International Die häufigen Wahlen in der Türkei sind Ausdruck einer tiefen Hegemoniekrise
Am 23. Juni werden die Lokalwahlen in Istanbul wiederholt. Abgestimmt wird nur über den Oberbürgermeister, während die Stadträt*innen, Bezirksbürgermeister*innen und Ortsvorsteher*innen nicht erneut zur Wahl stehen. Dabei hat niemand verstanden, wie es möglich sein soll, dass von vier Stimmzetteln, die in das selbe Kuvert gesteckt und bei den selben Wahlurnen in den selben Wahlbüros abgegeben wurden, nur einer fehlerhaft sein soll.
So wirklich interessiert das aber auch nicht. Denn es ist vollkommen klar, dass die Wahlwiederholung politisch motiviert ist: Während Gegner*innen des Regimes die Entscheidung der Obersten Wahlbehörde, die Oberbürgermeisterwahl zu annullieren, als Skandal betrachten, feiern Anhänger*innen sie als legitim und meinen zudem, die Opposition habe Wahlbetrug begangen und Stimmen gestohlen. Das steht zwar nicht in der offiziellen Entscheidung der Wahlbehörde, aber dieses Narrativ wurde sowohl von Präsident Recep Tayyip Erdogan, wie auch von Binali Yildirim, dem Istanbul-Kandidaten der »Volksallianz« aus AKP und faschistischer MHP (Partei der Nationalen Bewegung), propagiert.
Die Wahlen sind Kampfplätze
Während nach dem zivilen Putsch der Wahlbehörde eine Verschärfung der Gangart des Regimes durchaus erwartet wurde, verlief der Wahlkampf in den ersten Wochen relativ unspektakulär. Ob in den Tagen kurz vor den Neuwahlen noch etwas Dramatisches passiert, wird sich zeigen. Auszuschließen ist es in der Türkei nie.
Es ist indes zweifelhaft, dass es Yildirim gelingen wird, den Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu im zweiten Wahldurchgang zu gefährden. Umfragen sind zwar notorisch unzuverlässig, doch die bisherigen Umfragen weisen auf einen Vorsprung Imamoglus hin.
So oder so stellt sich die Frage, weshalb die Türkei seit Jahren nicht aus dem Modus permanenter Wahlen herauskommt. Sieben Urnengänge fanden seit 2014 statt, nun kommt noch die Wahlwiederholung in Istanbul hinzu. Die ständigen Wahlen sind sowohl Ausdruck der seit längerem andauernden tiefen Hegemoniekrise, wie auch ein Versuch des Regimes, diese Krise zu lösen beziehungsweise an der Macht zu bleiben.
Seit Jahren befindet sich das Regime im Konflikt mit popularen Dynamiken sowie mit rivalisierenden Fraktionen in Staat und Gesellschaft. Der Konflikt unter den Herrschenden darüber, wie die Türkei regiert werden soll, vollzieht sich nicht immer anhaltend intensiv, setzt sich aber ununterbrochen fort. Offene juristische und militärische Putschversuche sind ebenso Ausdruck der Hegemoniekrise wie die ständig wechselnden Allianzen, Verfassungsänderungen, Ausnahmezustandsmaßnahmen und eben Urnengänge.
Das von Erdogan angeführte Regime versucht durch (wie auch immer gewonnene) Wahlen, die angekratzte Legitimität in Staat und Gesellschaft, gegenüber den Beherrschten und gegenüber anderen Fraktionen der Herrschenden, wieder herzustellen. Gleichzeitig bieten Wahlkampfperioden die Möglichkeit – unter anderem durch Einsatz aller staatlichen Mittel -, die eigene Basis zu mobilisieren. Verlorene Wahlen, auch wenn es sich wie jetzt »nur« um Lokalwahlen handelt, führen dagegen zu einem weiteren Legitimitätsverlust des Regimes und zur Vertiefung der multiplen Krisendynamik.
