Wir haben mit der HDP-Abgeordneten von Adana, Frau Meral Danış Beştaş, über das bevorstehende Referendum über die Präsidial-Verfassung gesprochen und sie gefragt, welche Kampagnen die HDP diesbezüglich geplant hat. Die Abgeordnete ist auch Mitglied der Verfassungskommission des türkischen Parlaments.
„Die Regierung soll keine Erwartungen an die kurdischen Städte haben, sie werden in diesen Gebieten keine Stimmen bekommen“ sagt Meral Danış Beştaş. Was die Erdogan und Bahceli (MHP- Vorsitzender) Koalition bedeutet, wissen die KurdInnen am besten. Bei dem Referendum ist ein Boykott oder ein Ja keine Option für sie. Und die HDP wird mit ihren Kampagnen für ein NEIN mobilisieren.
Sendika.Org: Die HDP hat erklärt, dass sie eine Nein-Kampagne starten wird mit dem Appell: „Man kann Erdogan mit demokratischen Mitteln verhindern, das ist möglich und notwendig“. Wie will die HDP vor dem Hintergrund des verhängten „Ausnahmezustandes“ und der Tatsache, dass sie gerade sowieso Zielscheibe der staatlichen Repression ist, denn für die Kampagne mobilisieren?
Meral Danış Beştaş: Der Begriff „Ausnahmezustand“ beschreibt den jetzigen Zustand nicht wirklich, sondern wir haben es vielmehr mit einem Putsch-Zustand zu tun. Sie machen eigentlich das Gleiche, was die Putschisten vom 15. Juli gemacht hätten, wenn sie erfolgreich gewesen wären. Um diese Putsch-Situation gesetzlich abzusichern, haben sie den „Ausnahmezustand“ verhängt. Dieser wird aber nicht mal vom jetzigen Grundgesetz abgedeckt. Das ist das eigentliche Thema, das wir bei diesem Referendum in den Fokus stellen und diskutieren müssen.
Die HDP wird ihre Kampagne unter diesen Umständen mit maximaler Kraft angehen, um einen demokratischen Druck aufzubauen. Die Presse und die Medien sind für uns nicht zugänglich. Wir werden unsere Stimme deshalb in den sozialen Medien und mit alternativen Methoden verbreiten.
Letztlich sieht jede und jeder in der Türkei, wie die Situation für uns ist. Sie ist begrenzt und geschlossen. Obwohl es uns nicht möglich ist, den Massen ausreichend nahe zu kommen, merken wir bei Veranstaltungen und Gesprächen, dass die Menschen bereits wissen, wie die Situation ist. Das ist natürlich erfreulich. Das heißt, unser Volk und unsere Wähler und Wählerinnen wissen Bescheid, warum und für was die gegen uns gerichteten Operationen durchgeführt werden. Sie wissen, dass die Machthaber in der HDP ein Hindernis sehen und deshalb versuchen, mit den Repressionen die HDP arbeitsunfähig zu machen. Weil die Massen diese Wahrheit kennen, glauben wir, dass unsere Bemühungen sehr kraftvoll belohnt werden.
Wir werden die Bedingungen aufs Neue bezwingen müssen. Wie werden wir das machen? Die Wohnungen, die Straßen, die Stadtteile gehören uns. Wir haben unsere Wahlkampagnen auch bisher nicht mit staatlichen Mitteln geführt, sondern mit unseren eigenen Möglichkeiten. Mit unserer eigenen Kraft, mit dem Potential der Menschen, mit Willensstärke und Glaube haben wir es bisher geschafft. Während unserer Kampagne werden wir wieder Hausbesuche machen, Veranstaltungen auf der Straße, in Cafés, an Einkaufsorten, von Angesicht zu Angesicht, durch Begegnungen mit Menschen werden wir all diese Methoden verwenden. Nichts ist unlösbar.
