Im Irak protestiert eine junge Generation gegen tiefe gesellschaftliche Spaltungen und die Einflüsse imperialer Kräfte auf eine korrupte Regierung. Zugleich werden die Lebensbedingungen der Bevölkerung prekärer. Ein klassenkämpferischer und internationalistischer Blick auf die bevorstehenden Wahlen.
Grundlage dieses Artikels ist der monatliche „Iraq Report“ von Workers Against Sectarianism (WAS) aus dem Irak. Der Kontakt des re:volt magazine (Berlin) zu Aktivist*innen von WAS ist an einer Marx-Herbst-Schule Ende 2019 in Berlin entstanden, als im Irak gerade die Proteste ausgebrochen sind. Es folgte ein intensiver politischer Austausch mit dem Anspruch, das Verständnis und die Solidarität mit den irakischen Protesten in Europa zu stärken. Ende 2020 traf Maja Tschumi WAS-Aktivist*innen aus Bagdad in Kurdistan/Irak.
Am 21. Januar 2021 erschütterte ein doppeltes Bombenattentat Bagdad und forderte laut offiziellen Zahlen 32 Tote und 100 Verletzte (inoffiziell wird von 100 Toten gesprochen). Zwei Männer sprengten sich inmitten eines belebten Marktes in die Luft. Es war nach drei relativ ruhigen Jahren das erste Attentat dieses Ausmaßes in Bagdad. Ohne konkrete Beweise vorzulegen, erklärte sich der Islamische Staat (IS) für die Anschläge verantwortlich und ein Großteil der europäischen Presse übernahmen diese Behauptung, meist ohne die Anschläge in einen größeren Kontext der aktuellen Lage im Irak zu stellen. Im Irak gibt es zahlreiche bewaffnete Gruppen. So waren zum Beispiel die vom Iran unterstützen Milizen massgeblich beteiligt an der brutalen Niederschlagung der Proteste seit Oktober 2019 (mindestens 700 Tote und 30.000 Verletzte). Ihnen werden Anschläge auf US-Stellungen im Irak und zahlreiche gezielte Tötungen und Entführungen von Aktivist*innen nachgesagt. Doch der irakische Staat ist nicht in der Lage, diese Milizen dafür zur Rechenschaft zu ziehen und sie fungieren zunehmend als eine Art Staat im Staat. Diese pro-iranischen Milizen („Hashd al-Shaabi“) entstanden auf Geheiss des irakischen Großayatollah 2014 im Kampf gegen den IS. Sie wurden finanziell vor allem vom Iran unterstützt (zu Beginn auch von den USA). Nach dem Sieg über den IS wurden sie ins irakische Militär integriert, von diesem aber nie wirklich unter Kontrolle gebracht. Auch weil sie schiitisch-islamistischen Parteien und dem Iran dazu dienen, ihren politischen Einfluss im Irak auszuweiten.
Hierzulande lösten die Bombenanschläge in Bagdad Befürchtungen eines Wiedererstarkens des IS im Irak aus. Laut der Einschätzung von Aktivist*innen der klassenkämpferischen Basisorganisation WAS aus Bagdad müssen die Bombenanschläge jedoch mehr im Zusammenhang mit den anstehenden, vorgezogenen Wahlen betrachtet werden. Sie waren eine zentrale Forderung der Massenproteste 2019/2020. [1] Denn aufgrund der zahlreichen Checkpoints und Sicherheitskräfte in Bagdad zweifeln die Aktivist*innen daran, dass die IS-Attentäter so unbemerkt ins Zentrum der Stadt vordringen konnten. Auch wenn dies schwer zu bestätigende Vermutungen einer Komplizenschaft mit der Regierung sind, weisen sie doch auf eine zentrale Gefahr hin: Schiitisch-islamistische Parteien in der Regierung könnten von einem Terror-Anschlag des IS insofern profitieren, als es ihnen das Argument liefert, schiitisch-islamistischen Kräfte stärken zu müssen, um die Bevölkerung vor dem IS zu schützen. Das ist ein Narrativ, welches im Krieg gegen den Islamischen Staat 2014 bis 2017 entstanden ist. Unterdessen sind die pro-iranischen Milizen selbst eine Gefahr für die Sicherheit der Bevölkerung geworden. Und tatsächlich stellte in der Nacht vom 9. Februar 2021 eine Miliz der Sadr-Bewegung in Bagdad, Najaf und Kerbala ihre Waffen zur Schau. [2] Sie sperrten Straßen und besetzten sunnitische Stadtviertel. Erneut scheinen sich also die konfessionellen Spannungen im Vorfeld der Wahlen zuzuspitzen.
