Der Neoliberalismus steht buchstäblich in Flammen. Und von Ecuador bis Chile weist wieder einmal Südamerika den Weg. Gegen die bösartigen, uniformen Austeritätsrezepte des IWF, mit seinen ökonomischen Massenvernichtungswaffen zur Vernichtung nationaler Souveränität und zur Schaffung sozialer Ungleichheit, scheint Südamerika endlich dazu überzugehen, die Macht zur Gestaltung seiner eigenen Geschichte zurückzuerobern.
Drei Präsidentschaftswahlen sind im Spiel. Bolivien scheint am vergangenen Sonntag entschieden worden zu sein – auch wen die üblichen Verdächtigen „Betrug!“ schreien. Argentinien und Uruguay kommen nächsten Sonntag dran.
Die Rückschläge gegen das, was David Harvey so schön als Akkumulation durch Enteignung beschrieben hat, sind und werden weiterhin heftig sein. Irgendwann wird es auch Brasilien erreichen – das, so wie es aussieht, von Pinochetischen Geistern in Stücke gerissen wird.
Brasilien wird sich am Ende, nach immensen Schmerzen, wieder erheben. Schließlich haben die Ausgeschlossenen und Erniedrigten in ganz Südamerika entdeckt, dass sie einen Joker in sich tragen.
Chile privatisiert alles
Die Frage, die auf den Straßen Chiles gestellt wird, ist heftig: „Was ist schlimmer, Steuern hinterziehen oder die U-Bahn blockieren?“ Es ist alles eine Frage der Klassenkampf-Mathematik. Chiles BIP wuchs letztes Jahr um 1,1%, während die Gewinne der größten Konzerne um das Zehnfache stiegen. Nicht schwer herauszufinden, wem dieser riesige Unterschied entzogen wurde. Das Chile auf der Straße weist darauf hin, wie Wasser, Strom, Gas, Gesundheit, Medizin, Verkehr, Erziehung, die Salzseen der Atacama, ja sogar die Gletscher privatisiert wurden.
Das ist klassische Akkumulation durch Enteignung, und für die überwältigende Mehrheit der 19 Millionen Chilenen sind die Lebenskosten unerträglich geworden, ihr durchschnittliches Monatseinkommen liegt nicht höher als $500.
Paul Walder, der Direktor der Zeitung Politika und Analyst für das Latin-American Center of Strategic Analysis (CLAE), weist darauf hin, wie nach weniger als einer Woche nach dem Ende der Proteste in Ecuador – der neoliberale Geier Lenin Moreno wurde gezwungen, die Gaspreiserhöhung zurückzunehmen – in Chile ganz ähnliche Proteste begannen.
Walder beschreibt korrekt den chilenischen Präsidenten Sebastian Pinera als den Truthahn bei einer langen Festtafel, an der die gesamte politische Klasse Chiles beteiligt ist. Kein Wunder, dass die stinkwütende chilenische Straße keinen Unterschied macht zwischen der Regierung, den politischen Parteien und der Polizei macht. Pinera hat, das war zu erwarten, alle sozialen Bewegungen kriminalisiert; die Armee in die Straßen geschickt, um brutal zu unterdrücken; und eine Ausgangssperre verhängt.
Pinera ist Chiles siebtreichster Milliardär, mit einem geschätzten Vermögen von $2,7 Milliarden, verteilt auf Fluglinien, Supermärkte, Fernsehen, Kreditkarten und Fußball. Er ist eine Art turbogeladener Moreno, ein neoliberaler Pinochetist. Pineras Bruder, Jose, war tatsächlich Minister unter Pinochet und jener Mann, der Chiles privatisiertes Gesundheitssystem eingeführt hat – eine Hauptquelle des sozialen Zerfalls und der Verzweiflung. Und alles hängt mit allem zusammen: der gegenwärtige braislianische Finanzminister Paulo Guedes, ein Chicago-Boy, lebte und arbeitete zu jener Zeit in Chile, und er will jetzt dieses absolut katastrophale Experiment in Brasilien wiederholen.
Im Endeffekt hat dieses ökonomische „Modell“, das Guedes in Brasilien einführen will, Chile vollkommen zerstört.