Sendika.Org: Es gibt das negative Bild in den Köpfen, dass die HDP Basis in der Zeit, als die Regierung die HDP-regierten Stadtverwaltungen unter Treuhand gestellt hat, nicht hinter ihrer Gemeindeverwaltung gestanden hätte. Wieso sollte es bei der Kampagne für den Referendumsprozess anders laufen?
Meral Danış Beştaş: Dieses Bild wurde in der Öffentlichkeit besonders von der Regierungspartei bewusst verbreitet. Es gibt momentan eine große Ablehnung und Wut gegen die Treuhänder. Damit diese Wahrheit nicht an die Öffentlichkeit kommt, versuchen sie das Internet und alle anderen Kommunikationsmittel zu blockieren. Und nicht mal drei Personen dürfen auf der Straße zusammen kommen ohne Repression zu erfahren. Die Situation war bei der letzten Treuhandaktion genauso.
Ich sage das, weil ich es selbst gesehen und beobachtet habe. Man kann die Stadtverwaltungen nicht mehr als solche identifizieren. Sie wurden in Polizeireviere verwandelt. Sie machen nicht mehr die Arbeit, die sie eigentlich machen sollten. Es wurde alles so konstruiert, um die Treuhänder mit Hunderten an Sicherheitskräften, Panzern und Wasserwerfern zu schützen. Nicht mal wir, die Abgeordneten, dürfen die Stadtverwaltungen betreten. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, die vor der Zuweisung der Treuhänder begann. Zum Beispiel hat die HDP bei den Bürgerschaftswahlen in der Gemeinde Baskale über 90% der Stimmen gewonnen – jetzt sitzt da ein Treuhänder. Es ist inakzeptabel, wenn ein mit 95 % der Stimmen gewählter Bürgermeister aus seinem Dienst entlassen wird.
Also es ist nicht so, dass die Bevölkerung nicht auf die Straßen gegangen ist. Die Proteste sind vielmehr durch die aufgezwungenen Putschverhältnisse verhindert worden. Aber das Referendum ist nicht damit zu vergleichen. Sie können nicht die Bevölkerung daran hindern, zur Stimmenabgabe zu gehen. Jeder merkt das. Unsere WählerInnen setzen sich von anderen ab, weil sie politisiert sind. Wir reden hier von einem Teil der Bevölkerung, der die Probleme der Türkei kennt, der die kurdische Situation kennt, der sich mit der Mehrheitsfrage auskennt und ihre Nachteile erlebt hat, selbst von der Spaltungspolitik betroffen war und der glaubt, dass der einzige Weg für die Türkei aus der Krise die Demokratie ist.
Sendika.Org: Während die Regierung ihre Zukunft in der Polarisierung der Bevölkerung und Feindschaft gegenüber den Kurden und Kurdinnen sieht, geben einige der Sprecher der Regierung Erklärungen ab, in denen sie betonen, “wir brauchen die kurdischen Stimmen“. Was sagen Sie dazu?
Meral Danış Beştaş: Die Kurden und Kurdinnen kennen solche Reden der Regierung. Sie haben am eigenen Leib erlebt, was für eine Politik die Regierung im vergangenen Jahr verfolgt hat. Wir haben, in Cizre, in Nusaybin, in Sirnak, in Sur, in Yüksekova und noch an vielen andern Orten Verwüstungen und Morde an vielen Menschen und einen schrecklichen Zeitraum erlebt. Jetzt ist Sirnak keine Stadt mehr. Ein Großteil der Stadt ist verwüstet und dennoch Stimmen dort zu erwarten, ist nichts anderes als Dummheit. Die Kurden und Kurdinnen wissen sehr genau, was die Koalition zwischen Erdogan und Bahceli bedeutet. Ich will nicht alle AKP und MHP Mitglieder über einen Kamm scheren, aber das Bündnis zwischen Erdogan und Bahceli ist ein kurdenfeindliches Bündnis.
