Im Herbst 2019 erfasste eine Massenbewegung den Libanon, die bis heute anhält und trotz der Corona-Einschränkungen neuen Zulauf bekommt.
Seit Oktober 2019 finden im Libanon die größten Massenproteste in der neueren Geschichte des Landes statt, die nicht nur die politische Elite und die von ihnen praktizierten Politiken der letzten Jahrzehnte, sondern auch das politische System als Ganzes an den Pranger stellen. Die Menschen protestieren wegen eines quasi nicht vorhandenen staatlichen Sozialsystems, gegen den Wegfall oder die Privatisierung staatlicher Leistungen, steigende Lebenshaltungskosten, die Entstehung informeller Wirtschaftsstrukturen, wachsende Verarmung sowie steigende Arbeitslosigkeit vor allem der untersten Schichten der libanesischen Gesellschaft.
In den vergangenen Monaten verschärfte sich diese jahrzehntelange strukturelle politische Krise durch eine Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise, die sich wiederum in hohen Staatsschulden, einer stagnierenden Wirtschaft, steigenden Preisen, einer Knappheit an US-Dollar auf dem Markt, dem Verfall des Wertes der libanesischen Lira, sowie in einer von den Banken informell eingeführte Kapitalverkehrskontrolle zeigte.
»Thawra« in Zeiten von Covid-19
Am 7. März 2020 erklärte der libanesische Premierminister Hassan Diab, dass die Regierung die fällige Eurobondrate nicht zurückzahlen werde, also jene Anleihen aus dem Ausland, die in US-Dollar ausgestellt wurden und zurückgezahlt werden müssen. Das erste Mal in der Geschichte hat der Libanon damit eine Rate seiner seit 1993 stetig gestiegenen Staatsschulden nicht fristgerecht zurückgezahlt und damit nicht nur den Quasi-Staatsbankrott erklärt, sondern auch den Weg geöffnet für die Frage, wie ein Ausweg aus der Staats- und Wirtschaftskrise aussehen könnte. Den ersten Teil seiner Antwort gab Hassan Diab am 30. April, als er einen vom Kabinett beschlossenen wirtschaftlichen Rettungsplan präsentierte. Dieser beinhaltet im Wesentlichen einen Hilferuf nach Außen durch die Ankündigung, sich an den Internationalen Währungsfonds für weitere Kredite in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar zu wenden.
Der klassen-, konfessions- und regionenübergreifende Charakter der Protestbewegung führt dazu, dass diese bis heute wenig einheitliche Forderungen formuliert hat und eine politische Führung ablehnt.
Die libanesische »thawra« (Revolution) erlebt derweil einen neuen Schub. Begonnen hatte die Bewegung mit einer ersten Demonstration am 17. Oktober 2019, als Menschen in Massen auf die Straßen gingen, um gegen eine angekündigte neue Steuer auf Telefonie-Apps wie Whats App oder Viber zu protestieren. In den darauffolgenden Wochen und Monaten breiteten sich die Proteste im ganzen Land aus.
In den vergangenen Wochen und Monaten erlebte die Protestbewegung verschiedene Phasen, vor allem vier Charakteristika sind erwähnenswert: Erstens konnte die Protestbewegung bislang von keiner der etablierten politischen Parteien instrumentalisiert werden, sie ist bis heute weitgehend politisch unabhängig. Zweitens ist sie zudem weiterhin mehr oder weniger im ganzen Land präsent, die einzelnen Bewegungen in den verschiedenen Regionen bekunden sich auch immer wieder gegenseitig Solidarität und Einigkeit und betonen damit den konfessions- und klassenübergreifenden Charakter der Protestbewegung. Trotz dieses klassenübergreifenden Charakters wird die Bewegung drittens vor allem von den unteren Klassen getragen. Und schließlich führt der klassen-, konfessions- und Regionen übergreifende Charakter der Protestbewegung auch dazu, dass die Bewegung bis heute wenig einheitliche und klare Forderungen formuliert hat und eine politische Führung der Proteste ablehnt.
Im März erfuhr die Protestbewegung einen unvorhergesehenen Rückschlag durch die Ausbreitung des Covid-19-Virus im Land. Als Reaktion auf die Ausbreitung verkündete die libanesische Regierung am 15. März eine landesweite Schließung von Schulen, öffentlichen Institutionen, des Flughafens sowie von Firmen, Geschäften, Restaurants, Bars und Nachtklubs. Die landesweiten Orte und Plätze, an denen die Proteste stattgefunden hatten, waren plötzlich menschenleer, nur die verlassenen Zelte und die aus Pappe errichtete zur Faust erhobene Hand mit dem Wort »thawra« erinnerten an die Demonstrationen und Menschenmassen von noch wenigen Tage zuvor.
