische Frage ab. Wenn es sich entscheidet, IWF-Hilfen anzufragen, würde die Rettung zweifellos mit Bedingungen verbunden sein. Würde sich die Türkei den Forderungen nach Transparenz, Rechenschaftspflicht, Ausrottung der Vetternwirtschaft und Achtung der Menschen- und Eigentumsrechte beugen oder würde sie ihre neuen politischen Kleider auf Kosten des Schicksals der Wirtschaft unberührt lassen und die Nation zwingen, sich ihr zu fügen? Werden die türkischen Wähler, einschließlich der Anhänger der AKP, eine wirtschaftliche Option tolerieren, die hohe Arbeitslosigkeit und Armut mit sich bringt, und wenn ja, wie lange?
Übersetzt für freiesicht.org
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