„We want a homeland!“
Im Oktober 2019 ging die junge Generation in Bagdad und in südlichen Provinzen des Irak unter dem Slogan „We want a homeland“ massenhaft auf die Straße, besetzte Plätze und organisierte sich gegen mangelnde wirtschaftliche Möglichkeiten, ausufernde Korruption, ein sektiererische Parteiensystem und die imperiale Einmischung in die irakische Politik und Wirtschaft. [3] Zentrale Forderungen zu Beginn der Proteste 2019 waren: stabile Elektrizität und Wasser, weniger Korruption und mehr Arbeit (ca. 30 Prozent der Männer und ca. 60 Prozent der Frauen* unter 24 Jahren sind arbeitslos). Aufgrund der Repression eskalierte der Protest zu einem nationalen Aufstand mit der umfassenden Forderung, die Regierung zu stürzen und den iranischen Einfluss im Irak zu stoppen.
Trotz massiver und brutalster Repression gelang es dem sogenannten October Uprising eine große Sicherheit auf den besetzten Plätzen zu erreichen. Die Platzbesetzungen wie z.B. auf dem Tahrir Platz in Bagdad waren ein wesentliches Merkmal und eine wesentliche Errungenschaft der Protestierenden. Schließlich gelang es ihnen, den seit 2018 amtierenden Premierminister Adil Ab al-Mahdi (seit 2017 unabhängiger schiitischer Politiker, zuvor Mitglieder der iranfreundlichen, schiitisch islamistisch Partei „Oberster Islamischer Rat im Irak“) im November 2019 zum Rücktritt zu zwingen. Die Entscheidung, vorgezogene Wahlen abzuhalten, wurde dann von der Regierung unter Premierminister Mustafa Al-Kadhimi (ein USA- und Kapital-freundlicher, parteiloser Schiit und Ex-Geheimdienstchef) getroffen, der im Mai als Übergangpräsident eingesetzt wurde. Damit antwortete er auf eine zentrale Forderung der Proteste in der Hoffnung, diese damit zu deeskalieren und ihre Wut auf das sektiererische Politik- und Parteiensystem zu besänftigen.
Seit 2011 hat der Irak in regelmässigen Abständen Proteste erlebt. Die Proteste 2019/2020 gingen allerdings in ihrer Quantität und in ihrer Qualität über alle Proteste seit 2003 hinaus. Zum einen lehnte der Großteil der Protestierenden den Fokus auf Identitätspolitik mit ihren konfessionelle Spaltungen ab und betonten stattdessen die ökonomischen, sozialen und politischen Missstände. Zum anderen war die Beteiligung von Frauen* am October Uprising bemerkenswert. Während die protestierenden Männer vor allem der Arbeiterklasse und den unteren Schichten angehörten, waren Frauen* verschiedener Schichten und Klassen auf der Straße. Unter den Frauen* konnte man, so berichten WAS, eine klassenübergreifende Solidarität feststellen. Dies würde daran liegen, dass der Kampf für Frauen*rechte und politischer Mitbestimmung im sehr patriarchalen Irak Frauen* verschiedener Klassen zusammenschweisst.
