Wer einmal die Annehmlichkeiten eines Abgeordnetenjobs im EP kennengelernt hat, bemüht sich – verständlicherweise – den Posten möglichst lange zu behalten. Der Christdemokrat Elmar Brok hat es vorgemacht, er brachte es auf 39 Jahre. „Er gehört zu den wenigen deutschen Europapolitikern, die in der Heimat einem breiteren Publikum bekannt sind“, schreibt der Spiegel; es wäre wohl auch sehr merkwürdig, wenn er nach so langer Zeit unbekannt geblieben wäre. „Meine Frau, mit der ich in diesem Jahr 48 Jahre verheiratet bin, und die Kinder haben das getragen und ertragen – sieben Tage in der Woche. Nun soll es gut sein“, behauptete der 1946 geborene Brok.[1] Sicherlich ist sein Verzicht auf eine erneute Kandidatur zu verkraften sein, denn es gibt viele andere „verantwortungsbewusste Politiker“ die darauf brennen, sieben Tage in der Woche zu arbeiten, ihre Familie zu vernachlässigen und auch andere Entbehrungen auf sich zu nehmen.
Auf 23 Jahre hat es der Sozialdemokrat Martin Schulz im EP gebracht. Der ehemalige Bürgermeister von Würselen war sogar fünf Jahre Parlamentspräsident. Er dachte, dass es nach seiner Polit-Karriere in Brüssel an der Zeit sei, in das Kanzleramt nach Berlin zu wechseln. Dass seine Genossen ebenfalls davon überzeugt waren, dass er der richtige Kanzlerkandidat sei, erwies sich als ein Fehler: Im September 2017 erhielten die Sozialdemokraten mit 20,5% der abgegebenen Stimmen ihr schlechtestes Bundestags-Wahlergebnis. Vor der Europawahl am 26. Mai tingelt der einstige Hoffnungsträger der SPD durch Deutschland, um seine „Liebeserklärung an Europa“ zu verkünden. Wie Andreas Meinzer in einem Artikel der Badischen Zeitung wohl treffend feststellte, hatte Schulz auf einer Veranstaltung in Freiburg außer viel Pathos nur wenig Analyse anzubieten.[2] Er genießt zu Recht den Ruf eines authentischen „Politikers“, denn er versucht nicht einmal, außer rhetorisch garnierten Plattitüden.
Langzeit-Abgeordnete gab es auch bei den Grünen, obwohl die Partei in ihren Anfängen das Rotationsprinzip eingeführt hatte. Das war eines ihrer vielen Prinzipien, die schon sehr schnell aufgegeben wurden. Die parlamentarischen Neulinge erkannten die vielen Annehmlichkeiten eines Abgeordnetenmandats und wollten diese möglichst lange genießen. Daniel Cohn-Bendit war von 1994 bis 2014 Abgeordneter im EP. Im Gegensatz zu seinem Kumpel Joschka Fischer war er ein eher bescheidener Grüner. In Erinnerung bleibt er vor allem als ein entschiedener Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei. Es ist schwer vorstellbar, was ein Cohn-Bendit beruflich gemacht hätte, wenn er nicht „Politiker“ geworden wäre.
Von der Euphorie zur Desillusionierung
Die EU-Bürger sind von der Notwendigkeit eines EP nicht mehr sehr überzeugt: An der ersten Europawahl hatten sich 1979 etwa 62% der Wahlberechtigten beteiligt, bei der Wahl 2014 waren es lediglich 43%.[3] Viele Umfragen deuten darauf hin, dass das Interesse an der Wahl am 26. Mai, die angeblich eine „Schicksalswahl für die EU“ sein soll, gering ist.[4] Wenn es eine Schicksalswahl ist, dann wohl für die Anwärter auf einen Abgeordnetensitz, denn die Konkurrenz um die begehrten Mandate ist größer geworden, seitdem sich „Rechtspopulisten“ einer wachsenden Beliebtheit im großen Wählerpool der Mitteschicht erfreuen.
Bei einer geringen Wahlbeteiligung stellt sich zwar die Frage, inwieweit das EP den politischen Willen der Bürger widerspiegelt, aber für „Politiker“ hat dies keine Bedeutung, denn für sie ist nicht die Höhe der Wahlbeteiligung, sondern ihr Wahlsieg entscheidend. Parlamentarische Demokratie bedeutet für sie nicht eine umfassende Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen und Prozessen, sondern dass die abgegebenen Stimmen ausreichen, damit sie ein Mandat bekommen. Sie machen sich keine Gedanken oder Sorgen um das schwindende Vertrauen und Desinteresse insbesondere junger Menschen in die „Politiker“.[5] Es werden deshalb wohl überwiegend ältere Wähler mit ihren Stimmen über die Zusammensetzung des EP entscheiden. Angesichts der großen Probleme der Gegenwart und Zukunft ist es fraglich, ob ihre Wahlentscheidung die politischen Lösungsperspektiven verbessern wird.
Der anfänglichen Europa-Euphorie folgten Enttäuschung und Desillusionierung, möglicherweise wird sich die Krise des europäischen Systems weiter vertiefen. Vielleicht wird den Bürgern dannbewusst, dass sie ihre Zukunft nicht länger einer Politiker-Kaste überlassen sollten. Von den Nachfolgern der EU-Veteranen wie Junckers, Brok, Schulz oder Cohn-Bendit ist sicherlich keine neue Politik zu erwarten; von den Salvinis, Orbans und Le Pens auch nicht. Vielmehr wird es zwischen den verschiedenen Kräften zu harten Verteilungskämpfen um Posten und Geld kommen.
Unabhängig von den verschiedenen Wahlen stellt sich immer mehr die Frage, ob und welche demokratischen Alternativen es jenseits des Parlamentarismus gibt, um die gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und ökologischen Probleme zu lösen.
[1] https://www.spiegel.de/politik/ausland/elmar-brok-kandidiert-nicht-mehr-fuers-eu-parlament-a-1249088.html
[2] https://www.badische-zeitung.de/viel-pathos-wenig-analyse-martin-schulz-sprach-im-jazzhaus-ueber-europa
[3] https://www.bpb.de/dialog/europawahlblog-2014/185215/interaktive-grafiken-die-wahlbeteiligung-bei-europawahlen
[4] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/europawahl-wird-zum-schicksal-fuer-die-eu-16134580.html
[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article192856933/Deutschlandtrend-Europawahl-laesst-juengere-Deutsche-kalt.html
Quelle: http://spyurk.de/toros-sarian-artikel-ueber-polit-veteranen-und-die-qual-der-wahl/