Mit der erneuten Niederlage bei der wiederholten Wahl in Istanbul rückt das Ende der Ära Erdogan näher.
Obwohl es vielen Menschen klar war, dass die AKP diese Wahl mit großem Abstand verlieren würde, schätzten wenige die Auswirkungen auf die AKP richtig ein. Die Niederlage geht direkt auf Erdogans Konto. Es war sein größter Fehler die Wahl vom 31.März annullieren zu lassen. Er hat die Warnungen aus der eigenen Partei vor einer erneuten Niederlage ignoriert. Hätte Erdogan auf sie gehört und nicht den starken Mann gespielt, wäre der Schaden für seine Partei nicht so groß geworden.
Erdogan war so selbstsicher, dass er Kritikern in einer Fernsehansprache sagte “einige Freunde sagen, dass wir bei einer erneuten Wahl weniger Stimmen bekommen würden. Ich glaube, wir werden gewinnen, da bin ich mir sicher“. Vier Tage vor dieser Aussage hatte die Wahlkommission die Wahl in Istanbul annulliert. Nicht alle waren davon begeistert, einige aus den vordersten Reihen verschwundene AKP’ler hingegen sehr wohl, liefert ihnen die Absurdität der Annullierung doch beste Voraussetzungen für die Gründung einer neuen Partei.
Angeführt von dem 11. Staatspräsidenten Abdullah Gül, Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu und Ex-Wirtschaftsminister Ali Babacan wird nun beschleunigt an der Gründung einer neuer Partei gearbeitet. Man rechnet damit, dass dies zum Ende des Sommers/Anfang Herbst vollzogen sein wird. Vorgezogene allgemeine Wahlen sind mehrfach in Erwägung gezogen worden.
Nun können Erdogans Kritiker aus den eigenen Reihen die weitere Entwicklung aus sicherer Entfernung verfolgen. Die Niederlage in Istanbul hat den Weg zur Gründung einer neuen Partei, was schon seit längerem von Ex-AKP-Mitgliedern angestrebt wird, geebnet. Erdogans innerparteilichen Kritikern bietet sich dann die Chance die Seiten wechseln. Diese AKP‘ler, teilweise Gründungsmitglieder, melden sich derzeit öfter zu Wort. Der mögliche Chef der neuen Partei Ali Babacan hat vor der Wahl in Istanbul bei einem Treffen mit Erdogan alle Ämter bei der AKP niedergelegt. Ex-Wirtschaftsminister Babacan und der Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sind auf einer Linie. Es gibt jedoch von Seiten einiger ehemaliger AKP-Mitglieder auch Bedenken, dass die neue Partei mit Davutoğlu an der Spritze eine Fortführung des Politischen Islams bedeuten und ein falscher Eindruck entstehen könnte.
Ex-Staatspräsident Abdullah Gül soll erklärt haben, dass er diese Bedenken habe. Die neue Partei soll nicht von einer Person an der Spritze, sondern von einer Kommission von fünf Personen geführt werden. Hinter den Kulissen werden Stimmen für eine neue Partei der Mitte lauter. Diskutiert wird vor allem wer den Parteivorsitz innehaben soll.
Die neue Partei soll die Türkei wieder in Richtung des Westens führen, die Beziehungen mit der NATO und der EU wieder verbessern und die EU-Beitrittsverhandlungen fortführen. Ausdrücklich wird die Ausrichtung der Marktwirtschaft, die Fortführung des Neoliberalismus betont. Ex-Wirtschaftsminister Babacan soll einen groß angelegten Wirtschaftsplan zur Überwindung der Krise vorbereiten.
Wie auch von den meisten anderen Parteien und Institutionen wird die Rückkehr zum Parlamentarischen System verlangt. Nur Erdogan, einige seiner Gefolgsleute und die MHP beharren auf dem Präsidialsystem.
Derzeit wäre es sogar denkbar, dass sich aus ehemaligen AKP-Mitgliedern aber auch Mitgliedern anderer Parteien sogar zwei neue Parteien bilden. Eine traditionelle islamische Partei mit Davutoglu an der Spitze und eine konservative bürgerlich-liberale Partei mit Ali Babacan und Abdullah Gül. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht ist eher gering, es wäre aber möglich. Unabhängig davon, ob nun eine oder zwei neue Parteien gegründet werden, wird die AKP sich spalten. Wie heißt es so schön: „die Ratten verlassen das sinkende Schiff“. Wie viele AKP-Abgeordnete die Seiten wechseln werden wird sich noch zeigen.
Wenn Erdogan trotz seines Bündnisses mit der MHP die Mehrheit im Senat verliert, werden die andern Parteien inklusive der neue(n) Partei(en) auf neue Wahlen drängen. Insbesondere der Umbau der bestehenden Regierung wird diese Spaltung vorantreiben. Die mit der Umstellung unzufriedenen Abgeordneten stünden einer neuen Partei positiv gegenüber. Und es hat Tradition, dass Abgeordnete die Seiten wechseln. In der Gründungsphase der AKP vor 17 Jahren war das auch so. Die AKP war ein Sammelbecken von Politikern aus anderen Parteien.
