Die Behandlung und Diffamierung Andersdenkender durch die Herrschenden hat eine angstmachende Dimension erreicht.
Anlässlich der Verleihung des Kölner Karlspreises für engagierte Literatur und Publizistik an den Wikileaks-Mitbegründer Julian Assange und an Sabiene Jahn, eine streitbare Kämpferin für Demokratie und Menschenrechte in Koblenz, haben die Herausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ), Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann, vom 16. bis 18. Oktober eine Mahnwache auf dem Domplatz in Köln organisiert. Peter Kleinert, ehemaliger Herausgeber der NRhZ, hat den Preis ins Leben gerufen. Anwesend war ebenfalls der italienische Künstler Davide Dormino, der die Skulptur „Anything to say?“ mit vier Stühlen geschaffen hat. Auf drei Stühlen stehen Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning, die weltbekannten Whistleblower, und der vierte ist für diejenigen, die dazu etwas sagen möchten. Unter den Gästen war auch der Vater von Julian Assange, John Shipton, der stellvertretend für seinen Sohn den Preis entgegen nahm. Annette Groth hat die Laudatio auf Julian Assange gehalten.
Es ist mir eine große Ehre, die Laudatio auf Julian Assange zu halten, und ich danke nochmals Anneliese und Andreas für ihr außerordentliches Engagement und für die Organisation dieser tollen Veranstaltung!
Presse- und Meinungsfreiheit in Gefahr
Es dürfte inzwischen allen klar sein, wie sehr die Presse- und Meinungsfreiheit auch in Deutschland gefährdet ist, vor allem in Coronazeiten, das will ich jetzt aber nicht vertiefen.
Seit einiger Zeit attackieren Polizisten, insbesondere bei antifaschistischen Protesten oder Hausräumungen gezielt Journalistinnen und Journalisten, mit Schlagstöcken, Pfefferspray oder anderen Mitteln, zerstören Kameras und beleidigen sie verbal aufs Gröbste.
Seit März, Anfang des Corona-Ausnahmezustands, waren laut dem Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (DJU) Berlin-Brandenburg in der Gewerkschaft Verdi insgesamt etwa 50 Kolleginnen und Kollegen davon betroffen. Anfang Oktober hat die Polizei bei der Besetzung des Bundesverbands Braunkohle im Haus der Wirtschaft drei Kolleginnen und Kollegen festgenommen, darunter ein Journalist von Spiegel TV.
Angezeigt werden Polizisten sehr selten, weil die Polizei im Fall von antifaschistischen Protesten meist nicht mehr zwischen Journalisten und Aktivisten unterscheidet. Darüber hinaus läuft man Gefahr, plötzlich vom Opfer zum Täter erklärt zu werden, und hat damit also möglicherweise eine Gegenanzeige und ein Ermittlungsverfahren am Hals.
Die Behandlung und Diffamierung Andersdenkender hat inzwischen eine Dimension erreicht, die mir große Angst macht. Immer mehr Wissenschafterinnen und Wissenschafter, Journalistinnen und Journalisten trauen sich nicht mehr, die Wahrheit zu sagen, aus Angst vor shit-Stürmen, die von handfesten Drohungen und Diffamierungen bis zu Existenz bedrohenden beruflichen Nachteilen reichen. Ich nenne das die neue Hexenverfolgung. Damit will man einschüchtern und Menschen davon abbringen, die Wahrheit zu sagen. Und das ist sehr erfolgreich, wie wir zum Beispiel an den haarsträubenden Diffamierungen von Menschen sehen, die die israelische Regierungspolitik kritisieren und die Respektierung der Menschenrechte einfordern.
Nichts anderes hat Julian Assange gemacht: Er hat die Wahrheit über die US-Kriegsverbrechen im Afghanistan- und im Irakkrieg gesagt und dafür Beweise geliefert, das ist sein Verbrechen!
Sein einziges Verbrechen heißt Journalismus.
Journalismus wird zur Spionage
Um Julian Assange vor Gericht zu zerren und ihn lebenslang einzusperren, hat die Trump-Administration Journalismus zur Spionage umgedeutet. Sie bezieht sich auf ein Spionagegesetz von 1917, das während des Ersten Weltkrieges verabschiedet wurde, um Friedensaktivisten zum Schweigen zu bringen, die gegen die Kriegsbeteiligung der USA waren.