Die Forderungen der Demonstranten liefen von Anfang an unter dem Slogan „We want a Homeland“ zusammen. Er drückt das Gefühl einer Post-US-Invasion-Generation aus, keine Heimat zu haben – und zwar im doppelten Sinne: 1. kein lebenswertes Leben führen zu können und 2. in einem Land zu leben, das seit langem mehr von äußeren – den USA und dem Iran – als von inneren Kräften gelenkt wird. So wurde die irakische Flagge während den Protesten zu einem Symbol. Sie sollte ausdrücken, dass die Menschen im Irak unabhängig von imperialen Interventionen und Einflüssen selber über die Zukunft des Iraks entscheiden wollen. Es gab aber auch eine kritische Debatte unter den Protestierenden über die Flagge, ob man sie zum Beispiel verändern soll und wie man sie inklusiver gestalten könnte. Denn im Namen der irakischen Flagge wurde in der Geschichte des Iraks sehr viel konfessionell und ethnisch begründetes Unrecht von Seiten des Staates begangen. Die Überwindung sektiererischer und ethnischer Spaltungen war aber gerade ein zentrales Anliegen der Protestierenden, dem sich die meisten Bewegungen unterordneten. So betonten zum Beispiel auch Frauen*organisationen, die an den Protesten und den Platzbesetzungen teilnahmen, dass sie nicht in erster Linie eine Frauen*revolution forderten, sondern sich als Teil der gesamten Bewegung verstehen. Dies zeigt aber – gerade in Bezug auf Frauen*bewegungen – auch auf, in welchem Verhandlungsspielraum sie sich befinden und dass für sie die Strategie der Solidarisierung im heutigen Irak vielversprechender ist als eine Strategie der Spaltung.
Eine flache Organisationstruktur und große Partizipation von Frauen*
Der Irak blickt auf eine reiche Geschichte kommunistischer Organisationen und einer lebendigen Frauen*bewegung zurück. Unter Saddam Hussein wurde nicht nur eine sehr mächtige kommunistische Partei zerschlagen, sondern auch die Frauen*bewegung und die Gewerkschaften auf je eine staatliche Organisation zusammengeschrumpft. Nach 2003 kamen viel Aktivist*innen, die unter Saddam das Land verlassen hatten mit dem Anspruch zurück, neue politische Projekte zu initiieren. Es entstanden auch zahlreiche Projekte. Die in der Geschichte des Irak sehr wichtige Arbeiter*innenbewegung sah sich allerdings mit einer schwierigen Lage konfrontiert. So wurden interessanterweise nach dem Sturz Saddams fast alle Gesetze aus der Zeit vor 2003 abgeschafft, aber diejenigen, die sich auf Arbeitnehmer*innenrechte und Gewerkschaften bezogen, überlebten und blieben in Kraft. Trotz der widrigen Umstände wurden nach 2003 mehrere neue Gewerkschaften und Verbände v.a. im Ölsektor aufgebaut. Heute sind politische Aktivist*innen aber zunehmend starker Repression durch die Milizen ausgesetzt. Politische Aktivist*innen oder auch Journalist*innen, die die Regierung und v.a. pro-iranische Parteien kritisieren, müssen mit Drohungen, Entführungen, Folter und Tötung rechnen.
Darüber hinaus ist zum Beispiel die Organisation eines Zufluchtsortes für Frauen*, die häusliche Gewalt erlebt haben, nach wie vor illegal und deshalb für Aktivistinnen gefährlich. Trotz dieser bestehenden Organisationen und Bewegungen, ging der erste Funke der Proteste im Oktober 2019 von einer jungen Generation aus, die nicht besonders politisiert oder organisiert war. Vielmehr waren diese Proteste ein Auflehnen gegen soziale und ökonomische Missstände, die den Alltag der Jugendlichen erschwert und ihnen keine Zukunftsperspektive gibt. So waren denn anfänglich die Forderungen so banal wie: wir wollen ein gutes Leben! Mit der weiteren Entwicklung der Proteste schlossen sich zahlreiche – schon etablierte – Organisationen an. Für die junge – noch unpolitische – Generation spielte das Internet eine grosse Rolle. Wie viele Jugendliche überall auf der Welt verbringen sie einen Großteil ihrer Freizeit im Netz – was durch Arbeitslosigkeit noch verstärkt wird. In den sozialen Medien sind sie nicht nur mit verschiedenen Lebensentwürfen konfrontiert, sondern können sich politisch auch bilden und austauschen. Die Virtualität spielt aber auch noch auf einer anderen Ebene eine wichtige Rolle. So war zu beobachten, dass Jugendliche im Kampf gegen die Sicherheitskräfte und die Milizen Strategien aus Videospielen (v.a. PlayerUnknown’s Battleground) anwenden und sich mit Kostümen aus Videospielen und Filmen verkleideten.
