Vor 130 Jahren wurde Ho Chi Minh geboren. Gedanken zur Persönlichkeit des Gründers der Demokratischen Republik Vietnam
Hellmut Kapfenberger: Ho Chi Minh. Vom Schiffsjungen zum Staatspräsidenten. Politische Biografie. Verlag Wiljo Heinen, Berlin. Erscheint Juni 2020, 600 S., 24 Euro Komplett anzeigenIn Kürze erscheint im Verlag Wiljo Heinen eine umfassende Biographie Ho Chi Minhs von Hellmut Kapfenberger. Wir veröffentlichen daraus vorab in redaktionell gekürzter Fassung das einleitende Kapitel »Gedanken zur Person«. Wir danken Verlag und Autor für die Genehmigung zum Abdruck. (jW)
Es ist der 2. September 1945. Auf dem Ba-Dinh-Platz im Herzen Hanois verliest ein kleiner, hagerer Mittfünfziger mit fester Stimme von einer über Nacht eilends errichteten Tribüne herab einen von ihm selbst auf einem einfachen Stück Papier niedergeschriebenen Text, der unauslöschlich in die Geschichte eingehen sollte – die Erklärung über die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Vietnam. Fast eine Million Menschen, Alte und Junge, Männer, Frauen und Kinder, Arbeiter, Bauern, Soldaten, buddhistische Geistliche, auch Angehörige des betuchten Bürgertums, aus allen Vierteln der Hauptstadt am Roten Fluss (Song Hong) und den umliegenden Provinzen zusammengeströmt, sehen und hören zum ersten Mal jenen Mann, dessen Name Nguyen Ai Quoc vielen von ihnen schon lange bekannt oder gar vertraut gewesen ist. Nun steht er als Ho Chi Minh erstmals leibhaftig vor ihnen.
Wer ist dieser Ho Chi Minh, längst unumstrittener, anerkannter Führer im antikolonialen Befreiungskampf seines Volkes, jener Mann, dessen Stimme gut vier Jahre zuvor nur als geschriebenes Wort einzig auf geheimen Wegen aus dem Ausland nach Vietnam hatte gelangen können und dennoch Millionen zu mobilisieren vermochte? Wer ist der, dessen Gedanken und Appelle nur per Mundpropaganda selbst in die entferntesten Winkel des Landes getragen worden waren, von unerschrockenen Revolutionären meist in strengster Konspiration und unter Lebensgefahr? Wo kam er her, was für ein Elternhaus hatte er, was für ein Mensch war er, der so vehement, unbeirrbar, auf entbehrungsreichem Weg dem Kolonialismus den Kampf angesagt, für die Freiheit und Unabhängigkeit seines Heimatlandes gestritten hat? Wer ist der Mann, der da oben steht, unscheinbar, zur Verwunderung vieler der Versammelten alles andere als eine schillernde Heroengestalt, vielmehr ein Mensch ganz wie einer der Ihren? Weithin dem Namen nach bekannt, geachtet und schon verehrt, im Ausland bereits ein Begriff, und doch noch ein Buch mit sieben Siegeln?
Leben mit Geheimnissen
Historiker, Schriftsteller und Journalisten hätten schon damals und erst recht später gern hinter die Kulissen geschaut. Weder nun, da er auf »seiner« ersten Massenkundgebung in seiner Heimat Geschichte schreiben konnte, noch lange danach gab es einen zu Papier gebrachten Blick auf den Menschen Ho Chi Minh. Es gab ihn nicht im Land seiner Väter, nicht im eigentlich bestens informierten kolonialen »Mutterland« Frankreich, nicht sonstwo in der Welt. Der Grund waren weniger die vielen Pseudonyme, Deck- und Tarnnamen, derer er sich über Jahrzehnte zu bedienen wusste, meist um Geheimpolizisten zu narren. Nein, der Grund war simpel: Viel Aufhebens von sich selbst zu machen war seine Sache nie und sollte es auch bis an sein Lebensende nicht sein. Es war ihm nie um seine Person zu tun. Sollte es um sein Privatleben gehen, war Ho Chi Minh – wie vietnamesische Chronisten vermerkten – auch gegenüber Kampf- und Weggefährten stets wenig gesprächig.
