Halle-Attentat: Augenzeugenberichte am elften Prozesstag. Warum griff die Polizei so spät ein?
Dass dem Rechtsterroristen Stephan Balliet ein zweiter Mensch zum Opfer fiel, ist offenbar auch ein Resultat viel zu zögerlichen Einschreitens der Polizei. Das legten Zeugenvernehmungen vor dem Oberlandesgericht Sachsen-Anhalt in Magdeburg am Mittwoch nahe. Auch das Videomaterial des Täters zeigt, wie unbehelligt er über längere Zeit hinweg agieren konnte. Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens ließ die Aufnahmen von einer zweiten Kamera, die der Täter an der Jacke befestigt hatte, im Gericht vorführen. Außerdem hatte er eine Kamera an seinem Helm befestigt. Die Aufnahmen streamte der Neonazi live ins Internet, etwa 2.200 Menschen schauten dabei live zu.
Nachdem Balliet die 40jährige Jana L. vor der Synagoge erschossen hatte, versuchte er zunächst minutenlang weiter, die Tür des jüdischen Gotteshauses aufzusprengen. Er warf zudem Nagelbomben über die Mauer. Die erste Polizeistreife tauchte erst zehn Minuten nach dem Mord an diesem Tatort auf. Versuche, das Opfer wiederzubeleben, gab es nicht. Der Täter fuhr sogar noch einmal an der Synagoge vorbei, ohne dass die Beamten ihn verfolgten. Balliet fuhr anschließend zum Dönerimbiss, wo er weiter minutenlang Gäste und Inhaber terrorisierte und den 20jährigen Kevin S. tötete. Auf den Videoaufnahmen ist zu hören, wie Balliet ihn zunächst anschießt und S. wimmert, ihn bittet, aufzuhören. Doch Balliet drückt eiskalt noch einmal ab.
»Ich hatte das Gefühl, dass die Schießerei ewig gedauert hat«, erinnerte sich der Zeuge Bernd H. bei seiner Vernehmung am elften Prozesstag. H. war zur Tatzeit im Imbiss und hatte gerade sein Essen bestellt. Die Situation sei ihm unwirklich vorgekommen, berichtete er. Es hätten Leute den Laden betreten, auch zwei Maler, darunter Kevin S.. Plötzlich habe er einen lauten Knall gehört. Die Fensterscheibe des Imbisses sei zersprungen, er habe noch zugeschaut, wie sie zerborsten sei. »Dann schrie der eine Maler plötzlich: Raus hier, der erschießt uns sonst alle«, erinnerte er sich. Der 74jährige H. sei dann die Treppe hoch gelaufen, jemand habe ihm die Tür zu einem Raum geöffnet. Dort sei er dann aus dem Fenster direkt auf eine Mülltonne im Hof gesprungen, habe sich dabei auch verletzt. »Und die Schießerei ging immer weiter, da waren ganz viele Schüsse«, so H. Erst später, als er dann versucht habe, den Hof zu verlassen, sei ihm aufgefallen, »dass da viel Polizei stand«. Die habe dann wohl zum Schluss auch mitgefeuert.
Nach dem Mord an Kevin S. war es tatsächlich zu seinem Schusswechsel mit der Polizei gekommen. Die Beamten hatten Balliet dabei mit einem Streifschuss verletzt. Aber sie ließen ihn erneut mit dem Auto entkommen. Obwohl das Gefährt einen Platten hatte, schaffte er es etliche Kilometer weiter in ein Dorf. Bei dem Versuch, ein neues Auto zu erbeuten, verletzte er ein Ehepaar schwer. Schließlich erpresste Balliet ein Taxi bei einem Unternehmen. Einer der Taxifahrer verfolgte Balliet, zunächst wurde er von der Polizei angehalten, noch vor dem Attentäter.
Die Zeugin Margit W. hatte den Täter vor dem Imbiss getroffen. Unbehelligt sei er über die Straße gelaufen. Die 78jährige war gerade vom Arzt gekommen, »da kam der vor mir zwischen geparkten Autos mit Gewehr und Helm angerannt«, sagte sie. Zuerst habe sie gedacht, der Mann habe sich verkleidet und das Gewehr sei ein Kinderspielzeug: »Dann gab es aber einen Knall, und etwas prallte an meinem Fuß ab, das war ein jämmerlicher Schmerz.« Sie habe große Angst bekommen, sei sofort in eine Seitenstraße gegangen und habe sich nicht getraut, sich umzusehen. Es habe dann immerzu geknallt, das ging lange, sagte sie. Später habe sich herausgestellt, dass in ihrem Schuh zwei drei bis vier Zentimeter lange Nägel steckten. Von anderen habe sie gehört, dass es zwei Tote gegeben hatte. Erst Stunden später sei ihr »wirklich klar gewesen, dass ich mittendrin war«.
Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/386057.rechtsterrorismus-die-schie%C3%9Ferei-hat-ewig-gedauert.html