Die Ereignisse in Ägypten rufen Erinnerungen an die revolutionären Aufstände wach, die Anfang 2011 den langjährigen Diktator und Statthalter des Imperialismus in der Region, Hosni Mubarak, zu Fall brachten. Berichten zufolge fanden am vergangenen Wochenende zahlreiche Demonstrationen im ganzen Land statt. Diesmal richten sie sich gegen General Abdel Fatah al-Sisi, der sich 2013 an die Macht putschte und seitdem das Land brutal unterjocht.
„Irhal, Irhal“ [Verschwinde, Verschwinde], „Das Volk will den Sturz des Regimes“ oder „Sag es! Hab keine Angst! Sisi muss gehen!“ lauteten die Sprechchöre, die am Wochenende durch zahlreiche ägyptische Städte hallten. Die Proteste begannen in der Hauptstadt Kairo, wo sich am Freitagabend mehrere hundert Demonstranten auf dem Meidan al-Tahrir, dem zentralen Platz der ägyptischen Revolution, versammelten.
Proteste in Kairo (AP Photo/Nariman El-Mofty)
Schnell breiteten sie sich auf andere Regionen aus, fernab von der Hauptstadt. Tausende meist sehr junge Demonstranten gingen unter anderem in den Küstenstädten Alexandria und Damiette, in Mansoura und in Suez, der Metropole an der Mündung des Suezkanals, auf die Straße. Bisher gibt es noch keine Berichte über Streiks oder Betriebsbesetzungen, die sich vor acht Jahren wie ein Lauffeuer ausgebreitet hatten. Aber auch in wichtigen Industriestädten wie Mahalla al-Kubra, dem Zentrum der ägyptischen Textilindustrie im Nildelta, gab es Proteste.
Das Regime reagierte nervös und mit Brutalität. In Kairo trieben schwer bewaffnete Sicherheitskräfte am Samstagmorgen die Demonstranten auseinander, und gepanzerte Fahrzeuge riegelten den Tahrir-Platz ab. Auch in anderen Städten wurden die Proteste gewaltsam aufgelöst. Den spärlichen Berichten zufolge gab es mehr als zweihundert Festnahmen. Videos in den sozialen Medien zeigen, wie Einsatzkräfte friedliche Demonstranten jagen und mit Tränengas und Gummigeschossen attackieren.
In Suez, wo trotz der massiven Gewalt auch in der Nacht vom Samstag auf Sonntag erneut Demonstranten auf dem zentralen Arbaeen-Platz zusammenkamen, setzten die Sicherheitskräfte sogar scharfe Munition ein. „Sicherheitskräfte feuerten Tränengas, Gummi und scharfe Munition ab, und es gab Verletzungen“, sagte ein Mann, der an der Demonstration teilnahm und nicht identifiziert werden wollte, der Presseagentur AFP.
Eine andere Bewohnerin berichtete, das Tränengas sei so dick, dass es ihr Appartement ein paar Kilometer entfernt von der Innenstadt erreicht habe. „Meine Nase fing an zu brennen. Der Geruch sickerte durch den Balkon. Ich habe auch einige Jugendliche gesehen, die auf unserer Straße herumlaufen und sich verstecken.“
Unmittelbarer Auslöser für die Proteste war eine Serie von Videos, die der in Spanien lebende ägyptische Schauspieler und Bauunternehmer Mohamed Ali auf seinem Facebook-Account veröffentlicht hat. Darin wirft er Sisi vor, öffentliche Gelder für persönliche Zwecke zu veruntreuen und teure Paläste für seine Familie bauen zu lassen, während die Masse der Bevölkerung in bitterer Armut lebt. Es sei an der Zeit für die ägyptische Bevölkerung, sich zu erheben, sie sei „zahlenmäßig stärker als Armee und Polizei“.
Innerhalb weniger Stunden nachdem Ali, der als Unternehmer selbst viele Jahre mit der ägyptischen Armee zusammengearbeitet hat, die Videos auf Twitter gepostet hatte, wurde der arabische Hashtag #Kifaya_baqi_yaSisi [„Sisi, es reicht“] mehr als 1,5 Millionen Mal geteilt. Viele Nutzer posteten in den sozialen Netzwerken außerdem Bilder und Videos der revolutionären Proteste im Jahr 2011 und kündigten via Twitter an: „Wir werden morgen wieder auf der Straße sein!“ Ali selbst ruft für den kommenden Freitag zu einem „Millionen-Mann-Marsch“ gegen das Regime auf.
Auch wenn die Proteste am Wochenende noch nicht das Ausmaß der Massenproteste von 2011 erreicht haben, lösten sie an der ägyptischen Börse einen Schock aus. Am Sonntag wurde der Handel ausgesetzt, nachdem der EGX 100 um 5 Prozent eingebrochen war. Das sei „definitiv“ auf die „Eskalation am Wochenende zurückzuführen, die die Anleger vorsichtig macht“, erklärte der Direktor von Arqaam Capital in Kairo, Ashraf Akhnoukh.