Bernard B. Fall, ein in Österreich geborener und in Frankreich und den USA aufgewachsener Historiker und ausgewiesener Vietnam-Experte aus »mutterländischer« Sicht, gelang es auch 1962 in einem Interview mit Ho Chi Minh in Hanoi nicht, dem Präsidenten Einzelheiten über dessen Leben zu entlocken. »Wissen Sie, ich bin ein alter Mann, und ein alter Mann behält seine kleinen Geheimnisse gern für sich«, war die Reaktion auf Falls Begehr.¹ Pierre Brocheux, französischer Geschichtsprofessor, resümierte 2003 in seiner detailreichen Ho-Chi-Minh-Biographie nach augenscheinlich intensiven Archivstudien an mehreren Orten, dass »gewisse Zeiträume im Leben dieser Person noch im dunkeln liegen und selbst heute noch Fragen zu dem Mann bleiben«.² Diese Erfahrung musste bislang noch jeder machen, der das Wagnis nicht scheute, Ho Chi Minhs Leben und Wirken skizzieren zu wollen, natürlich auch der Autor dieser Biographie.
Als wissensdurstiger 21jähriger ausgezogen, die Welt zu studieren, um kundig gegen koloniales Unrecht angehen zu können, und 35 Jahre später mit der ehrenvollen Bürde betraut, in seiner Heimat das höchste Amt im Staate zu bekleiden, blieb Ho Chi Minh stets seiner Lebensmaxime treu. Sie hieß: Nicht ich bin wichtig. Führerhabitus, Prunk, Privilegien, Orden und Ehrenzeichen? Fehlanzeige! Wie kein anderer Großer seiner Zeit und politischen Couleur war er ein Mensch, der sich – wie Augenzeugenberichte und viele Bilddokumente belegen – nur inmitten seiner Landsleute sichtlich wohl fühlte. Er war halt einer, dem selbst ein voreingenommener seriöser Chronist bescheinigen muss, nicht einfach mit dem Volk und für das Volk gelebt, sondern auch mit ihm gelitten und gedarbt zu haben.
Ein pragmatischer Revolutionär
Ho Chi Minh machte sich auf nationaler Ebene und nicht minder international einen Namen, ohne durch ein herausragendes fundamental-theoretisches Werk in Erscheinung getreten zu sein. Er dürfte auch selbst weit davon entfernt gewesen sein, sich als einer der – wahrhaftig oder vermeintlich – großen Theoretiker des Marxismus oder der um Lenins Namen erweiterten Lehre zu gerieren. Die beispiellosen Bedingungen des Befreiungs- und Unabhängigkeitskampfes Vietnams und seiner eigenen Existenz zwangen ihn zeitlebens, ob im jahrzehntelangen Exil oder in der Heimat, in seinem politischen Handeln in allererster Linie Pragmatiker zu sein. Stützen konnte er sich auf fundiertes, durch reiche praktische Erfahrungen untermauertes Wissen über Kapitalismus und Kolonialismus, auf einen scharfen analytischen Verstand und eine schon früh erworbene, im Laufe der Jahrzehnte gereifte unerschütterliche Überzeugung.
Wenngleich leidenschaftlicher Kämpfer gegen koloniales und imperialistisches Unrecht, so war Ho Chi Minh doch – wie auch prominente Stimmen von Gegners Seite bescheinigen – im reiferen Alter im Gegensatz zu seiner frühen Jugend jeglicher Hass fremd. Weder lebte noch predigte er ihn. Das galt trotz aller Verbrechen der Kolonialmacht für Frankreich und das französische Volk ebenso wie später für die USA und die Menschen in den Vereinigten Staaten. »Liberté, Égalité, Fraternité« (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) war für ihn keine bloße Losung. Beseelt vom Gedanken an ein friedvolles Zusammenleben der Völker, an ein Leben des eigenen Volkes in Frieden und Glück wie an das Gute im Menschen überhaupt, blieb er sich in dieser Frage bis an sein Lebensende treu.
Es bleibt das Geheimnis bürgerlicher Biographen, Historiker und anderer Experten, was sie dazu treiben mag, seit eh und je immer wieder mal zu orakeln, was Ho Chi Minh denn nun gewesen sei. Einen »vietnamesischen Nationalisten und Kommunisten« machte ein österreichischer Geschichtsprofessor in der Person Ho Chi Minhs aus.³ »War Ho Chi Minh mehr Kommunist oder mehr Patriot?« fragte ein westdeutscher Autor, um postwendend eine recht plausible Antwort zu geben: »Das ist eine westliche Frage(ein)stellung. Onkel Ho war Pragmatiker, dem es um die Befreiung seines Volkes ging. Gleichzeitig glaubte er an eine weltweite Solidarität der Unterdrückten und an eine zukünftige klassenlose Gesellschaft und nahm sensibel die Bedürfnisse der einzelnen Menschen wahr. Ganz in der Tradition des Konfuzianismus sah er sich gleichzeitig als Vorbild und Lehrer der Massen und lebte Tugenden wie Bescheidenheit, Demut, Bedürfnislosigkeit und Selbstdisziplin.«⁴
Ob Ho Chi Minh sich selbst als »Vorbild und Lehrer der Massen« verstanden wissen wollte, sei dahingestellt. Unbestritten ist hingegen, dass er in den Kämpfen seiner Zeit wie auch in der Historiographie mit diesem Prädikat versehen wurde und wird. Bei aller Fragwürdigkeit der von manchen Schreibenden so beliebten Schubladenbewertung einer Persönlichkeit kann Ho Chi Minh nicht abgesprochen werden, aus Überzeugung Kommunist und Patriot im besten Sinne gewesen zu sein. Nicht nur in seinem Testament, nicht allein in ungezählten Schriften, nicht bloß während seines dreißigjährigen politischen Agierens im Ausland hat er den überzeugenden Beweis erbracht, dass Vaterlandsliebe und eine unerschütterliche internationalistische Grundhaltung zu einer personifizierten Einheit verschmelzen können.
