Es war eine sehr kurze Amtszeit für Mauricio Rojas. Als Präsident Sebastián Piñera ihn am 10. August zum Kulturminister ernannte, konnte er wohl kaum ahnen, dass er bereits 94 Stunden später seinen Rücktritt ankündigen würde. Die Ernennung hatte landesweit für Empörung gesorgt, da Rojas in den letzten Jahren wegen harscher Kritik am Museum der Erinnerung und der Menschenrechte (Museo de la Memoria y los Derechos Humanos, MMDH) aufgefallen war. Mehrfach hatte er das Museum, welches vor allem die Menschenrechtsverletzungen während der Pinochet-Diktatur (1973‒1990) dokumentiert, der „Montage“ bezichtigt und ihm Einseitigkeit sowie Geschichtsmanipulation vorgeworfen. Die Kritik von Menschenrechtsorganisationen zwang Rojas schließlich zum Rücktritt und entfachte eine Debatte um den Umgang mit den Verbrechen der Diktatur und Erinnerungskultur. Denn auch wenn der prompte Rücktritt ein erfreuliches Zeichen für die Aktivität und Stärke der Zivilgesellschaft darstellt: Unter der Regierung Piñera ist die ohnehin bislang nur sehr zaghafte Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur so stark gefährdet wie lange nicht mehr.
Über die Zeit der Militärdiktatur gibt es in Chile stark unterschiedliche Positionen. Große Teile der Gesellschaft sind noch immer der Überzeugung, dass sie dem Land eher genutzt als geschadet hat, und dass im Kampf gegen die angebliche Misswirtschaft der sozialistischen Regierung von Salvador Allende (1970‒1973) Opfer unvermeidbar waren.
Das Museum der Erinnerung sieht sich seit der Eröffnung im Jahr 2010 immer wieder mit Kritik aus dem rechten Lager konfrontiert.
Die Korporation des 11. September, eine Gruppe Verwandter und Anhänger des Ex-Diktators Augusto Pinochet, fordert als Gegenstück sogar ein „Museum der Wahrheit“, um die angeblichen Verbrechen „linker Terrorgruppen“ zur Zeit der Diktatur „ans Licht zu bringen!. Lorena Pizarro von der Organisation Angehöriger von Verschwundenen (AFDD) entgegnete, ein solches Museum wäre angesichts der Verbrechen der Militärs ein „Versuch der Rechtfertigung für einen Genozid“.
Auch der ehemalige Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast fällt seit Jahren durch Aussagen auf, welche die Verbrechen der Militärs verharmlosen oder die Diktatur verherrlichen. Im Zuge einer bildungspolitischen Vortragsreihe kam es daher im März in mehreren Universitäten des Landes zu Protestaktionen gegen Kast. In Iquique und Temuco griffen Studierende den Politiker verbal und körperlich an, ein weiterer Vortrag in Concepción wurde auf Bitten der dortigen Studierenden abgesagt. Pünktlich zum 45. Jahrestag des Militärputschs am 11. September ließ Kast erneut von sich hören. So lobte er Pinochet und den Putsch im Jahr 1973, der Chile von einer marxistischen Diktatur befreit und davor bewahrt habe, zu einem weiteren Venezuela zu werden.
Solche polarisierenden Aussagen in Bezug auf die Militärdiktatur sind in Chile keine Seltenheit. Auch Hasstiraden von Pinochet-Anhängern gegen Opfer und Linke sind an der Tagesordnung. Die Verbrechen der Diktatur hingegen werden nur schleppend aufgeklärt. Noch immer laufen hunderte offene Verfahren gegen Militärs und einige Zivilpersonen. Nur wenige der bisher erreichten Verurteilungen werden auch mit einer Haftstrafe vollstreckt.