Es gilt in der Einschätzung der Bedeutung von Wahlen die beiden Extreme zu vermeiden, die einerseits glauben, dass Wahlen überhaupt nichts ändern oder andererseits meinen, dass dieses Regime einfach abgewählt werden könne. Wahlen sind ein Kampfplatz, ein Feld politischer Auseinandersetzung und gerade weil das Regime die permanenten Wahlen zu nutzen versucht, um sich an der Macht zu halten, eröffnen sich dabei Möglichkeiten für die Opposition, auch für genuin demokratische Bestrebungen.
Dass Wahlen in der gegenwärtigen Türkei jedoch keine »stinknormalen« Prozesse sind, dürfte klar sein. Wahlniederlagen können vom Regime nicht einfach akzeptiert werden und deswegen reduziert sich der Kampf um sie nicht allein auf elektorale, juristische Prozesse. Vielmehr handelt es sich um umfassende Kämpfe, bei denen die diversen Akteure alle Mittel einzusetzen bereit sind.
Faschisierung oder Restauration?
Während also bestimmte Fraktionen, in erster Linie die Regime-Allianz, besonders in den Sicherheitsapparaten den Faschisierungsprozess vorantreiben und immer aggressiver gegen jede Form von Opposition vorgehen, formiert sich andererseits seit einiger Zeit ein Block der Restauration. Dieser Block forciert die Wiederherstellung gewisser rechtsstaatlicher Prinzipien, eine partielle gesellschaftliche Versöhnung und eine dem Kapital angepasste Wirtschaftspolitik, sowie eine vor allem mit dem westlichen Imperialismus abgestimmte Außenpolitik. Hinter dem Block steht seit dieser Wahl ganz offen der Wirtschaftsverband TÜSIAD, in dem das mit dem internationalen Kapital verzahnte Großkapital organisiert ist.
Auch wenn sich die Kräfte der Restauration sehr demokratisch geben, geht es ihnen nicht um eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen der despotischen Republik Türkei, sondern um deren Wiederherstellung mit demokratischem Anstrich. So hört man auch von Imamoglu, der durch die letzten Wahlen zum politischen Sprachrohr des Restaurationsblocks aufgestiegen ist, keine Kritik am Präsidialsystem oder Forderungen nach einer neuen demokratischen Verfassung.
Während Imamoglu momentan der klare politische Führer der Restauration ist, formierten sich auch andere Kräfte in den vergangenen Jahren. Etwa die von Meral Aksener angeführte MHP-Abspaltung IYI Parti (Gute Partei) sowie diverse AKP-Abtrünnige, wie der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül, der ehemalige Premierminister Ahmet Davutoglu oder der mit dem internationalen Finanzkapital bestens vernetzte ehemalige Finanzminister Ali Babacan. Seit Jahren sollen sie angeblich dabei sein, neue Parteien zu gründen. Jetzt aber haben sie zum ersten Mal konkrete Schritte gemacht.
Dieser breite, verschiedene politische und gesellschaftliche Lager umfassende nationale Block schließt jedoch – genauso wie das Regime – die kurdische Bewegung aus. Trotzdem hat die HDP (Demokratische Partei der Völker) resolut erklärt, gegen das Regime zu stehen und ihre Wähler*innen aufgerufen, eine »Stimme gegen den Faschismus« abzugeben. Ohne diese Unterstützung der HDP hätten Oppositionskandidat*innen niemals in Adana, Ankara, Antalya, Mersin oder Istanbul gewinnen können.
Gezi schlummert noch
Den Auftakt zu den »wilden« Jahren seit 2013 bildeten die Gezi-Proteste, eine Bewegung breiter, vielfältiger Schichten also, die nach dem Beginn in Istanbul in Windeseile das ganze Land erfasst hatte. Gezi führte zu einer veritablen Krise des herrschenden Blocks, da die popularen Schichten sich nicht mehr so regieren lassen wollten wie bisher. Die sich im Anschluss entfaltende multiple Krisendynamik resultiert genau aus dieser Weigerung, dem Widerspruch eines breiten Teils der Bevölkerung und dies ist auch der Hauptgrund, weshalb Gezi das Regime bis heute umtreibt.