Stimmen und Urteile
Prominente Persönlichkeiten des Auslands sparten in ihrer Erinnerung an Begegnungen mit Ho Chi Minh nicht mit Anerkennung und Bewunderung. Bertrand Russell, britischer Mathematiker und Logiker, Philosoph und Sozialkritiker, entschiedener Gegner des Vietnamkrieges der USA, der Atomrüstung und des CSSR-Abenteuers des Warschauer Vertrages von 1968, äußerte 1969: »Präsident Ho Chi Minhs selbstloses Trachten nach Unabhängigkeit und Einheit Vietnams im Laufe von mehr als einem halben Jahrhundert haben ihn sowohl zum Vater der Nation als auch zu einem führenden Gestalter der nachkolonialen Welt gemacht.«
Jean Sainteny, im Oktober 1945 von Frankreichs Präsident General Charles de Gaulle als Unterhändler mit dem Ziel nach Hanoi entsandt, Ho Chi Minh für einen vietnamesischen Staat unter französischen Fittichen zu gewinnen, in den folgenden Jahren wiederholt Verhandlungspartner Ho Chi Minhs und schließlich mit ihm so gut wie befreundet, schrieb bereits 1953: »Seit meiner ersten Begegnung mit Ho Chi Minh hatte ich den Eindruck, dass dieser asketische Mann, dessen Gesicht zugleich Intelligenz, Scharfsinn und List widerspiegelte, eine hervorragende Persönlichkeit sei. Seine umfassende Bildung, sein Wissen, seine unglaubliche Aktivität und seine Uneigennützigkeit hatten ihm bei der Bevölkerung außergewöhnliche Achtung und Beliebtheit eingetragen. Was er sprach und tat, seine ganze Haltung zeigten deutlich, dass er einer Gewaltlösung abgeneigt war. Es besteht kein Zweifel, dass er in dieser Periode den Vorsatz hatte, der Gandhi Indochinas zu werden.«
Auf einer Pressekonferenz in Beijing tat Indiens Premierminister Jawaharlal Nehru im Oktober 1954 nach einem offiziellen Besuch in Hanoi kund: »Ich hatte sehr freundschaftliche Gespräche mit Ho Chi Minh. Er versicherte mir, dass sie sich strikt an die Genfer Abkommen⁵ halten werden. (…) Es war mein erstes Treffen mit dem Präsidenten, und ich bin überzeugt, dass er Frieden will.« Auch wolle er, so Nehru, »trotz der jüngsten Geschichte Kontakte mit Frankreich aufrechterhalten«.
