Der neue Feminismus lässt uns eine weltweite Atmosphäre des Juni-Widerstands1 erleben, er nährt sich von dem weltweiten gesellschaftlich-politischen Widerstand der Frauen
“Wenn starke Winde wehen, fliegen einige Vögel fort, einige Vögel verstecken sich und andere strecken ihre Flügel aus und fliegen hoch hinaus. Lasst uns unsere Flügel ausstrecken und fliegen.“
Es zeigt sich in den Augen. Was ich vor Monaten sah, bei der internationalen Versammlung des weltweiten Frauen-Protesttags in Mosambik, an dem Vertreterinnen aus 30 Ländern teilnahmen, war doch keine Sinnestäuschung; eine junge Frau aus Mosambik sprach über die gesellschaftliche Verachtung der schwangere minderjährige Mädchen ausgesetzt sind. Eine ältere Frau aus der Schweiz, die ihr mit Tränen in den Augen gelauscht hatte, bemerkte zunächst an ihren Tränen, dass sie verstanden hatte. Wir übrigen versammelten Frauen staunten erst über sie, dann staunten wir über uns selbst, dass wir gestaunt hatten.
“Ja, bei uns ist es genau so“, sagte eine Frau aus Rojava. Während eine kleine Frau aus Peru jedes Wort der Rednerin aus Rojova in sich aufsog, erzählte eine Schwester aus dem Baskenland mit Begeisterung von den feministischen Selbstverteidigungsschulungen und den Fackelprotesten zum “Verjagen der Angst“. Die Frauen aus der Westsahara, Frankeich, Brasilien und den Philippinen erzählten mit dem gleichen Blick in ihren Augen von ihren Erfahrungen, die sie unter der neoliberalen Männerherrschaft gemacht haben.
Dann waren da Mädchen, deren junges Leben der marktwirtschaftlichen, religiös-fundamentalistischen Männerherrschaft geopfert werden soll, doch bei ihren „Girl Power“-Tänzen erstrahlten ihre Körper voll während sie schrien „wir sind keine Opfer, wir sind Widerstandskämpferinnen“. Die gleichen Augen sah ich später bei den Frauen in Üsküp, der Wiege der neoliberalen “Zivilegesellschaft“ auf dem Balkan.
Ich sah diese Augen beim Streik gegen die Abschaffung des Abtreibungsrechts bei den Frauen aus Polen; in Lateinamerika, in Argentinien, in Peru bei militanten Massenaktionen von Frauen gegen Männergewalt; ich sah sie in Italien, in Südkorea, in Irland bei militanten Protesten gegen die strikten Abtreibungsgesetze; ich sah sie bei den gewaltigen Frauendemonstrationen in den USA und dann später, am 8. März 2017 in fünfundfünfzig Ländern international.
Der Frauenstreik betritt die Bühne der Geschichte.
Im Grunde genommen ist damit ein neues historisches Subjekt entstanden; während in der Türkei “diese Körper, dieses Leben, dieses Land gehört uns“ gesagt wird, sagten andere Frauen in Maputo “Wir wollen unser Recht auf unseren Körper, unseren Boden und unser Land haben“;
In Polen hieß es “Chce mieć wybór” (ich will meine Rechte haben), in Argentinien “Ni Una Menos” (wir wollen nicht länger eine weniger werden). Aber egal welche Parolen sie benutzen, es zeigt sich eine neue Generation der Frauenbewegung, die von den spezifischen Merkmalen des 21. Jahrhunderts geprägt ist.
Das positive Erbe der 2. Generation der feministischen Welle der 70 Jahre sickert allmählich durch die vom Neoliberalismus zerstörte Welt und nimmt die Gestalt einer neuen gesellschaftlichen und feministischen Bewegung an. Sie bezeichnet sich als “Feminismus der 99%“(2).
Die Geschichte hört ihre Schritte seit Langem.
Solidaritätskampagnen mit den von Drogenbanden ermordeten, tausenden Textilarbeiterinnen in Ciudad Juarez an der mexikanischen Grenze zu den USA; Widerstandskomitees gegen die Gewalt an Frauen in der argentinische Arbeitslosenbewegung Piquetor; Frauenkomitees in der MST (Landlosenbewegung) in Brasilien, im Baskenland die Frauenkomitees in der Bewegung gegen die Obdachlosigkeit – Die Bewegungen, die gegen den Neoliberalismus kämpfen, bilden jetzt eigene Formen der autonomen Frauenorganisierung.
