Ein Aufruf zur Solidarität mit der Selbstorganisierung im Stadtteil Giambellino, Mailand
Mailand, Donnerstag der 13. Dezember 2018, 5 Uhr morgens. An diesem Tag stürmten die Carabinieri mehrere besetzte Wohnungen in Giambellino (ein Viertel am Rand der Stadt) und in anderen Stadtbezirken Mailands. Sie kamen, um neun Mitglieder des Nachbarschaftskomitees Giambellino-Lorenteggio (Comitato Abitanti Giambellino Lorenteggio, im Folgenden „Komitee“ genannt) zu verhaften, denen sie die „Bildung einer kriminellen Vereinigung zum Zwecke der Besetzung von Wohneigentum“ vorwerfen. Acht der Beschuldigten wurden bei den Razzien angetroffen und festgenommen. Die Ermittlungen betreffen sowohl Genoss_innen als auch Familien, die im Komitee aktiv sind. Im Zuge der Razzien räumten die Cops neun besetzte Wohnungen und la Base di Solidarieta Popolare (das Zentrum und Büro des Komitees, gelegen in der Via Manzano 4).
Die Verhafteten stehen gerade unter striktem Hausarrest, der ihnen verbietet, andere (als den in der jeweiligen Wohnung gemeldeten) Personen zu sehen oder mit diesen zu kommunizieren. Die Ermittlungen der Cops laufen noch und richten sich insgesamt gegen ca. siebzig Beschuldigte. Das Ausmaß der Repression spricht für sich und unterstreicht den Willen des Staates, soziale Kämpfe zu kriminalisieren und zu ersticken.
Die Presse begann umgehend mit einer Hetzkampagne gegen das Komitee. Dessen politische Arbeit wurde mit dem Treiben krimineller Gangs verglichen, Auszüge aus von den Carabinieri abgehörten Telefongesprächen wurden veröffentlicht und die verhafteten Genoss_innen wurden als die „Robin Hoods des öffentlichen Wohnraums“ karikiert, die nun ihre gerechte Strafe bekämen. In der Pressekonferenz stellte der Staatsanwalt Alberto Nobili stolz die Ergebnisse der vierjährigen Ermittlungen vor. Er sprach von einer kriminellen Vereinigung, die kein Geld eintreibt, sondern stattdessen „soziale Gerechtigkeit“ anstrebt, „den Staat ersetzen“ will, im Viertel „um Zustimmung wirbt“ und zu einer „gefährlichen Verschiebung“ (original: deriva pericolosa – ein Begriff, der im Kampf gegen die Roten Brigaden verwendet wurde) führen könnte. Dabei gibt es tatsächliche eine reale „gefährliche Verschiebung“ – nämlich die, die von den Herrschenden vorangetrieben wird: die Verwahrlosung und Abwertung von Giambellino und anderer abgehängter Viertel Mailands…
Doch diese Entwicklung ist nicht einfach der Unfähigkeit von einzelnen Stadträten oder der Stadtverwaltung geschuldet. Sie ist das Ergebnis des wohlerdachten Plans, öffentlichen Wohnraum in der Lombardei (die italienische Provinz, in der Mailand liegt) abzuwickeln. Gemäß der neoliberalen Ideologie sind Wohnungen in öffentlicher Hand ein falsches Konzept, die besser dem ‚freien Markt‘ überlassen werden sollten. Trotz der langen Warteliste für Sozialwohnungen hat das Spekulationsunternehmen ALER [1] zehntausende Wohnungen in der Region leerstehen lassen. ALER ist ein bankrottes Unternehmen mit fast einer halben Milliarde Euro Schulden und einer langen Geschichte von Skandalen und Korruption. Zwar sind alle politischen Parteien daran beteiligt, aber vor allem ist es die Lega [2], die die Provinz seit zehn Jahre regiert. Werden für Sozialwohnungen keine Interessent_innen gefunden, ist die einzige Lösung, sie an private Unternehmen zu verkaufen – oder sie zu besetzen. Selbst die Carabinieri heben in ihren Ermittlungen hervor, dass nur leerstehende Wohnungen besetzt wurden. Und sie geben selbst das desaströse Missmanagement des öffentlichen Wohnraums zu.
Mailand ist die Hauptstadt der Wohnraumspekulation Italiens, mit den höchsten Mieten, mit überhöhten Kreditzinsen und Investitionsvorhaben des Großkapitals. Die einzigen geldintensiven öffentlichen
Investitionen, die getätigt werden, sind die Zwangsräumungen, deren Ziel es ist, die Metropole von ihren unerwünschten Bewohner_innen zu säubern – denen, die sich das Leben in dieser „neuen Stadt“ nicht leisten können und daher keinen Platz mehr haben sollen. So wächst der Immobilienmarkt, und diejenigen, die nicht mithalten können, werden an den Rand gedrängt: ökonomisch, sozial und geografisch eine Hölle.
Abgesehen von ein paar Besuchen während der Wahlkampagnen hat kein*e Politiker*in sich jemals ernsthaft dem Wohnraumnotstand gestellt. Die „quarteri populari“ sind Orte des Nichtseins, das Gegenteil des Stadt-Zentrums, wo Luxus und Extravaganz großzügig zur Schau gestellt werden. Hier bei uns wächst die Verzweiflung und Konflikte zwischen den Armen werden weiter angeheizt. Manche treten weiter nach unten
– nach denen, denen es noch schlechter geht; aus Angst, noch weiter an den Rand und die Marginalität zu rutschen. Dennoch, es gibt weiterhin Leben – und manchmal sogar Widerstand in dieser Einöde.