Nikita Chruschtschow, nach Stalins Tod ab September 1953 Erster Sekretär des ZK der KPdSU, von 1958 bis 1964 Vorsitzender des UdSSR-Ministerrats, bekannt für demonstrierte Volksnähe und ausgeprägte Bauernschläue, fand 1970 außergewöhnliche Worte der Würdigung: »Religiöse Menschen haben früher oft von heiligen Aposteln gesprochen. Durch die Art, wie Ho Chi Minh lebte und andere Menschen beeindruckte, war er einer dieser ›heiligen Apostel‹. Er war ein Apostel der Revolution. Ich werde nie den Ausdruck seiner Augen vergessen, wie sein Blick in einer besonderen Art von Aufrichtigkeit und Reinheit glänzte. Es war die Aufrichtigkeit eines unbestechlichen Kommunisten und die Reinheit eines Mannes, der der Sache im Grundsatz und in der Praxis treu ist. (…) Jedes seiner Worte schien seinen Glauben zu bekräftigen, dass alle Kommunisten Klassenbrüder sind und daher im Umgang miteinander aufrichtig und ehrlich sein müssen. Ho Chi Minh war wirklich ein ›Heiliger‹ des Kommunismus.«
Doch auch manch einer auf gegnerischer Seite vermochte Ho Chi Minh gewissen Respekt nicht zu versagen. William Fulbright, einst Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des US-Senats, urteilte 1966 nach zwölf Jahren intensiver Bemühungen Washingtons, in Südvietnam ein Staatsgebilde unter US-amerikanischer Kuratel dauerhaft zu etablieren: »Sogar heute, nach allem, was die USA getan haben, um die südvietnamesische Regierung zu stützen, gibt es nur einen Politiker, dessen Namen die Bauern überall in Vietnam kennen: Ho Chi Minh.«⁶
»Wenn auch das revolutionäre Werk Ho Chi Minhs weithin bekannt ist, so bleibt doch noch viel über den Menschen zu sagen. Kein Biograph, sei er auch noch so begabt, kann eine solch vielseitige, solch faszinierende Persönlichkeit wie Ho Chi Minh gänzlich wiederaufleben lassen«, heißt es in einer vietnamesischen Publikation. Deshalb nimmt es auch nicht wunder, dass selbst in eigentlich so simplen Fragen zur Person gestritten wird, wie in der, ob der allgemein als großer Freund der Kinder Geschätzte, bekannt auch für würdevolle Elogen auf die Frauen seines Landes, je eine Familie gegründet hat. Brocheux vermerkt in seiner Biographie: »Das Schlüsselereignis in seinem bewegten Leben war seine Heirat am 18. Oktober 1926 mit Tang Tuyet Minh (…)« Es habe sich um eine 21jährige »chinesische Studentin« und spätere Hebamme gehandelt.⁷ Hingegen meint ein anderer Biograph: »Wir wissen, dass Ho nie verheiratet war und dass er keine Kinder hatte.« Die erfahrene Berliner Vietnamistin Monika Heyder meint: »Ho Chi Minh, der auf beispielhafte Weise konfuzianische und kommunistische Ideale zu verbinden wusste, kämpfte sein Leben lang gegen die unheilvollen Traditionen im vietnamesischen Gesellschaftsvertrag. Er wusste um die Schwierigkeit, als Vietnamese Mitglied einer Familie zu sein und dabei unabhängige Entscheidungen zu treffen. Deshalb verzichtete er auf eine eigene Familie, da er die zwangsläufigen emotionalen Verstrickungen und Verbindlichkeiten fürchtete. Alle Versuche seiner Parteifreunde, ihn zu einer Ehe zu bewegen, schlugen fehl.«⁸
Des Gründers gedenken
Welterfahrenheit und Weltoffenheit, exzellente Bildung, humanistische Gesinnung, menschliche Wärme, natürliche Bescheidenheit, ausstrahlende Einfachheit und makellose Integrität – Attribute, die Ho Chi Minh wie nur wenige zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit werden ließen. Die Geschichte seines Landes war ihm ebenso vertraut wie vergangenes und aktuelles Weltgeschehen. Er war nicht nur ein Meister seiner Muttersprache, der sich auch mit Angehörigen so mancher der vielen ethnischen Minderheiten in Vietnam in deren eigener Sprache zu unterhalten vermochte. Ho Chi Minh sprach vorzüglich Französisch, er sprach Chinesisch, auch den Dialekt der südchinesischen Küsten- und Grenzregion, Russisch und Englisch, er konnte sich in Siamesisch (heute Thailändisch) und Portugiesisch verständigen und überraschte stets von neuem deutsche Gäste mit Konversation in ihrer Muttersprache.
Ho Chi Minh hätte sich weltweiter Bekanntheit einst in Ost und West rühmen können. Er ist mit Sicherheit auf allen Kontinenten von vielen, die die Mitte des vorigen Jahrhunderts bewusst erlebt haben, nicht vergessen und bleibt auch dem linkem Gedankengut verhafteten Teil der jungen Generation ein Begriff. In Vietnam lebt sein Vermächtnis, wie erst das Jahr 2019 wieder eindrucksvoll bezeugte, ungebrochen weiter.
Der 2. September 2019 war für Vietnam Anlass, seines 50 Jahre zuvor verstorbenen ersten Präsidenten wieder auf vielfältige Weise zu gedenken. Die fortwährende Ehrung, die auch den heutigen 130. Geburtstag im Lande an Rotem Fluss und Mekong prägen wird, gilt einem Manne, der sich als überzeugter Internationalist in unvergleichlicher Weise um sein Heimatland verdient gemacht hat. Der da am 2. September 1945 in Hanoi als Ho Chi Minh auftrat und die unter großen Opfern erkämpfte Unabhängigkeit Vietnams verkündete, den Hunderttausenden Versammelten dem Namen nach noch unbekannt, hatte erst gut viereinhalb Jahre zuvor als Nguyen Ai Quoc wieder vietnamesischen Boden betreten können. Frankreich, England, die USA, Siam (Thailand), die Sowjetunion, China waren die Hauptstationen eines Lebens über drei Jahrzehnte in der Fremde.
