Am 24. August 1973 begann der »wilde Streik« bei Ford in Köln. Ein Gespräch mit dem damaligen Streikkomiteemitglied Hasan Dogan
Hasan Dogan war neben Baha Targün, dem mittlerweile verstorbenen Anführer des Arbeitskampfes bei Ford, Mitglied des zwölfköpfigen StreikkomiteesIm Januar 1973 hatten Streiks in der Metall- und Stahlindustrie begonnen, auch bei den Werften wurde gestreikt. Die schlechten Tarifabschlüsse und schlechte Arbeitsbedingungen hatten das Fass zum Überlaufen gebracht. Ein Streik nach dem anderen folgte. Streikforscher zählten über 300 Ausstände mit einer Beteiligung von mehr als 300.000 Kolleginnen und Kollegen in Westdeutschland.
Zwei besondere Kämpfe hatten in der Umgebung von Köln für Aufsehen gesorgt: die Arbeitsniederlegungen der Frauen bei den Automobilzulieferern Hella in Lippstadt und Pierburg in Neuss. Dort kämpften Frauen verschiedener Nationalitäten für »gleichen Lohn für gleiche Arbeit«, für die Abschaffung der niedrigen Lohnklasse 2, die nur für Frauen vorgesehen war. Die Frauen waren am Ende siegreich. (ys)
Wann haben Sie bei Ford angefangen zu arbeiten, und wie gut waren Sie vernetzt?
Ich bekam ca. drei Monate vor dem Streik dort eine Anstellung. Damals arbeiteten 32.000 Menschen bei Ford, davon 12.000 aus der Türkei. In einigen Hallen waren bis zu 90 Prozent Türkeistämmige. Wir haben meist die Drecksarbeit verrichtet. Ich habe relativ schnell die kämpferischen Arbeiter kennengelernt. Baha Targün, die Galionsfigur des Streiks, lernte ich direkt bei meiner Ankunft kennen. Wir freundeten uns an. Baha kannte viele im Betrieb und war ein angesehener Arbeiter. Er war sehr gut vernetzt. Mit den kämpferischen Arbeitern diskutierten wir oft über unsere Situation im Betrieb und in den Wohnheimen.
1973 gab es unzählige Streiks. Sie haben sich ihnen erst im August angeschlossen. Warum so spät?
Als die Streikwelle in Westdeutschland ausbrach, schloss sich ein Betrieb nach dem anderen den Arbeitskämpfen an. Linke Gruppierungen versuchten, auch bei Ford in Köln zu mobilisieren. Es wurden Flyer vor den Toren verteilt mit dem Aufruf: »Wann streikt Ford?« Der Betrieb war fest in der Hand der IG Metall und der Betriebsräte, die jeglichen Streik verhindern wollten und mit der Betriebsleitung kooperierten. So wurde bei Ford lange nicht gestreikt.
Wie kam es dann zum Ausstand? Was waren die Vorbedingungen?
Wir hatten sehr schlechte Arbeitsbedingungen. Unsere Wohnheime waren eine Katastrophe. Wir haben teils mit sechs Männern ein kleines Zimmer geteilt und hatten für zwei Zimmer eine Dusche, für drei Zimmer eine Küche. Im Wechsel arbeiteten wir im Akkord. Zudem hatten fast alle von uns die Entgeltgruppe vier. Fast alle deutschen Kollegen hatten die Entgeltgruppe sechs oder sieben. Nach den Sommerferien kam dann der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Mehrere hundert türkeistämmige Kollegen wurden nach dem Urlaub fristlos gekündigt. Sie kamen zu spät aus den Ferien zurück. Sie hatten größtenteils Krankmeldungen oder erklärliche Entschuldigungen. Das Problem hatten die Arbeiter schon immer gehabt. Damals dauerte eine einfache Fahrt mit dem Auto in die Heimat nicht unter drei Tagen. Deswegen wollten alle sechs Wochen am Stück Urlaub haben. Die Sehnsucht nach der Heimat und der Familie war sehr groß. Viele hatten, wie ich auch, Frau und Kinder zurückgelassen, um hier einige Jahre zu arbeiten. Dann wurden Hunderte Kollegen fristlos gekündigt, das hieß für uns, mit weniger Leuten weiter den Akkord zu stemmen. Das ging aber nicht, wir waren schon am Limit angelangt. Dann platzte uns der Kragen.
Was geschah am 24. August?
In der Spätschicht war es dann soweit. Wir waren in der »Hölle« von Ford, in der Y-Halle. Wir sollten die Arbeit der entlassenen Kollegen mitmachen. Wir sind schon dem normalen Akkord nicht nachgekommen. Da riss einem Kollegen plötzlich der Geduldsfaden, und er fing an zu brüllen. Und sofort stimmten wir alle mit ein. Baha hatte eine sehr kräftige Stimme. Er schrie ganz laut, dass wir durch die Hallen demonstrieren sollen. Wir liefen von Abteilung zu Abteilung, alle, Arm in Arm, fast jeder schloss sich uns an – meist die türkeistämmigen, aber auch deutsche Kollegen. Wir liefen raus zur nächsten Halle und dann über die Brücke zum Westgelände. Als wir dort ankamen, standen Tausende Arbeiter hinter uns. Wir haben alle Tore blockiert. Keiner kam rein oder raus.
