In einer Erklärung rufen mehr als 70 Akademiker*innen, Aktivist*innen und unabhängige politische Gruppen die globale Linke dazu auf, ihr Schweigen zu brechen und ihre Solidarität mit den iranischen Protesten zum Ausdruck zu bringen.
Verfasst wurde die Erklärung von einem losen Zusammenhang iranischer Exil-Linker – Akademiker*innen und Aktivist*innen – aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland, um die laufenden Proteste im Iran zu unterstützen.
Die vollständige Liste der Unterzeichner*innen, darunter auch David Harvey, Catherine Malabou und Etienne Balibar, findet ihr hier [https://docs.google.com/document/d/1d_Gx5yEv2GzZWCOKXpgVwKsGsI20sIf-xiIcZUo_FoQ/edit]
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„Wir protestieren gegen Probleme des gesamten Systems im Allgemeinen. Wir haben eine Krise erreicht, in der wir festgestellt haben, dass das System nicht mehr damit umgehen kann.„
– ein chilenischer Demonstrant
Unsere Welt steht in Flammen. Es brennen nicht nur Wälder sondern auch Städte auf der ganzen Welt. Unterschiedlichste soziale Konflikte brechen aus und verbreiten ihre Flammen über den gesamten Planeten: Algerien, Chile, Ecuador, Haiti, Hongkong, Irak, Libanon, Sudan usw., überall. Innerhalbdieses globalen Kontextes der Kämpfe gegen die soziale Hölle des neoliberalen finanzialisierten Kapitalismus hat es seit dem 15. November 2019 auch einen weiteren Massenaufstand im Iran gegeben.
Ausgelöst durch eine plötzliche Verdreifachung des Benzinpreises haben Zehntausende in über 100 Städten im ganzen Land zu protestieren begonnen. Natürlich hat nicht die Erhöhung des Benzinpreises allein einen derart großen und weitreichenden Aufstand hervor gebracht. Vielmehr war es die 40-jährige Herrschaft der privilegierten Oligarchie auf der Grundlage von Autoritarismus, dem systematischen Ausschluss jeder Opposition, von Entrechtung und Enteignung, die Millionen von Menschen in Arbeitslosigkeit, Armut und extreme Unsicherheit getrieben und ihnen damit den Zugang zu elementaren Lebensgrundlagen entzogen hat (Bildung, Gesundheitsversorgung, Essen und Unterkunft). So wie in Chile die Erhöhung der U-Bahn-Preise um 30 Cent das bereits flackernde Feuer des Unmuts in ein Inferno verwandelt hat, so hat der Benzinpreis den neusten Aufstand im Iran entfacht (dasselbe gilt für die sogenannte Whatsapp-Steuer im Libanon, die Abschaffung der Subventionen für Benzin und Diesel in Ecuador usw.). „Es geht nicht um 30 Pesos“ beschreibt ein Plakat in Chile die Stimmung, „es geht um 30 Jahre Neoliberalismus“.
Seit Freitag kämpfen die Menschen im Iran mutig gegen die schwer bewaffneten Kräfte der Revolutionsgarden des Regimes und gegen zivile Schlägertrupps (bekannt als Basij), die finanziell vom Regime abhängig sind. Die Menschen haben jedes ‚Recht‘ der Welt sich gegen die systematische staatliche Gewalt zu verteidigen, in dem sie in den Straßen Barrikaden errichten, Autobahnen blockieren und lokale Orte und Kreisverkehre besetzen. Die Vergessenen und Unsichtbaren im Iran haben sich selbst sichtbar gemacht, indem sie Feuer entfachten. Was das Feuer für diese Menschen ist, ist die gelbe Weste für die Überflüssigen und das Proletariat in Frankreich. Beides gibt den Sprachlosen eine Stimme. Während das Fernsehen von BBC-Farsi und seine Anhänger, darunter auch reaktionäre Kräfte, die liberale Doktrin des „friedlichen, zivilen Protestes“ vorschreiben, sind sich die jungen Menschen im Iran sich der Tatsache bewusst, dass „ein Volk ohne Hass nicht gewinnen kann“, dass „materielle Gewalt durch materielle Gewalt gestürzt werden muss“ und dass sie das Recht haben, sich mit legitimen Widerstand gegen die staatliche Gewalt zu verteidigen, die systematisch darauf zielt, Bürgerinnen und Bürger zu töten.
`Es reicht, genug ist genug` ist die Botschaft der Menschen des Globalen Südens und darüber hinaus. Wie Studierende in einer der Universitäten von Teheran gerufen haben: „die Menschen haben es satt, Schluss mit der Sklaverei“. Wie unsere Schwestern und Brüder im Irak und im Libanon, so haben auch die Menschen im Iran die Nase absolut voll vom autoritären Kapitalismus, der ihr Leben zu einer bloßen vegetierenden Existenz reduziert, von der systematischen Korruption, die dem Mafia-Kapitalismus inhärent ist und vom Sub-Imperialismus der Islamischen Republik im Irak, Libanon, Palästina, Syrien, Yemen und der gesamten Region. Sie lehnen nicht nur die Verdreifachung des Benzinpreises ab, sondern die Islamische Republik als Ganzes. Nichts kann den Geist der Kämpfe in der gegenwärtigen Situation besser ausdrücken, als die von unseren Genoss*innen im Libanon so treffend gerufene Parole: „Alles heißt alles“: كلن يعني كلن.