Die rigorosen Maßnahmen der Regierung wurden von vielen Seiten gelobt. Dabei wird jedoch häufig übersehen, dass die Regierung keinen Plan für die sozioökonomischen Folgen der Schließung des Landes vorgesehen hatte. In einem Land, das sich schon vor der Corona-Pandemie in der tiefsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte befand, sind diese Folgen verheerend.
Die relative Ruhe nach Verhängung des Lockdowns war entsprechend kurzweilig: Bereits am 22. März kam es zu ersten Protesten in der nordlibanesischen Stadt Tripoli. In einem in den sozialen Medien kursierenden Video formuliert eine Demonstrantin es folgendermaßen: »Wir wollen essen, wir haben Hunger. Wir werden klauen. Wir brauchen eine Alternative.« Seit diesem Tag kommt es wieder wöchentlich zu Demonstrationen – im ganzen Land.
Der Anstieg von Gewalt und Vandalismus bei diesen Protesten in den vergangenen Wochen ist dabei eine Antwort auf die zunehmende Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit sowie die strukturellen Formen von Gewalt (Armut, Hunger, mangelnde soziale Leistungen), die die Libanes*innen seit Monaten erleben. Die gewaltvolle Reaktion der libanesischen Sicherheitskräfte (Verhaftungen, Tränengas, Schlagstöcke, Gummigeschosse) und die seit Monaten andauernde Ignoranz gegenüber den Protesten vonseiten der politischen Elite legen eine weitere Eskalation in Zukunft nahe.
Der vermutlich wichtigste Teil des am 30. April von Hassan Diab vorgestellten wirtschaftlichen Rettungsplans ist die Ankündigung, den Internationalen Währungsfonds um einen Kredit in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar zu bitten. Nach der Ankündigung Diabs wurde die IWF-Lösung von vielen Wirtschaftsexpert*innen im Land als die einzig mögliche Lösung bezeichnet.
Lösungen für die Krise
Wenig Beachtung finden in dieser Betrachtungsweise zum einen die realen Erfahrungen anderer Staaten, die IWF-Kredite als Ausweg aus einer Wirtschaftskrise aufgenommen haben (Argentinien, Jordanien, Südkorea, Pakistan, Indonesien, Griechenland), als auch die Überlegungen, inwiefern IWF-Kredite in einem Libanon der alten politischen Elite den üblichen Weg der Korruption und Bereicherung Weniger gehen könnten. IWF-Kredite und die neoliberale Wirtschaftspolitik, die seit dem Washington-Konsens integrativer Teil eines jeden IWF-Kredits sind, haben in den oben genannten Staaten soziale Ungleichheiten und Armut eher verstärkt als gemindert und führen in vielen Fällen auch zu einer langwierigen Abhängigkeit vom IWF.
Im Libanon hieße eine Hinwendung zum IWF vor allem die Durchsetzung einer Reihe neoliberaler Politiken, wie Kürzungen im Gesundheits-, Bildungs- und sozialen Sektor, Privatisierungen im öffentlichen Sektor und erhöhte Steuern. Diese Maßnahmen würden nicht nur vor allem die unteren und mittleren Klassen betreffen, sie fallen auch in das Muster libanesischer Politik seit den 1990er Jahren und verstärken im Zweifel genau jene strukturellen Defizite innerhalb des libanesischen Systems, die die gegenwärtige Krise überhaupt erst ausgelöst haben: Korruption, Klientelismus und Kapitalismus.
Die Frage nach Alternativen ist also mehr denn je gerechtfertigt: Ein Ausweg aus der tiefen Krise des Libanons scheint in der momentanen Lage allerdings schwer vorstellbar. Dennoch: Wenn die derzeitige Krise etwas gezeigt hat, dann, dass der Libanon sowohl in politischer als auch sozioökonomischer Hinsicht eine völlig neue Richtung einschlagen muss. Hier ist eine Abkehr von der gescheiterten Rentier-Ökonomie hin zu einer produktiven und solidarischen Wirtschaftsform unausweichlich, nicht nur, um den Staatshaushalt zu konsolidieren, sondern auch, um einen neuen Gesellschaftsvertrag, der auf sozialen Rechten und wirtschaftlicher Gerechtigkeit basiert, möglich zu machen. Die ideelle Basis dieses neuen Gesellschaftsvertrags ist in der derzeitigen Protestbewegung vorhanden, es ist an der Zeit, dass eine revolutionäre Regierung zumindest versucht, diese Ideen in erste realpolitische Maßnahmen umzusetzen.
Miriam Younes ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin mit einem Schwerpunkt auf Politik und Gesellschaft des Libanons, des Iraks und Syriens. Sie leitet seit 2017 das Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut.
Quelle: https://wirkommen.akweb.de/politik/wir-haben-hunger-wir-werden-klauen/