Während der Proteste gelang es keiner etablierten Organisation, die Führung der Protestbewegung an sich zu reissen. Dies ist sicher auch ein Effekt der Erfahrung von 2018, als die Sadr-Bewegung sich als Verteidigerin der Proteste damals aufspielte, damit die Wahlen gewann, aber letztlich kaum Forderungen der Protestierenden umsetzte. So blieben die Proteste 2019/20 in ihrer Organisationsstruktur flach und heterogen. Übergreifend war allerdings die Idee eines säkularen Staates und die Offenheit gegenüber neuen Geschlechter- und Lebensmodelle. Auch wenn mehrheitlich junge Männer an den Protesten beteiligt waren, gab es auf dem Tahrir Platz in Bagdad kaum sexuelle Belästigung, wie Aktivistinnen berichteten (wie es etwa 2011 auf dem Tahrir Platz in Ägypten geschah). Im Gegenteil: sie fühlten sich dort oft sicherer als zuhause und es hätte sogar Frauen* gegeben, die auf dem Tahrir Platz übernachtet hätten. So etwas sei vorher im Irak undenkbar gewesen. Auch queere Organisationen beteiligten sich an den Protesten.
Die Regierung verspricht Neuwahlen
Die Regierung reagierte – nach dem Vorbild der Niederschlagung der Proteste im November 2019 im Iran (und vermutlich auch auf Rat von Qassem Soleimani) mit einem Internet-Shutdown. Dadurch sollten die Organisierung und die Verbreitung von Videos der brutalen Repression auf den sozialen Media für einige Wochen verhindert werden. Schnelles Internet ist aber auch in normalen Zeiten nur für Reiche im Irak zugänglich. Ein Monat langsames W-lan kostet 30 Dollar im Monat, schnelles kostet 100 Dollar. Die Aktivist*innen wussten sich auch so zu organisieren. Ihre Forderungen trugen sie – neben den sozialen Medien – in Form von Transparenten, Graffitis, Kundgebungen und Platzbesetzungen auf die Straße.
Vor dem Hintergrund vorgezogener Neuwahlen entschlossen sich einige Protestierende, mit neuen Parteien an den Wahlen teilzunehmen. Das October Uprising hat bisher drei Parteien hervorgebracht: die Bewegung Emtedad („Erweiterung“), die Bewegung Bidaya („Anfang“) und die Bewegung Al bait al Iraqi („Irakisches Haus“). Weitere Parteien befinden sich noch im Entstehungsprozess. Für sie bedeutete das Zugeständnis der Regierung, Neuwahlen vorzuziehen, ein kleiner Sieg. Nach Einschätzung der Aktivist*innen von WAS könnte die Zustimmung zu vorgezogenen Wahlen auch an der Schwächung der Protestbewegung liegen: aufgrund der organisatorischen Schwäche, Corona und der gezielten Ermordungen von Aktivist*innen durch pro-iranische Milizen im Sommer und Herbst 2020 haben viele die Hoffnung verloren.
Doch die meisten Demonstrant*innen lehnen das Versöhnungsangebot der Regierung kategorisch ab und kritisieren auch die neuen aus den Protesten entstandenen Parteien für ihre Kompromissbereitschaft, am sektiererischen Machtapparat teilzunehmen. Sie glaubten nicht daran, dass Neuwahlen die für sie notwendigen Verbesserung der Lebensumstände bringen werden. Sie bestehen weiterhin auf einen radikalen Wandel und den Sturz des gesamten irakischen Regimes. Auch WAS schliesst sich dieser Sicht der Dinge an. Sie sehen die Bedingungen, um faire und transparente Wahlen abzuhalten, als nicht erfüllt. Darum boykottieren sie die Wahlen mit der Begründung, die Ergebnisse würden so oder so bereits feststehen. Die erneute Verschiebung der Neuwahlen von Juli auf Oktober verstimmte jedoch alle Demonstranten und verbreitete das Gefühl, hingehalten und nicht ernst genommen zu werden. Gut möglich, dass es im Vorfeld oder spätestens im Nachgang der Neuwahlen im Irak zu einer neuen Protestwelle kommen wird. Auch wenn die Proteste bisher auf politischer Ebene wenig verändern konnten, haben sie doch mit den Forderungen nach einem Säkularen Staat, der Überwindung sektiererischer Gräben und konservativer/tribalistischer Gender-Vorstellungen und den monatelangen Platzbesetzungen eine soziale Revolution angestoßen, die noch lange nicht zu Ende ist.