Was waren Ihre Forderungen, und wie haben sich der Betriebsrat und die IG Metall verhalten?
Vor der Personalabteilung machten wir eine große Versammlung mit den Kollegen, besprachen unsere Forderungen: eine Mark mehr, sechs Wochen Urlaub am Stück, die Wiedereinstellung der entlassenen Kollegen und die Angleichung der Entgeltgruppen. Alle stimmten zu. Die IG Metall und der Betriebsrat versuchten, den Streik zu vereinnahmen und führten ohne uns Verhandlungen. Das war uns aber egal. Wir hatten die Macht im Betrieb. Wir bezeichneten die Bürokraten als »satilmis sendika« (»gekaufte Gewerkschaften«). Die Spätschicht ging dann geschlossen nach Hause, die Nachtschicht wurde von Ford abgesagt. Am Montag ging der Streik mit der Frühschicht weiter. Als wir aber sahen, dass der Betriebsrat auf der anderen Seite steht, haben wir ein eigenes Streikkomitee gegründet und eigene Verhandlungen aufgenommen.
Wie liefen die Verhandlungen?
Die Fabrikleitung hat versucht uns zu bestechen. Millionen von Mark und Autos wurden uns versprochen, wenn wir mit dem Streik aufhören. Wir hatten als Komitee die gesamte Leitung des Ausstands unter unserer Kontrolle. Das wusste auch die Betriebsleitung. Wir lehnten ab und sagten, was unsere Forderungen sind. Hätten wir uns kaufen lassen, hätten wir gleich sterben können. Was hätte das Leben als Verräter noch für einen Sinn gehabt?
Wie ging es weiter, als Ihren Forderungen nicht zugestimmt wurde? Gab es Solidarität von außen?
Ab Montag haben wir den Laden wieder dichtgemacht. Wir fingen an, im Betrieb zu schlafen. Unser Streik sprach sich ganz schnell in der Öffentlichkeit herum. Jeder hörte davon. Mit Lkw kam Essen und Trinken zu uns. Die Solidarität wuchs und gab uns noch mehr Mut. Am Montag schliefen etwa 400 Kollegen im Betrieb, am Dienstag wurden es über 800 und am Mittwoch weit über 2.000. Da merkte die Betriebsleitung, dass die Sache sehr ernst wurde und nur ein Ende in Sicht war, wenn unsere Forderungen angenommen werden.
Sogar Willy Brandt rief uns auf, den Streik zu beenden. Wir haben ihn aber ignoriert und nicht auf ihn gehört. Was wäre das für ein Signal an die Kollegen gewesen, wenn wir auf den Staat hören würden.
Am fünften Tag wurde der Streik niedergeschlagen. Was ist passiert?
Am Donnerstag liefen wir wieder durch die Hallen, um alle zu mobilisieren. Als wir uns der Halle G näherten, kam uns eine Gegendemonstration entgegen. Sie provozierten und griffen uns an. Die Betriebsleitung hatte die Polizei und andere Leute, die wir nicht zuordnen konnten, herbeigeholt. Als wir aus der G-Halle kamen, wurde plötzlich das Tor hinter uns geschlossen. Plötzlich waren wir mit dem Komitee und einer Handvoll weiterer Arbeiter von der Masse getrennt. Ein großer Fehler von uns, den wir nicht hatten kommen sehen. Die Polizei und die Schläger prügelten auf uns ein und warfen die Streikleitung in den bereitstehenden Wagen. Baha haben sie beinahe zu Tode geprügelt. Die restlichen Kollegen kamen nur einzeln an kleinen Türen durch und es gab eine Schlägerei zwischen Arbeitern und Polizei.
Das Komitee und ein Dutzend der Anführer wurden verhaftet. Als wir weg waren, wusste keiner so richtig, was er tun sollte und wie es weitergeht. Damit hatten auch wir nicht gerechnet. Der Streik wurde blutig niedergeschlagen.
Wie ging es danach weiter?
Wir, die verhafteten Arbeiter, wurden alle fristlos gekündigt. Schätzungsweise kamen nach dieser Zerschlagung 250 bis 600 Arbeiter (Zahlen von Ford und den Arbeiter variieren, Anmerkung vom Autor) nicht mehr zur Arbeit. Einige aus Angst und viele wegen der Drohungen der Betriebsleitung, weil sie sich am Streik beteiligt hatten. Wir wurden nämlich mit Anzeigen und direkter Abschiebung bedroht. Das ist auch bei einigen eingetroffen.
Was haben Sie erreicht?
Unser Streik löste großen Respekt und Angst bei der Betriebsleitung gegenüber den Türkeistämmigen aus. Wir wurden nicht mehr als Gastarbeiter wahrgenommen, sondern als Arbeiter. Ein Kollege sagte nach dem Streik zu mir: »Das ist der Tag, wo wir keine Gastarbeiter mehr sind, sondern Arbeiter wurden«. Nach mehr als zehn Jahren hörten wir noch, welche Spuren unser Streik bei denen da oben hinterlassen hat. Sie gingen sofort runter zu den Arbeitern, sobald ihnen was zu Ohren kam, um es ins reine zu bringen. Wir haben gezeigt, dass wir Arbeiter eine Macht waren und dass ohne uns im Werk nichts geht. Wir haben nicht alles durchsetzen können. Aber wir haben bei Tausenden Arbeitern ein Bewusstsein für ihre Lage geschaffen.