Kürzlich beschloss der Oberste Gerichtshof für fünf Angehörige der Streitkräfte und zwei Komplizen – alle für Verbrechen gegen die Menschheit schuldig gesprochen – die vorzeitige Entlassung aus dem umstrittenen Gefängnis Punta Peuco auf Bewährung. Carmen Hertz von der Kommunistischen Partei bezeichnete die Entscheidung als Ausdruck einer chronischen Missachtung internationaler Menschenrechte durch die chilenische Justiz. Angehörigen- und Opferorganisationen brachten ihre Wut über die Entscheidung mit einer Protestaktion in der Hauptstadt Santiago zum Ausdruck. Dort hieß es: „Folterer, Vergewaltiger, Mörder und Entführer sind nun frei. Nein zur Straflosigkeit!“.
Gründe für diese anhaltende Straflosigkeit sind wohl auch das Schweigen über mögliche Täter, die noch immer in militärischen oder politischen Ämtern sind sowie diverse Pinochet-Anhänger in Regierungsverantwortung, vor allem aus der rechten Partei UDI. Diese stellt in Piñeras Regierungsbündnis Chile Vamos immerhin fünf Ministerinnen und Minister, darunter die Bildungsministerin Marcela Cubillos Sigal, Tochter von Hernán Cubillos Sallato, dem Außenminister unter Pinochet und Mitorganisator des Militärputsches. Außerdem für die UDI im Kabinett sitzt Innenminister Andrés Chadwick, ein Cousin von Präsident Piñera und ehemaliger Unterstützer der Sektensiedlung Colonia Dignidad.
Für die größte Empörung sorgte jedoch die Einsetzung von Hernán Larraín Fernández zum Minister für Justiz und Menschenrechte. Dass ausgerechnet dieses Ministerium durch einen engen Freund der Colonia und deren Sektenführer Paul Schäfer bekleidet wird, spricht Bände. Myrna Troncoso, Präsidentin der Angehörigenorganisation der Verschwundenen der Colonia Dignidad, bezeichnete Larraíns Erennung als „Schlag ins Gesicht aller Opfer“.
Doch Kritik an Erinnerung und Aufarbeitung kommt nicht nur aus der UDI, das zeigen die Äußerungen des parteilosen Rojas und des aktuellen Außenministers Roberto Ampuero von der Mitte-rechts-Partei Evópoli. Sie hatten das Museum der Erinnerung und der Menschenrechte in einem gemeinsamen Buch als „Museum der schlechten Erinnerung“ bezeichnet. Präsident Piñera distanzierte sich zwar teilweise von diesen Aussagen, appellierte jedoch an die Meinungsfreiheit in Bezug auf Chiles Vergangenheit. Er nutzte die öffentliche Diskussion um die Personalie Rojas für eine eigene Ankündigung: Ab 2020 soll der Bau eines „Museum der Demokratie“ beginnen, das die Entstehung und Entwicklung der Demokratie in Chile „kontextualisieren“ soll. Dabei betonte er, das geplante Museum diene nicht der Relativierung oder dem Vergessen der Diktaturverbrechen. Welche Perspektive des Museums auf die Regierung Allende allerdings zu erwarten ist, machte Piñera bereits kurz vor dem Jahrestag des Militärputsches klar. So warf er Allende in einem Zeitungsinterview mit La Tercera vor, eine „kranke Demokratie“ geschaffen zu haben.
Maya Fernández, Enkelin Allendes, Mitglied der Sozialistischen Partei und Präsidentin des Abgeordnetenhauses erwiderte, Piñera würde mit der Ankündigung des Museums das Thema für seine Zwecke instrumentalisieren. Weiterhin macht sie ihn für einen Rückschlag für die Menschenrechte in Chile verantwortlich. Warum sie mit dieser Meinung nicht alleine steht, machte Chiles Präsident auch bei der Demonstration anlässlich des Jahrestags des Putsches am 11. September, auf der tausende Demonstranten wie jedes Jahr Gerechtigkeit für die 40.000 Opfer und 3.000 Todesopfer der Diktatur forderten, klar: Er ließ die Kundgebung von der Polizei mit Tränengas und Gewalt auflösen.
Quelle: https://amerika21.de/analyse/215214/chile-keine-wahrheit-gerechtigkeit