Die finanzielle und politische Krise im Irak spitzt sich zu
Den in der irakischen Bevölkerung weit verbreiteten Verdacht, dass die irakische Regierung hinter den Terroranschlägen vom 21. Januar 2021 stecken könnte, wird auch von WAS geteilt. Man kenne diese Art von „Bombenpolitik“ aus der Vergangenheit, die von sektiererischen Parteien vor Wahlen oder wichtigen politischen Ereignissen im Irak nach 2003 eingesetzt wurde. Über diese Politik der Angst würden Parteien die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen. In der Folge des Anschlags in Bagdad sicherten die USA in einer offiziellen Mitteilung durch ihre Botschaft in Bagdad dem Irak – neben der üblichen Lieferung von Militärfahrzeugen – einen erneuten finanziellen Zuschuss in Höhe von 20 Millionen Dollar zu, um das Regierungsviertel („Green Zone“) zu schützen. Damit zeigen die USA, dass sie kein Interesse an den Forderungen der Demonstrant*innen haben und das sektiererische Regime in Bagdad beibehalten wollen.
Doch die irakische Regierung befindet sich in einer tiefen finanziellen Krise. Und 20 Millionen US-Dollar sind da nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die irakische Rentier-Ökonomie ist zu 90 Prozent von ihren Öl-Einnahmen abhängig. Nach 2003 vermochte der Irak aufgrund der harten imperial-neoliberalen Gesetzte und den sektiererischen Kriegen keine Industrie und Landwirtschaft wiederaufzubauen, die den Irak von der Ölabhängigkeit entlastet hätte. Der Ölpreiszerfall seit 2020 stürzte den Irak dann in eine tiefe Finanzierungskrise. Zusätzlich zu alles durchdringenden Korruption und den hohen irakischen Staatsschulden bei der Weltbank, gerät die irakische Regierung an den Rand eines finanziellen Kollapses. So hat sie in der Region Kurdistan mehr als 6 Monate und im restlichen Irak mehr als zwei Monate lang keine Gehälter mehr ausgezahlt. Das verschärft den Unmut und die Not in der Bevölkerung massiv und hat langfristige katastrophale Auswirkungen auf die unteren Klassen der Gesellschaft.
So kam es zu Beginn 2021 erneut zu Protesten – diesmal vor allem in der autonomen Region Kurdistan. Die Proteste wurden von der kurdischen Regierung mit scharfer Munition schnell niedergeschlagen. Die Regierung hat dann einen Kredit beim Internationalen Währungsfonds aufgenommen, um die Gehaltszahlung für ein Jahr sicherzustellen. Zudem senkte die Regierung den Kurs des irakischen Dinars im Verhältnis zum US-Dollar, um mehr Geld für die Auszahlung der Gehälter zu haben. 2019 entsprachen 100 US Dollar noch 120.000 irakischen Dinar. Heute sind es 145.000 Dinar und es wird erwartet, dass sich der Währungszerfall im Laufe des Jahres weiter zuspitzt. Die Preise für Gemüse, Obst und andere Waren, die der Irak aus dem Ausland importiert, sind dadurch drastisch gestiegen. Arbeiter*innen, insbesondere diejenigen, deren Einkommen zwischen 8 und 5 Dollar pro Tag liegt, Arbeitslosen und Staatsangestellte verlieren durch dieses Fiskalpolitik Geld und kommen in existenzielle Not.
Internationale Solidarität – auch mit dem irakischen Klassenkampf
Aus all diesen Gründen ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis die nächste Protestwelle ausbrechen wird. Es ist aber zu erwarten, dass nicht nur die Protestierenden dazugelernt haben, sondern auch die konterrevolutionären Kräfte (u.a. die Sadristen) und die Repressionsapparate. Doch der jungen Generation fehlt es nach wie vor an Perspektive, an Jobs und an Selbstbestimmung. In den Protesten 2019/20 hat sie – trotz Repression – an Selbstvertrauen und Radikalität gewonnen. Angesichts der politischen und ökonomischen Krise, in die das Land schlittert, wird der Kampf um eine bessere Zukunft noch einige Runden dauern.