Nach Daniel Ellsberg, der 1971 die Pentagon-Papiere veröffentlichte, ist dies meines Wissens das zweite Mal in der Geschichte der USA, dass ein Journalist für die Veröffentlichung wahrheitsgemäßer Informationen nach dem Spionagegesetz angeklagt werden soll. An Julian Assange wird ein Exempel statuiert und die Botschaft lautet: „Wer sich mit uns anlegt, wird seines Lebens nicht mehr froh. Er wird sein Leben schließlich verlieren.“
John Pilger, einer der weltweit anerkanntesten Investigativ-Journalisten, hat in einem kürzlich veröffentlichten Interview gesagt:
„Die Wahrheit ist, dass diese Qual, die Assange nun Tag für Tag ertragen muss, in einem Gericht, das nicht den Regeln des ‚ordentlichen Verfahrens‘ sondern der Logik der fälligen Rache und Voreingenommenheit folgt — er muss da durch, weil die Träger politischer Macht ihn als politischen Feind ausgemacht haben. Eine vollkommen gesetzlose Herangehensweise. Ich habe über die Jahre in vielen Verhandlungen gesessen. So etwas wie diese Anklage habe ich noch nie gehört. Es ist wie die Teegesellschaft in ‚Alice im Wunderland‘: Zwar sind alle verrückt, aber sie nehmen sich dabei vollkommen ernst. Ich glaube, die meisten Fehler, die US-Journalisten machen, sind ihrer Ignoranz in Fragen der Außenpolitik, des Kontextes und der Geschichte geschuldet“ (1).
Auch bei uns ist die zunehmende Ignoranz vieler Journalisten, die nur noch wiedergeben, was Regierungssprecher oder vergleichbare Figuren sagen, leider nicht mehr zu übersehen.
Umso wichtiger sind Journalisten, die noch angstfrei recherchieren und unbequeme Wahrheiten veröffentlichen. Darum geht es: Die Verbrechen, die Regierungen oder Konzerne verüben, aufzudecken und sie uns, der Bevölkerung mitzuteilen. Die Quellen, auf die sich die Rechercheergebnisse stützen, müssen geschützt werden, damit sie unversehrt bleiben und nicht getötet oder ins Gefängnis gebracht werden. Nur mit diesem garantierten Quellen-Schutz werden Menschen bereit sein, über Verbrechen zu sprechen, die vertuscht werden sollen.
Seit Wochen werden wir mit Informationen über den Gesundheitszustand von Nawalny und den Anschuldigungen gegen Putin überschwemmt, aber Informationen über den Prozess gegen Julian Assange sind rar, wie die Medienberichterstattung über Julian Assange zumeist negativ und eher Propaganda der betroffenen Staaten war. Insgesamt gibt es nur wenige Journalisten weltweit, die sich oft und laut zu Wort melden, und das Unrecht anprangern, dass an Julian Assange seit über 10 Jahren verübt wird.
Schweigen der Medien ist skandalös
Vor einiger Zeit wurde Noam Chomsky gefragt, warum die Welt des Journalismus in Bezug auf die Verfolgung von Assange so stumm bleibt. Seine Antwort:
„Vielleicht haben die Leute Angst, vielleicht haben sie andere Gründe. Aber es ist keine große Ehre für den Journalismus, zu sehen, wie man sich davon zurückhalten lässt, jemanden zu unterstützen, der die höchsten Ideale des Berufstandes erfüllt und dafür brutal verfolgt wird. Dies ist eine Mission, die von Journalisten bejubelt werden sollte; sie sollten an der Front stehen, wenn es darum geht, Assange und auch sich selbst — gegen eine Staatsmacht, die außer Kontrolle geraten ist — zu verteidigen“ (2).
Gerhart Baum, einer der letzten Liberalen der „alten“ FDP, betonte am 6. Februar 2020: „Ich sitze heute hier, weil die Pressefreiheit kriminalisiert werden soll.“ An dem Tag traten die ehemaligen Bundesminister Sigmar Gabriel (SPD) und Gerhart Baum (FDP) und die Linken-Abgeordneten Sevim Dağdelen mit Günter Wallraff vor die Mikrophone in Berlin und stellten ihren gemeinsamen Appell „Freilassung für Julian Assange“ vor, den Wallraff initiiert hatte (3).
Die über 130 Prominenten aus Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur, die diesen Appell unterzeichneten, forderten die Bundesregierung dazu auf, sich bei der britischen Regierung für die Freilassung von Assange einzusetzen. Aber ein Sprecher des Auswärtigen Amts erklärte, dass die Zuständigkeit des Verfahrens bei der britischen Justiz liege und die Bundesregierung über keine eigenen Erkenntnisse zu den Haftbedingungen verfüge.