Chiles größter Rohstoff ist Kupfer. Die Kupferminen gehörten historisch den USA, aber 1971 wurden sie von Präsident Salvador Allende verstaatlicht; daher der Plan des Kriegsverbrechers Henry Kissinger, Allende zu beseitigen. Das gipfelte im originalen 9/11, im Jahr 1973.
Die Diktatur unter Pinochet hat die Minen später wieder privatisiert. Die größte davon, Escondida in der Atacama-Wüste – die allein 9% allen Kupfers auf der Welt liefert – gehört dem anglo-australischen Giganten BHP Billiton. Der größte Kunde für Kupfer auf dem Weltmarkt ist China. Mindestens zwei Drittel des Einkommens durch chilenisches Kupfer gehen nicht an das chilenische Volk, sondern an ausländische Multis.
Das argentinische Debakel
Vor Chile war Ecuador zur Hälfte gelähmt: nicht funktionierende Schulen, kein städtischer Nahverkehr, Lebensmittelknappheit, grassierende Spekulation, schwere Störungen beim Ölexport. Durch die Mobilisierung von 25.000 Eingeborenen auf den Straßen stand Präsident Moreno unter Druck und hinterließ in Quito feige ein Machtvakuum, indem er den Amtssitz nach Guayaquil verlegte. In vielen wichtigen Städten und Dörfern übernahmen Ureinwohner die Regierungsgeschäfte. Die Nationalversammlung war für fast zwei Wochen abwesend, ohne den Willen, auch nur eine Lösung der politischen Krise zu versuchen.
Mit der Verkündung eine Notstands und einer Ausgangssperre legte Moreno der Armee einen roten Teppich aus – und Pinera hat das in Chile gebührend wiederholt. Der Unterschied ist, dass in Ecuador Moreno auf ein Spalte und Herrsche zwischen der Bewegung der Eingeborenen und dem Rest der Bevölkerung setzt, während Pinera sich direkt auf brutale Gewalt verlässt.
Neben
der alten Taktik der Preiserhöhung zur Beschaffung weiterer IWF-Mittel
bietet Ecuador auch eine klassische Gliederung
zwischen einer neoliberalen Regierung, dem Großkapital und dem
sprichwörtlichen US-Botschafter, in diesem Fall Michael Fitzpatrick,
einem ehemaligen stellvertretenden Außenminister für
Angelegenheiten der westlichen Hemisphäre, der bis 2018 für die
Andenregion, Brasilien und den Südkegel zuständig war.
Der deutlichste Fall eines totalen neoliberalen Scheiterns in
Südamerika ist Argentinien. Vor weniger als zwei Monaten sah ich in
Buenos Aires die bösartigen sozialen Auswirkungen des Pesos im
freien Fall, die Inflation bei 54%, eine de facto
Nahrungsmittelknappheit und die Verarmung selbst solider Sektoren der
Mittelschicht. Die Regierung von Mauricio Macri hat buchstäblich den
größten Teil des 58 Milliarden Dollar schweren IWF-Darlehens
verbrannt – 5 weitere Milliarden Dollar werden noch erwartet. Macri wird
die Präsidentschaftswahlen verlieren: Die Argentinier werden
seine riesige Rechnung bezahlen müssen.
Macris Wirtschaftsmodell konnte nicht anders als das von Pinera sein
– eigentlich das von Pinochet, wo öffentliche Dienstleistungen als
Unternehmen geführt werden. Eine wichtige Verbindung
zwischen Macri und Pinera ist die ultra-neoliberale Freedom Foundation, gesponsert von Mario Vargas Llosa der zumindest die ausgleichende Eigenschaft besitzt, vor langer Zeit ein
anständiger Schriftsteller gewesen zu sein.
Macri, ein Millionär, Schüler von Ayn Rand und unfähig, gegenüber
irgendjemandem Empathie zu zeigen, ist im Wesentlichen eine Chiffre, die
von seinem ecuadorianischen Guru Jaime Duran Barba als
Roboterprodukt aus Data Mining, sozialen Netzwerken und Fokusgruppen
gefertigt wurde. Eine urkomische Sicht auf seine Unsicherheiten findet
sich in La Cabeza de Macri: Como Piensa, Vive y
Manda el Primer Presidente de la No Politica, von Franco Lindner. (Anm.d.Ü.: Macri’s Kopf: Wie der erste unpolitische Präsident denkt, lebt und befiehlt )
Neben den unzähligen Mauscheleien ist Macri indirekt mit der
fabelhaften Geldwäschemaschine HSBC verbunden. Der Präsident von HSBC in
Argentinien war Gabriel Martino. Im Jahr 2015 wurden bei HSBC
in der Schweiz viertausend argentinische Konten im Wert von 3,5
Milliarden Dollar entdeckt. Diese spektakuläre Kapitalflucht wurde von
der Bank entwickelt. Doch Martino wurde im Wesentlichen von
Macri gerettet und wurde zu einem seiner wichtigsten Berater.