Neben der gut organisierten kurdischen Bewegung sind auch die anderen gesellschaftlichen Akteur*innen, die bei den Gezi-Protesten eine Rolle spielten, nicht klein zu kriegen. Allen voran die Frauenbewegung, Alevit*innen, Arabische Alevit*innen, Ökologie-Initiativen, die LGBTI-Bewegung und die in verschiedenen Sektoren arbeitenden abhängig Beschäftigten. Die Stärke von Gezi war das Zusammenführen all dieser Gruppen, und auch eine potenzielle demokratische Republik kann nur durch sie aufgebaut werden.
Doch sind diese Bewegungen keine Selbstläufer. Die Kräfte der Restauration versuchen, sie in ihr eigenes politisches Projekt einzubinden, indem der Wunsch dieser Menschen nach Demokratie und Freiheit kanalisiert wird. Dass gesellschaftliche Forderungen und Wünsche im Moment eher auf Imamoglu projiziert werden, ist auch der Schwäche der organisierten Linken geschuldet, die in den vergangenen Jahren zerfiel, zum Teil durch Repression, zum Teil weil sie es nicht schaffte, angesichts der sich überschlagenden Ereignisse effektive politische Führung zu übernehmen.
Da die Restauration aber strukturell nicht in der Lage ist, eine wirklich demokratische Republik aufzubauen, werden diese an Imamoglu gerichteten Forderungen und Wünsche enttäuscht werden. Es liegt an Linken, sie aufzugreifen, sie zu ihren zu machen, zu organisieren – und so die Möglichkeiten einer demokratischen Revolution in der Türkei zu schaffen. Aufgrund der bemerkenswerten Resilienz der gesellschaftlichen Bewegungen, die sich trotz aller Repression nicht unterdrücken lassen, besteht diese Möglichkeit weiterhin.
Max Zirngast ist Journalist und lebt in Ankara. Von September bis Dezember 2018 saß er in der Türkei in Untersuchungshaft.
Türkisch-russischer Rüstungsdeal vertieft Gräben in der Nato
»Wir haben es bereits gekauft« und: »Es ist ein abgeschlossener Deal«. Dies stellte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Mitte Juni auf einer öffentlichen Veranstaltung der AK-Partei klar. Es war der vorläufige Höhepunkt eines sich hochschaukelnden Streits zwischen seiner Regierung und der der USA, unter Nato-Partnern also. Bei dem Deal handelt es sich um den Einkauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400. Er sei abgewickelt, das System werde noch im Juli geliefert, kommunizierte Erdogan. Die Regierung Trump hatte zuvor monatelang diesen Handel zwischen Moskau und Ankara zu verhindern versucht. Weil die Türkei sich aber weigerte, dem Druck aus Washington nachzugeben und auf dem Waffengeschäft beharrte, wurde von US-amerikanischer Seite mit Sanktionen gedroht. 100 F-35-Kampfflugzeuge, die die Türkei wiederum bei US-Herstellern geordert hatte, würden unter diesen Umständen – aus Sicherheitsbedenken – nicht geliefert, ließ die US-Regierung wissen. Es ist ein weiteres Mal in kurzer Zeit, dass es deutliche Spannungen zwischen den beiden Nato-Partnern gibt: Im vergangenen Jahr hatte die Inhaftierung des US-Pastors Andrew Brunson in der Türkei schon für Verstimmungen gesorgt, ebenso wie das Gerichtsverfahren gegen einen führenden Banker der türkischen Halkbank in den USA. So eng wie einst ist das Verhältnis längst nicht mehr, zu unterschiedlich auch die Interessen beider Länder in der Region. Zugleich bleibt die Türkei nicht nur Nato-Partnerin, sondern auch geostrategisch höchst bedeutsam aus Sicht der USA.