In ihrem ersten offiziellen Statement am Sonntagmorgen versuchte das ägyptischen Regime, die Bedeutung der Proteste herunterzuspielen. „Im Kontext der Größe Ägyptens als Land mit mehr als 100 Millionen Menschen“ seien sie unbedeutend. Gleichzeitig wies es Journalisten, die über die „Ereignisse in den letzten 24 Stunden“ berichtet hatten, an, keine sozialen Medien als Informationsquelle zu nutzen und sich an die „Berufsregeln“ zu halten. Mit anderen Worten: Wer nicht die Propaganda der Regierung wiedergibt, muss mit Verfolgung rechnen.
Tatsächlich sind die Proteste Ausdruck der enormen sozialen und politischen Opposition, die sich unter der Oberfläche von Sisis blutiger Militärdiktatur aufgestaut hat. Seitdem das Regime im Jahr 2016 einen neuen IWF-Kredit aufnahm und sich dazu verpflichtet hat, die Staatsausgaben zusammenzustreichen und die Subventionen für Gas, Wasser und Brot zu kürzen, ist die ohnehin grassierende Armut weiter explodiert. Laut den offiziellen Zahlen der Regierung lebt jeder dritte Ägypter in Armut, d.h. von weniger als 1,4 US-Dollar am Tag. Der Weltbank zufolge sind sogar 60 Prozent der ägyptischen Bevölkerung arm oder armutsgefährdet.
Um die soziale Ungleichheit aufrecht zu erhalten und die revolutionären Kämpfe der ägyptischen Arbeiter zu unterdrücken, installierte Sisi mit Unterstützung der imperialistischen Mächte eine der brutalsten Diktaturen weltweit. Unmittelbar nach dem Putsch gegen den mittlerweile im Gefängnis verstorbenen islamistischen Präsidenten Mohamed Mursi im Jahr 2013 stürmte das ägyptische Militär zwei Protestcamps und ermordete tausende Regimegegner. Seitdem wurden mehr als 60.000 inhaftiert, etwa 2500 Todesurteile verhängt und mindestens 144 Menschen hingerichtet.
Nun, da die ägyptischen Massen erneut in Kämpfe gestürzt werden, ist es von entscheidender Bedeutung, die Lehren aus den bitteren Erfahrungen der letzten Jahre zu ziehen.
Durch Massenstreiks und Proteste gelang es der ägyptischen und tunesischen Arbeiterklasse 2011 zwar, die von den imperialistischen Mächten unterstützten Diktatoren zu stürzen und die herrschenden Eliten in der gesamten Region und international zu destabilisieren. Doch ohne eine eigene politische Führung konnte die Arbeiterklasse ihre sozialen und demokratischen Bestrebungen nicht verwirklichen. Stattdessen gelang es der herrschenden Klasse, an der Macht zu bleiben, und ihre Politik des Krieges, der Diktatur und des Sozialkahlschlags zu intensivieren.
Der einzige Weg vorwärts ist ein internationaler revolutionärer Kampf der Arbeiterklasse, die bewusst das Ziel verfolgt, den kapitalistischen Staat und den Imperialismus zu stürzen, die Macht zu übernehmen und die Gesellschaft auf der Grundlage eines sozialistischen Programms umzugestalten. Die objektiven Bedingungen dafür sind im Nahen Osten und weltweit herangereift. Das gesamte Jahr ist geprägt von einem Aufschwung des internationalen Klassenkampf. Allein in den vergangenen Monaten fanden Massenproteste im Sudan, in Algerien, Puerto Rico und Hongkong statt. Und auch in den imperialistischen Zentren in Europa und den USA entwickeln sich Kämpfe, wie aktuell der Streik von fast 50.000 Autoarbeitern bei General Motors in den USA.
Der notwendige Aufbau einer unabhängigen Führung der Arbeiterklasse, d.h. einer ägyptischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, erfordert vor allem eine politische Abrechnung mit pseudolinken Kräften wie den Revolutionären Sozialisten (RS), die sich in den letzten Jahren trotz ihres Namens als Anhängsel des ägyptischen Kapitalismus entlarvt haben.
In jeder Phase der Revolution bemühten sich die RS, die Arbeiterklasse der einen oder anderen Fraktion der Bourgeoisie unterzuordnen. Zuerst verbreiteten sie Illusionen in die Militärjunta unter Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, die direkt auf Mubaraks Sturz folgte. Dann unterstützten sie Mursi und die Muslimbruderschaft als „rechten Flügel der Revolution“. Und 2013 stellten sich die RS nach Massenprotesten gegen Mursi erneut hinter das Militär und priesen Sisis Staatsstreich als „zweite Revolution“.
Auf die aktuellen Proteste reagieren die RS mit kaum verhohlener Feindschaft. Eines ihrer führenden Mitglieder, Gigi Ibrahim, die 2011 zusammen mit ihrem Mann Hossam el-Hamalawy von bürgerlichen Medien und Politikern international hofiert wurde, denunzierte sie in ihren ersten Tweets de facto als Verschwörung des Regimes. „Wenn es 2019 einen Protest in Ägypten gibt und die Polizei nicht da ist und eingreift, solltest du als Revolutionär skeptisch sein… Der Raum in den Straßen ist heute Abend nur leicht geöffnet, weil sie [die Proteste] von einer Fraktion des Sicherheitsapparates unterstützt werden.“
Quelle:https://www.wsws.org/de/articles/2019/09/23/egyp-s23.html