Viele Leute besetzen Wohnungen. Manchmal wandeln sich diese Aktionen, die aus der Not entstanden sind, in etwas noch Mutigeres. In den letzten Jahren wurden in Giambellino und darüber hinaus Komitees gegründet, in denen sich diejenigen, die dazu verdammt sind, in Armut, Furcht und Einsamkeit zu leben, gemeinsam organisieren, um ein besseres Leben zu leben. Ein Haus zu besetzen, eine Räumung zu verhindern, kostenlosen Nachhilfeunterricht zu organisieren oder ein Fußballteam zusammenzustellen sind alles Akte der Solidarität, die die Idee einer anderen Gegenwart erschaffen.
In den Ruinen, die die Stadt an den Rand abgeladen hat, gibt es Leute, die sich nicht mit dem bloßen Überleben abfinden, sondern ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen. Diese in der Nachbarschaft verankerten und selbstorganisierten Communities haben die Strukturen der Isolation aufgebrochen. Sie weigern sich, sich ausschließlich auf der fälschlichen Basis von Ethnizität oder Hautfarbe zu organisieren. „Die Viertel gehören den Leuten, die sie bewohnen“ ist viel mehr als nur eine Parole: Sie repräsentiert die Entscheidung, sich nicht mit dem Abfall zufrieden zu geben und zu fordern, was ihnen zusteht.
Die Staatsanwaltschaft bezeichnet all dies als „kriminelle Vereinigung“. Sie versucht, eine Welt der Solidarität und Autonomie in den Käfig von Gesetz und Vorschrift zu pressen. Es ist kein Zufall, dass eine solcher Angriff jetzt stattfindet, im Anschluss an Salvinis neues Sicherheitspaket [3], mit dem sämtliche Kämpfe und Projekte der Solidarität angegriffen werden. Es ist Teil eines Gesamtbildes – die Kriminalisierung des Komitees von Giambellino offenbart das Regierungsprogramm und die sozialen Vorstellungen dahinter. Es ist kein Krieg gegen Ungerechtigkeit und Armut, sondern gegen die Armen.
Die Mächtigen haben Angst, dass Menschen wie in Giambellino und anderswo die Resignation hinter sich lassen und nicht mehr auf die Lösung ihrer Probleme durch Wahlen warten, sondern sich gemeinsam organisieren, um sich direkt an die Verantwortlichen zu wenden. Und so betrifft dieser Angriff nicht nur Giambellino. Es ist eine Bedrohung und ein Angriff auf alle widerständigen Gemeinschaften, auf alle Kollektive, die sich an verschiedenen Orten gebildet haben und die zusammen Fragmente einer neuen Welt gegen die gegenwärtige Katastrophe bilden. Das Gespenst des juristischen Rechts wird gegen die Lebendigkeit der Kämpfe in Aufstellung gebracht.
Wir rufen daher alle auf, dem Komitee Giambellino, den Verhafteten und allen, die sich zu einer Organisierung entschieden haben, ihre Solidarität zu bekunden.
Sie schimpfen uns Robin Hood.
Es ist uns eine Ehre.
Weitere Infos auf:
http://siamotuttirobinhood.it/
#IOMIASSOCIO
1] ALER: Azienda Lombarda Edilizia Residenziale: Ehemals Institut für öffentlichen Wohnungsbau, heute ein Unternehmen, das Sozialwohnungen in der Provinz Lombardei besitzt und profitabel arbeitet. Die Verflechtung von ALER mit der Mafia ist bekannt und viele ehemalige Manager des Unternehmens wurden aus diesem Grund verhaftet. Mit mehr als zehntausend leerstehenden Wohnungen in Mailand und mehr als dreißigtausend Familien auf der Warteliste ist es offensichtlich, dass das Ziel des Unternehmens ist, die Wohnungen loszuwerden und zu privatisieren.
2] Lega: Ehemals Lega Nord, ist aktuell eine der beiden Regierungsparteien. Die rechtspopulistische Partei stellt den italienischen Innenminister Matteo Salvini. Früher vertrat die Lega die ethnische Überlegenheit der Norditaliener, heute verfolgt sie mit der Unterstützung von rechten Demagogen wie Steve Bannon vor allem eine rassistische Antiflüchtlingspolitik mit dem Slogan „Italiener zuerst“. Die Lega ist ein Reservoir und eine Plattform für den Aufstieg anderer rechter, neofaschistischer und frauenfeindlicher Gruppen und zeigt einige Parallelen zum Trump-Wahlkampf 2016 in den USA.
- Salvinis Sicherheitspaket: Ein Gesetzespaket, dass sich primär mit der Einwanderung beschäftigt, aber auch verschiedenen Kämpfen, wie etwa den um Wohnraum ins Visier nimmt. Die Gesetze wurden von der Lega geschrieben und von der Regierung angenommen. Ein großer Teil des Gesetzes richtet sich gegen neu ankommende Migranten und dient der Kriminalisierung von Einwanderung nach Italien. Viele Protestformen werden unter den neuen Gesetzen härter bestraft, darunter die Blockade von Verkehr und die Besetzung von leerstehenden Häusern.