1911 als mittelloser 21Jähriger aus eigenem Antrieb ausgezogen, den Kolonialismus zu ergründen, um später in der Heimat dagegen angehen zu können, wurde er im Laufe weniger Jahre im Ausland zu einem leidenschaftlichen Kämpfer gegen die koloniale Geißel. Sein politisches Wirken über Jahre hin unter dem Namen Nguyen Ai Quoc, aber auch unter ungezählten Tarn- und Decknamen wurde dank gut funktionierender geheimer Kanäle in der Heimat bekannt und blieb nicht ohne Resonanz. 1929 verurteilte ihn deshalb der kaiserliche Gerichtshof in Vinh, der Hauptstadt seiner Heimatprovinz Nghe An, wegen dortigen Aufruhrs in Abwesenheit zum Tode.
Die französische Sûreté nationale (»Nationale Sicherheit«, die französische Nationalpolizei, jW) jagte ihn während des Zwangsexils vielerorts, britischer und guomindang-chinesischer Polizei geriet er in die Fänge. Später ließen japanische Okkupanten in der Heimat nach ihm suchen, dort trachteten französische Rückeroberer nach seinem Leben. In Todesgefahr geriet er in den drei Jahrzehnten seines von ungeheuren Strapazen und oftmals nahezu unermesslichen Entbehrungen gezeichneten Aufenthalts im Ausland genauso wie später im antifranzösischen Widerstandskampf nicht nur einmal.
Die geheime Rückkehr in die kolonial geknechtete und von Japan 1941 überfallene Heimat hieß für den gesundheitlich Angeschlagenen ein Leben in der Gebirgs- und Dschungelwelt des vietnamesischen Nordens, hieß Arbeit für den Aufbau eines Widerstandszentrums. Nun ließen japanische Okkupanten nach ihm suchen, trachteten französische Kolonialbehörden nach seinem Leben. Den Sturz des Kolonialregimes und die Unabhängigkeit Vietnams verkündete er dann nicht mehr nur als führender Kopf der von ihm initiierten Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Viet Minh). Er trat als Ministerpräsident einer wenige Tage zuvor im soeben befreiten Hanoi gebildeten provisorischen Koalitionsregierung der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) vor Hunderttausende Zuhörer. Hervorgegangen aus der siegreichen Augustrevolution, stand die neue Regierung vor einem gewaltigen Berg von Problemen in dem ausgeplünderten, extrem unterentwickelten Land.
Schon am 3. September sagte sie dem Hunger den Kampf an, beschloss sie eine von landesweiten Initiativen getragene Kampagne zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion. Zur selben Zeit wurden Maßnahmen zur Überwindung des Analphabetentums ergriffen. Am 8. September begann die Vorbereitung der ersten allgemeinen Wahlen in der Geschichte Vietnams, eine gigantische organisatorische Aufgabe unter schwierigsten Bedingungen. Die junge Volksmacht war in ihrer Existenz akut bedroht. Frankreich hatte bereits den Versuch gestartet, mit militärischer Gewalt das gestürzte Kolonialregime neu zu beleben. Die allgemeinen Wahlen am 6. Januar 1946 wurden trotz allem zu einem überwältigenden Triumph für die Viet Minh und die Regierung Ho Chi Minh. Am 6. März wählte das erste Parlament des Landes Ho Chi Minh zum Präsidenten der DRV.
1 Reinhold Neumann-Hoditz: Ho Tschi Minh in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek 1971, S. 1
2 Pierre Brocheux: Ho Chi Minh – A Biography. Cambridge University Presse, New York 2007, S. XIII
3 Rolf Steininger: Der Vietnamkrieg. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 2
4 Hans-Jörg Keller: Kulturschlüssel Vietnam. Max-Hueber-Verlag, Ismaning 2000, S. 188
5 Gemeint ist v.a. das Genfer Indochina-Abkommen von 1954
6 Alle Stimmen entnommen Neumann-Hoditz, a. a. O., S. 174–176
7 Brocheux, a. a. O., S. 39 u. S. 217
8 Monika Heyder: Kulturschock Vietnam. Reise Know-how. Verlag Peter Rump GmbH, Bielefeld 1997