Die herrschende Klasse hat auf diese radikale und praktische Negation aller bestehenden Macht- und Unterdrückungsverhältnisse mit eiserner Faust geantwortet. Die systematische Gewalt, welche die Islamische Republik angewendet hat, um die Aufstände zu ersticken, ist in ihrem Ausmaß und ihrer Intensität historisch beispiellos.
Die Behörden haben das Internet an vier aufeinander folgenden Tagen komplett abgeschaltet und das Land damit in eine große Blackbox verwandelt. So konnten sie die Leute ungestört abschlachten. Laut Angaben von Amnesty International wurden Hunderte von Menschen verletzt, Tausende verhaftet und „mindestens 106 Demonstrant*innen in 21 Städten getötet“, wobei „die tatsächliche Todesziffer viel höher sein kann, mit einigen Berichten von bis zu 200“. Es gibt viele Videos, die zeigen, dass die Polizei direkt auf Kopf und Brust von Demonstrienden schießt – wie wir es zuvor im Irak erlebt haben. Diese Methode wurde insbesondere in den kurdischen und arabischen Provinzen angewandt, deren diskriminierte Bevölkerung einmal mehr an der Spitze der Aufstände stand und dafür den höchsten Preis zahlen musste.
Die Islamische Republik hat ihre Ziele bislang erfolgreich erreicht. Sie hat die Gelegenheit der US-Sanktionen genutzt, um ihre neoliberalen Träume zu verwirklichen und damit sowohl das aktuelle Haushaltsdefizit auszugleichen als auch ihre militärischen Operationen in der Region auszuweiten. Zu diesem Zweck haben sie das Internet abgeschaltet um dann ihre Gegner*innen brutal niedermetzeln konnten.
Auf internationaler Ebene gab es keine nennenswerte Medienberichterstattung, keine internationale Verurteilung der staatlichen Repression und nur sehr wenig Solidarität von der globalen Linken – mit anderen Worten, das Blutbad konnte in Stille vollzogen werden. Das liegt zum Teil auch daran, dass viele Linke immer noch an die ideologische Selbstdarstellung des Regimes als antiimperialistische Kraft glauben, die gegen die USA und ihre Verbündeten in der Region stehe, im Gegenteil zu den unterdrückten Klassen im Iran und im Mittleren Osten selbst, die diesbezüglich keine Illusionen haben. Die Linke muss von den unterdrückten Klassen lernen und sich gleichzeitig gegen den US-Imperialismus (insbesondere die US Sanktionen) und gegen die Interventionen der Islamischen Republik in der Region stellen.
Wir, die unterzeichnenden Akademiker*innen und Aktivist*innen, rufen die globale Linke dazu auf, ihr Schweigen zu brechen und ihre Solidarität mit der iranischen Bevölkerung und ihrem Widerstand zum Ausdruck zu bringen. Wir halten es für sinnlos, von der Islamischen Republik irgendetwas zu fordern, aber wir fordern unsere Genoss*innen auf der ganzen Welt auf, den unterdrückten Menschen im Iran, deren Stimmen von der erzwungenen Isolation erstickt wurden eine Stimme zu geben – in jeder möglichen Form. Wir rufen die internationale Linke zudem dazu auf, die Gräueltaten des Regimes gegenüber der eigenen Bevölkerung zu verurteilen. Schließlich stellen wir uns an die Seite der Protestierenden im Iran, die ihre Würde zurück gewinnen, in dem sie die Austerität, den Autoritarismus und die Militarisierung der Gesellschaft ablehnen, genauso wie alle anderen Formen der Unterdrückung, die ihre Autonomie und Freiheit ersticken.
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* Die englische Version findet ihr unter: https://roarmag.org/2019/11/25/leftists-worldwide-stand-by-the-protesters-in-iran/
** Die Liste der Unterzeichner*innen bleibt bis zum 5. Dezember offen und wird täglich aktualisiert. Ihr könnt eure Unterstützung unter folgender Email mitteilen:
Unterzeichnet von:
Adrienne Bonnet (Comédienne/Metteure en scène)
Arnaud François
Amin Hosouri (Leftist militant, Germany)
Amir Kianpour
Dr. Angela Dimitrakaki (University of Edinburgh)
Antifascist Culture (Αντιφασιστικός Πολιτισμός, Greece)
Azadeh Shourmand (Feminist militant)
Dr. Barbara Umrath (Researcher, Germany)
Behnam Amini (York University, Canada)
Behrang Pourhosseini (ATER Chargé de Cours au Département de Philosophie, Université Paris 8 Vincennes Saint-Denis)