Gegenwärtig wird hier viel geschrieben zum 10-jährigen Geburtstag der sogenannten „arabischen Revolutionen“. Auch im Irak gab es 2011 Proteste. Doch der Irak wurde schon damals fälschlicherweise als ein Land wahrgenommen, das – zwar tragischerweise durch eine Invasion, aber dennoch – bereits 2003 „vom Diktator befreit“ worden sei. Die darauffolgende sektiererische Gewalt wurde hierzulande überwiegend als vom Irak selbstverschuldet angesehen und eine breite, anhaltende Solidarisierung mit den linken Kämpfen im Irak blieb verhalten. Der Diskurs des „arabischen Frühlings“ war zu dieser Zeit vor allem ein politischer Diskurs im Sinne „das Volk gegen den bösen Diktator“. In dieser Perspektive lässt sich der Irak zu leicht abhacken. Nimmt man allerdings die ökonomische und soziale Lage dieser Länder in den Blick, gibt es viele Gemeinsamkeiten mit den anderen arabischen Ländern, die einen „arabischen Frühling“ durchgemacht haben. Gerade, wenn man 10 Jahre später darüber nachdenkt. Die US-Invasion hat die Lebensbedingungen der Iraker*innen nicht verbessert. Die Menschen haben immer noch existenzielle sozio-ökonomische Probleme, die jenen in Ägypten, Tunesien oder Syrien gleichen.
Die Proteste 2019/20 im Irak drückten ihre Solidarität gegenüber den gleichzeitig stattfindenden Protesten im Iran, im Libanon und in Hong Kong aus. Nicht immer war der Irak so verbunden mit dem Rest der („arabischen“) Welt. Das scheint sich allmählich zu ändern, meinen die Aktivist*innen von WAS. Die Protestierenden im Irak würden mehr und mehr wahrnehmen, dass sie zu einem gemeinsamen geopolitischen Raum gehören, in dem verschiedene Länder mit ähnlichen Problemen kämpfen. Probleme, die verursacht wurden durch Neoliberalismus, Korruption, repressive Regierungen, fehlende Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit und einer schwierigen bzw. stark vom westlichen Kapital abhängigen Wirtschaft. WAS haben sich neben der Organisation von arbeitslosen Jugendlichen ebendiesen Aufbau eines internationalen Solidaritätsnetzwerks auf die Fahne geschrieben. Die Gruppe entstand im Oktober 2019, sie ist also – wie viele andere politische Gruppen – ein Kind des October Uprisings.
Es ist wichtig, die klassenkämpferische Linke im Irak auch hier wieder mehr in den Fokus zu bekommen. Der Irak ist zu einem geostrategischen und ökonomischen Schlachtfeld geworden zwischen imperialen Mächten. Aus der Distanz droht die Bevölkerung vor dem Hintergrund der Kritik am Imperialismus vergessen zu gehen. Darum ist es wichtig, als klässenkämpferische Linke, wieder in einen Dialog zu kommen, der seit Jahren abgebrochen zu sein scheint. Um zu verstehen, welche Solidarität hier für die Kämpfe dort wichtig ist, müssen wir im Austausch die gegenseitigen politischen Projekte und Möglichkeiten kennen lernen. Umso wichtiger ist es, mit klassenkämpferischen linken Organisationen und Aktivist*innen vor Ort Kontakt aufzunehmen und zusammen zu wachsen. Eine andere Möglichkeit ist eine grössere Anteilnahme der deutschen ausserparlamentarischen Linken an den zahlreichen Initiativen und Projekten der irakischen Diaspora in Deutschland.
Es bleibt nur die revolutionäre Option
Die Corona-Einschränkungen haben auch die irakische Protestbewegung seit letztem Sommer lahmgelegt. Doch die ökonomische und politische Situation hat sich in dieser Zeit eher verschlechtert und über die sozialen Media wird bereits für nächste Proteste motiviert. In Bezug auf die Wahlen bleibt die Protestbewegung gespalten. Heute befinden sich viele Iraker*innen laut den Aktivist*innen von WAS wegen dieses Konflikts zwischen den beiden imperialen Mächten USA und Iran in einem Zustand der Panik. Sie wollen einen Irak ohne Gewalt und beschwören auch eine gewaltlose Protestform. Die vorgezogenen Neuwahlen haben eine Spaltung unter den Demonstrant*innen hervorgerufen. Für die klassenkämpferische Bewegung WAS, die sich ebenso gegen die USA als auch den Iran wendet, gibt es zwei mögliche Wege für einen politischen Wandel im Irak.