Natürlich brauchen sie die Stimmen der KurdInnen, genauso wie alle anderen Stimmen auch. Aber das Ein-Mann-Regime, das sie schaffen wollen, ist nicht zugunsten der Menschen in der Türkei. Das ist ein für einen einzigen Mann erschaffener Verfassungsvorschlag. Deshalb ist es nicht für alle akzeptabel. Wir werden das erklären, aber die kurdischen WählerInnen sind in der Lage das besser zu verstehen als die anderen. Das kurdisches Volk, die demokratischen Kräfte der Türkei, Linke und SozialistInnen wissen aus ihren Erfahrungen, was dieses Bündnis bedeutet und sie werden sich dagegen stellen. Ich hoffe dass diese Regierung auf die Stimmen der Kurd_innen baut, denn von denen bekommen sie keine Stimmen.
Sendika.Org: Kann es sein, dass die Regierung versuchen wird, die Kurd_innen daran zu hindern, zur Abstimmung zu gehen oder auf die eine oder andere Art zum Boykott zu zwingen?
Meral Danış Beştaş: Ohne Zweifel, die Kräfte, die uns gegenüber stehen, werden keinen Versuch auslassen. Aber man darf nicht vergessen, dass es in diesen Gebieten trotz aller Schikanen starken Widerstand gegeben hat. Jetzt wird es genauso sein. Der Versuch, einen Boykott herbeizuführen, ist eine zwecklose Bemühung. Ein ganzes Volk wird sich gegen die Regierung stellen, nicht nur die Führung der HDP oder wir. Die Rede ist hier von politisierten, in ihrer Geschichte benachteiligten und im immer selben Zustand lebenden Menschen. Also nicht von Menschen, die nichts wissen und alles glauben, was ihnen gesagt wird. Deshalb glaube ich, all diese Manipulationsversuche sind zwecklos.
Wir sagen den WählerInnen , sie sollen sich nicht hindern lassen, an der Wahl teilzunehmen und haben unsere Arbeit in diese Richtung gestartet. Die eigenständige Wahlbeobachtung sowie die Schutzmaßnahmen um eigene Stimmen haben sich in den vergangenen Wahlen bewährt. Wir kommen aus einer Tradition, in der eine Stadt in 4-8 Gebiete geteilt wurde und wir mit unabhängigen KandidatInnen zur Wahl gegangen sind, die Wahlurnen und damit auch unsere eigenen Stimmen geschützt haben.
. Wir werden das dieses Mal auch schaffen. Niemand sollte diese Spekulationen ernst nehmen.
Sendika.Org: Welche Auswirkungen könnten die Verläufe in Syrien auf diesen Prozess haben?
Meral Danış Beştaş: Die Syrienpolitik der Regierungspartei ist gegen KurdInnen gerichtet. Die Bevölkerung sieht die kurdenfeindliche Politik der Regierung auch in Diyarbakir, Mardin, Siirt. Wie das Volk in Kobane gegen die Attacken des IS gemeinsam Widerstand geleistet hat, geht es heute um den Widerstand gegen die Kurdenfeindlichkeit. Dem Volk ist bewusst, wie es sich im Referendum verhalten soll, sie wissen das genau und zeigen es auch.
Sendika.Org: Wird es Probleme unter den Gruppen, die “Nein“ sagen wollen, geben?
Meral Danış Beştaş: Hier ist das Wichtigste, dass wir den Vorschlag des Ein-Mann-Regimes ablehnen. Die Gründe für ein “Nein“ können unterschiedlich sein, aber ein Wettbewerb und Konkurrenzkampf unter den “Nein“ BefürworterInnen finden wir nicht richtig. Jede und jeder sollte einfach sein Ziel erreichen. Wir reden von der gesamten Türkei. Wir werden dort, wo die äußeren Umstände es uns ermöglichen, unsere Kampagnen führen. Und dort, wo sie es uns nicht ermöglichen, werden wir sie mit großer Anstrengung und mit großer Kraft führen müssen.
Übersetzt aus dem Türkischen für Freiesicht.org Sedat G/HB
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