Die Bundesregierung lügt
Das ist eine unglaubliche Lüge, weil der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Nils Melzer, die Bundesregierung über die unmenschlichen Haftbedingungen in dem Hochsicherheitsgefängnis informiert hat. Melzer hatte gefordert, die Vorwürfe der Misshandlung Assanges und seine Haftbedingungen zu untersuchen, was in London, Berlin und von anderen beteiligten Regierungen aber überhört wurde. Sie sind mitschuldig an den massiven Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Antifolterkonvention.
Zu Recht verurteilte Melzer die involvierten Regierungen dafür, Assange den Schutz seiner grundlegendsten Menschenrechte und seiner Würde versagt zu haben:
„In 20 Jahren Arbeit mit Opfern von Krieg, Gewalt und politischer Verfolgung habe ich es nie erlebt, dass sich eine Gruppe demokratischer Staaten zusammentut, um eine einzelne Person derart willkürlich zu isolieren, zu dämonisieren und zu missbrauchen.“
Ein Interview, das Melzer im Februar der Schweizer Republik gab, einem digitalen Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, trug den Titel „Assange wurde von Schweden, England, Ecuador und den USA gezielt psychologisch gefoltert“. Dieses lesenswerte ausführliche Interview hat der Stern am 7. Februar veröffentlicht, eine Lehrstunde für einen der Wahrheit verpflichteten Journalismus (4).
Assange wurde gezielt psychologisch gefoltert!
„Denn wenn investigativer Journalismus einmal als Spionage eingestuft wird und überall auf der Welt verfolgt werden kann, folgen Zensur und Tyrannei. Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System. Kriegsverbrechen und Folter werden nicht verfolgt. YouTube-Videos zirkulieren, auf denen amerikanische Soldaten damit prahlen, gefangene irakische Frauen mit routinemäßiger Vergewaltigung in den Selbstmord getrieben zu haben. Niemand untersucht das.
Gleichzeitig wird einer mit 175 Jahren Gefängnis bedroht, der solche Dinge aufdeckt. Er wird ein Jahrzehnt lang überzogen mit Anschuldigungen, die nicht nachgewiesen werden, die ihn kaputtmachen. Und niemand haftet dafür. Niemand übernimmt die Verantwortung. Es ist eine Erosion des Sozialvertrags. Wir übergeben den Staaten die Macht, delegieren diese an die Regierungen — aber dafür müssen sie uns Rede und Antwort stehen, wie sie diese Macht ausüben. Wenn wir das nicht verlangen, werden wir unsere Rechte über kurz oder lang verlieren. Menschen sind nicht von Natur aus demokratisch. Macht korrumpiert, wenn sie nicht überwacht wird. Korruption ist das Resultat, wenn wir nicht insistieren, dass die Macht überwacht wird.“
Wir wollen die Mächtigen kontrollieren, und wie wichtig dies ist, zeigt uns Julian Assange.
Will die Bundesregierung durch Schweigen nicht mitschuldig sein, muss sie alles tun, um Julian Assange freizukriegen und ihm Asyl anbieten.
Der Fall Julian Assange zeigt die absolute Doppelzüngigkeit der großen Medien, die laut aufschreien, wenn es um Russlands mutmaßliche Vergehen geht, aber zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen in westlichen Staaten schweigen.
Wir dürfen Verletzungen und die Außerkraftsetzung der europäischen Menschenrechtskonvention und der Antifolterkonvention nicht zulassen. Menschenrechte sind unteilbar, sie gelten auch und insbesondere für Whistleblower wie Assange.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Der Staatsfeind Nr. 1, Rubikon — Die Welt
(2) Noam Chomsky: Assange hält politische Überzeugung aufrecht und leistet Öffentlichkeit enormen Dienst, RT-Deutsch, 3. Oktober 2020, RT Deutsch
(3) Bündnis für Meinungs- und Pressefreiheit: Appell für Assange
Prominente aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Medien fordern die Freilassung Julian Assanges. Sie sehen den Rechtsstaat in Gefahr, taz.de
(4) „Assange wurde von Schweden, England, Ecuador und den USA gezielt psychologisch gefoltert, stern.de“
Foto: siam.pukkato/Shutterstock.com
Quelle: https://www.rubikon.news/artikel/freiheit-fur-julian-assange-2