Der erste Weg wäre für sie die revolutionäre Option: die popularen Massen in den Wohngebieten und an den Arbeitsplätzen zu organisieren und dadurch eine politische Partei mit einer Massenbasis zu bilden, durch die sie die politische Macht ergreifen und die neue irakische Republik errichten kann.
Der zweite Weg wäre der demokratische Weg: die Bildung einer politischen Partei durch Demonstrant*innen. Diese Partei könnte dann die Bedingungen für die Teilnahme an den Wahlen festlegen, zum Beispiel: 1. Lösen Sie alle Milizen auf. 2. Ein Prozess für die Mörder der Demonstrant*innen. 3. Internationaler Schutz und Überwachung der Wahlen. 4. Ein faires Wahlgesetz. 5. Ein faires Parteiengesetz. 6. Faire Finanz- und Medienfinanzierung zwischen den Parteien für den Wahlkampf.
Dass die Regierung auf diese Forderungen eingehen wird und tatsächlich eine Situation erschaffen kann, unter denen faire Wahlen stattfinden können, bezweifeln die Aktivist*innen von WAS. Daher bleibt für sie nur der Boykott der Wahlen und eine Revolution die einzige Option für die irakische Gesellschaft, sich von diesem modernden, korrupten und sektiererischen System zu befreien.
Anmerkungen
[1] Die Basis-Organisation Workers Against Sectarianism
ist ein 2019 gegründeter Zusammenschluss junger, arbeitsloser Menschen
in verschiedenen Städten und Regionen des Irak (inklusive der autonomen
Region Kurdistan/Irak). Sie organisieren sich, um gegen
Arbeitslosigkeit, gegen Sektierertum, Korruption und für eine
revolutionäre Perspektive im Irak zu kämpfen. Dabei sprechen sie sich
ebenso gegen den Einfluss des Irans wie auch jener der USA im Irak aus.
Sie versuchen, eine Perspektive von unten auf die Proteste im Land zu
geben und ein internationales Solidaritätsnetzwerk von Aktivist*innen
aufzubauen. Sie gehören zur klassenkämpferischen Linken im Irak.
[2]
Sadr-Bewegung: Ist eine irakische islamistisch nationale Bewegung um
den Kleriker Muqtada al Sadr. Die schiitische religiös-populistische
Bewegung mit engen Verbindungen zum Iran hat eine breite Unterstützung
in der jungen schiitischen Bevölkerung im Iraker. Ihr Ziel ist eine
durch eine Kombination von religiösen Gesetzen und Stammesbräuchen
geordnete Gesellschaft. 2018 gelang es ihnen, sich zur Stimme der
Straßenproteste aufzuschwingen. Darauf erzielten sie in der Koalition
mit u.a. der Kommunistischen Partei den Sieg in den Parlamentswahlen. In
den Protesten 2019 war die „Mahdi-Armee“, eine von Sadrs Vater
begründete paramilitärische Streitkraft, als konterrevolutionäre Kraft
an der Repression der Proteste beteiligt, nachdem es der Sadr-Bewegung
nicht gelungen ist, die Proteste 2019/20 für sich zu
instrumentalisieren.
[3] Sektiererisches Parteiensystem: Die Verfassung von 2005 bindet gewisse politischen Ämter im Irak an konfessionelle Zugehörigkeiten. Dies ging aus einem ethno-konfessionellen, und föderalistischen Post-Invasions-Plan der USA (u.a. Joe Biden) für den Irak hervor. Ziel war es, ein konfessionelles Gleichgewicht zu schaffen, indem man den jahrzehntelang unterdrückten Schiiten den mächtigsten Posten des Ministerpräsidenten gab. Die Kurden bekamen das Amt des Staatspräsidenten und die Sunniten bekamen vor dem Hintergrund einer Entbaathisierung den eher symbolischen Posten des Parlamentssprechers. Aufgrund des nach wie vor bestehenden riesigen Beamtenapparats als einem der immer noch wichtigsten Arbeitgeber im Irak, entstand vor diesem Hintergrund ein korrupter Klientelismus.