Hüte dich vor den Projekten der IWF-Geier
Alle Augen sollten jetzt auf Bolivien gerichtet sein. Zum Zeitpunkt dieses Schreibens gewann Präsident Evo Morales in der ersten Runde die Präsidentschaftswahlen am Sonntag – und erhielt mit knapper Mehrheit die notwendigen 10% Vorsprung, die ein Kandidat erreichen muss, wenn er die 50% plus eine der Stimmen nicht erhält. Morales hat es im Wesentlichen am Ende geschafft, als die Stimmen aus den ländlichen Gebieten und dem Ausland vollständig ausgezählt waren und die Opposition bereits begonnen hatte, auf die Straße zu gehen, um Druck auszuüben. Es überrascht nicht, dass die OAS – die den US-Interessen unterwürfig ist – ein „mangelndes Vertrauen in den Wahlprozess“ verkündet hat.
Evo Morales ist ein Projekt für eine nachhaltige, integrative Entwicklung und vor allem unabhängig von den internationalen Finanzen. Kein Wunder, dass der gesamte Washington Konsensus-Apparat seinen Mut hasst. Wirtschaftsminister Luis Arce Catacora brachte es auf den Punkt: „Als Evo Morales 2005 seine erste Wahl gewann, waren 65% der Bevölkerung einkommensschwach, jetzt haben 62% der Bevölkerung Zugang zu einem mittleren Einkommen.“
Die
Opposition, ohne Pläne, mit Ausnahme von wilden Privatisierungen, und
ohne jegliche sozialpolitische Bedenken, kann nur
noch „Betrug“ schreien, aber das könnte in den nächsten Tagen eine
sehr böse Wendung nehmen. In den schicken Vororten des südlichen La Paz
ist der Klassenhass gegen Evo Morales ein
Lieblingssport: Der Präsident wird als „Indio“ bezeichnet, als
„Tyrann“ und „Unwissender“. Die Cholos aus dem Hochland werden von
weißen Landbesitzeliten in den Ebenen routinemäßig als „böse
Rasse“ definiert.
Nichts davon ändert etwas an der Tatsache, dass Bolivien heute die dynamischste Wirtschaft Lateinamerikas ist, wie der argentinische Top-Analyst Atilio Boron betonte.
Die Kampagne zur Diskreditierung von Morales, die noch bösartiger werden wird, ist Teil des imperialen 5G-Krieges. Morales beseitigt, wie Boron schreibt, „die chronische Armut, unter der die absolute Mehrheit der Bevölkerung seit Jahrhunderten leidet“, völlig. Einen Zustand, der die Bevölkerung immer „unter völligem Mangel an institutionellem Schutz hält“, und die „Plünderung von natürlichem Reichtum und Gemeinwohl“.
Natürlich wird das Gespenst der IWF-Geierprojekte in Südamerika nicht wie durch Zauber verschwinden. Auch wenn die üblichen Verdächtigen laut Berichten der Weltbank jetzt „besorgt“ über die Armut zu sein scheinen; die Skandinavier bieten den Nobelpreis für Wirtschaft drei Akademikern an, die Armut studieren; und Thomas Piketty versucht in Capital and Ideology, die hegemoniale Rechtfertigung für die Akkumulation von Reichtum zu demontieren.
Was für die Hüter des gegenwärtigen Weltsystems immer noch völlig tabu ist, ist die Untersuchung des Hardcore-Neoliberalismus als Grundursache für die Überkonzentration von Reichtum und für die soziale Ungleichheit. Es reicht nicht mehr aus, Pflaster anzubieten. Die Straßen Südamerikas stehen in Flammen. Die Rückschläge sind nun in vollem Umfang in Kraft.
Quelle:https://www.theblogcat.de/uebersetzungen/brenne-neoliberalismus-brenne-23-10-2019/