Erdogan wollte sich als Ein-Mann-Regime in der Türkei etablieren, hat aber mit dem Widerstand aus seiner eigenen Partei und der MHP nicht gerechnet. Seine Pläne wurden vor allem von der MHP durchkreuzt.
Am 16. Juni wurde eine Diskussion zur Wahl zwischen der Kandidaten Imamoglu und Yildirim auf mehreren TV-Sendern live übertragen. Bis zu diesem Zeitpunkt hielt Erdogan sich zurück und beteiligte sich kaum an der Wahlkampagne. Der AKP Kandidat wirkte lustlos und unvorbereitet, als wäre er zur Teilnahme an dieser Sendung gezwungen worden. Der Kandidat der CHP war hingegen sehr kämpferisch und gut vorbereitet. Die Sendung war für die AKP ein Desaster. Am folgenden Tag nahm Erdogan die Zügel wieder in die Hand und trat mit seinen üblichen Drohungen und Beschimpfungen an die Öffentlichkeit.
Die Wahlergebnisse bestätigen den Untergang einer Partei, die 17 Jahre lang allein regierte. Dies war nicht irgendeine Kommunalwahl, sondern der nächste umgefallene Dominostein einer Ära der Unbesiegbarkeit. Und sie war ein klares Signal, dass der politische Islam auch bei Wahlen bezwungen werden kann.
Erdogan und seine Partei hat keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung. Die Einrichtungen, die zur Islamisierung der Bevölkerung im Sinne von Erdogan arbeiteten, sind durch Istanbuls Kapitaleinnahmen mit enormen Summen finanziert worden. Nun müssen diese Einrichtungen und ihre unzähligen Stiftungen ihre Arbeit einstellen bzw. drosseln.
Erdogan drohte Imamoglu sein Amt als Oberbürgermeister nicht ausüben zu lassen. Nach diesem klaren Sieg der CHP wird es ihm schwer fallen, Imamoglu Steine in den Weg zu legen. Wenn Erdogan es doch tut, wird es seinen Untergang nur beschleunigen. Ein geschwächter Erdogan ist ein gutes Fressen für die Imperialisten, die ihn solange nutzen werden bis er verbraucht ist. Und sie haben bereits ein neues Ass im Ärmel. Erdogan ist ersetzbar durch die, auf ihre Chancen wartenden Sozialdemokraten.
Die abwartende Haltung der Sozialdemokraten (CHP), nach dem Motto “Erdogan hat den Karren in den Dreck gefahren, nun soll er ihn auch wieder herausziehen“, kann sich schlagartig ändern. Wenn es um das “Überleben des Staates“ geht, ist eine große Koalition zwischen CHP und AKP oder deren Abkömmlingen denkbar. Um die Probleme zu lösen und die “Reparatur des Staates“ (tatsächlich des Kapitals), ist die CHP zu allem bereit. Nur müsste sich die AKP in diesem Fall von der MHP trennen. Und die MHP lässt sich nicht so einfach abservieren. Ein Machtkampf um den tiefen Staat wird entbrennen.
Die wichtigste Prüfung der Linken steht noch bevor
Unter Erdogans Ein-Mann-Regime ist es schwierig mit neoliberaler Politik demokratische Rechte zu erlangen. Aus der Natur wissen wir, dass ein verletztes Tier immer gefährlicher ist, als in gesundem Zustand. Erdogan ist verletzt und kämpft um sein Überleben. Sein rachsüchtiger Charakter treibt ihn zum Angriff. Aber er hat keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung und befindet sich in einem Bündnis mit der MHP, das ihn aufreiben wird. Eine 180 Grad-Wende kommt für ihn nicht in Frage, er muss weiter machen wie bisher oder eine noch autoritärere Staatsführung ausüben.
Nach den Wahlen buchten viele Sozialisten den Sieg für sich. Auf der Propagandaebene haben sie vielleicht etwas bewirkt. Aber auf der Ebene der ideologischen, politischen Praxis hatten sie nichts zu bieten. Sie sind einfach mit dem Strom geschwommen. Die übertrieben Feierlichkeiten sollten “ihren Sieg“ bestätigen. Sie sollten aber nicht in einen Rausch fallen und annehmen, dass Erdogan endgültig besiegt wurde.
Zu feiern, als ob die Linke gewonnen hätte, während tausende Menschen im Knast sitzen, können wir uns nicht leisten. Das war nur eine Stufe, die man steigen musste, es folgen noch viele mehr und teils sehr schwierige Schritte, die die Linke nur mit ihrem eigenen Programm bewältigen kann. Lasst mal die liberale Linke feiern, die Arbeit wird sowieso von anderen erledigt. Das bisher angebotene Programm, in dem sich die Linke hinter CHP und HDP versteckt hat, muss durch ein nachhaltiges und erfüllbares Programm ersetzt werden. Die Jugendlichen, die dich zurzeit nur an die linken Ideologien herantasten, sich aber wegen der fehlenden Perspektive lieber mit sozialdemokratischem Gedankengut befassen, müssen gewonnen werden.
Es ist Zeit die Straßen wieder zu gewinnen. Die Frauenbewegung in der Türkei macht es vor. Die Vernachlässigung der Basisarbeit bedeutet langfristig den Abschied von der politischen Bühne.
Verfasst für Freiesicht.org