Anders als der vereinzelt unter dem Einfluss der Postmoderne austeigende Feminismus der neoliberalen Welt, der ausschließlich die individuelle Entfaltung im Blick hat, glaubt der Feminismus der 99% an die Kraft der Solidarität der Frauen. Er verbindet den Kampf gegen Männergewalt mit dem für Arbeitssicherheit und mit dem Kampf gegen Lohnunterschiede: Er versteht die Zusammenhänge zwischen Frauenfeindlichkeit und Homophobie, Transphobie, Einwanderungsfeindlichkeit. Angela Devis, die große Feministin der 70er Jahre, hat die Zusammenhänge zwischen Rasse, Klasse und Geschlecht hervorragend analysiert und in die feministische Bewegung eingebracht. Ihre Botschaft vom “antirassistischen, antiimperialistischen, antiheterosexistischen und gegen den Neoliberalismus gerichteten Kampf“ wird in der neuen Welle des internationalen feministischen Bewegung wieder aufgegriffen, die damit einen erfreulich weiten Horizont zeigt.
Es ist nicht verwunderlich, dass der lateinamerikanische Kontinent das Zentrum dieser feministischen Welle der 99% bildet, welches die Basis aller gesellschaftliche Bewegungen der letzten 10 Jahre stellt. Die argentinische Frauenkoalition Ni Una Menos, die eine der Zentralen des internationalen Frauenstreiks darstellt, berichtet, dass die Gewalt gegen Frauen an mehreren Fronten stattfindet: Die Gewalt gegen Frauen ist die häusliche Gewalt; aber zugleich ist sie die Gewalt der Markwirtschaft, der Verschuldung, der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die des Staates; sie ist die diskriminierungspolitische Gewalt gegen LGBT-Personen und gegen Migrant*innen . Auch Massenverhaftungen von Migrant*innen sind eine Form der Gewalt. Es ist die Gewalt, die durch Abtreibungsverbote und Einschränkungen des Recht auf kostenlose, medizinische Abtreibung und Versorgung am Körper von Frauen begangen wird. Der neoliberale Kapitalismus ist ein umfassendes System der Gewalt, das die tiefgreifenden Mechanismen der Gewalt gegen Frauen fortwährend erneuert.
Der neue Feminismus lässt uns eine weltweite Atmosphäre des Juni-Widerstands erleben, er wird gespeist vom weltweiten gesellschaftlich-politischen Widerstand der Frauen.
Es ist absehbar, dass alle Elemente im Gefüge der Frauenbewegung sich bewegen werden; das wichtigste ist aber, dass die Frauen die Welt erschüttern werden.
So wie die erste und zweite Generation des Feminismus zuvor, wird diese neue Generation, die sich nun als Frauenbewegung formiert, ein neues Zeitalter eröffnen, in dem an der Frauen- aber auch an der Männerfront nichts mehr so sein wird wie früher.
Dann wird geschehen, was die Zauberin, Heilerin, Verächterin des Patriarchats und Göttin von Erde und Mond, die Hexe Medea von der Küste des Schwarzen Meers, einst sagte:“Stirb um wieder geboren zu werden, stirb um als eine neue Frau geboren zu werden“.
Quelle: http://sendika15.org/2017/03/daha-baslangic-dunyayi-yerinden-oynatacagiz-cigdem-cidamli/
Übersetzt aus dem Türkischen für FreieSicht.Org
1) Anm. d. Übersetzer*innen: Gemeint sind die Gezi-/Tasimproteste im Juni 2013 in der Türkei. Bei der gewaltigen Welle militanter Proteste, die sich an der Privatisierung und Bebauung des Gezi-Parks am Taksim-Platz entzündete, und unterschiedliche Bewegungen von Unterdrückten im Kampf gegen Neoliberalismus und den zunehmend autoritär-fundamentalistischen agierenden Staat zusammenbrachte.
2) Anm. d. Übersetzer*innen: Mit den 99% sind die Occupy-Proteste und im erweiterten Sinne die weltweiten Protestbewegungen insgesamt gemeint, die sich in den letzten Jahren gegen die neoliberale Herrschaft herausgebildet haben. „Wir sind die 99%“ war das Motto der Occupy-Proteste.