Das Interview mit Samir vom Mouvement de l’immigration et des Banlieues (MIB ist eine unabhängige und selbstorganisierte Initiative von Migrant_innen aus den Banlieues in Frankreich), wurde auf französisch im Februar 2017 auf dem Blog lundimatin (s. Fußnote 1) veröffentlicht und nun ins Deutsche übersetzt. Einige spezielle Begriffe haben wir auch in der deutschen Übersetzung auf französisch gelassen, da eine Übersetzung nicht oder nur schwer möglich ist. Sie sind in Fußnoten erklärt.
„Unsere Stadtteile sind keine politischen Wüsten“
Seit die Misshandlungen der Polizei in Aulnay-sous-bois (s. Fußnote 2) öffentlich gemacht wurden, scheinen die abendlichen Aufstände in den Pariser Vororten nicht enden zu wollen. Und dies trotz der Aufrufe, Ruhe zu bewahren und der Drohungen seitens der Exekutive. Ein Leser von lundimatin (s. Fußnote 3) fand es deshalb wichtig, dem Blog ein Interview zukommen zu lassen, das er mit Samir gemacht hat, einem Aktivisten aus dem Mouvement de l’immigration et des banlieues (MIB).
Samir spricht in dem Interview über seine Politisierung in den Banlieues in den 90er Jahren, über die Aufstände vom November 2005, über die Rolle von Organisierung im Stadtteil und seine Sicht auf die aktuelle Bewegung #Justicepourthéo (s. Fußnote 4). Er liefert eine Analyse über die Weiterführung der Aufstände in Form von Aktivismus, auf der politischen Ebene sowie die Verbindung mit anderen Kämpfen.
Hallo Samir, kannst du uns etwas über deine politische Laufbahn erzählen? Du warst in den 90er Jahren ein Teil vom MIB. Was war besonders an eurem politischen Ansatz in den quartiers populaires (s. Fußnote 5)?
Der Konflikt mit der Polizei hat sehr früh begonnen, in den Jahren 1988-89. Aber das Ereignis, das mich zu einem Aktivisten gemacht hat, ereignete sich am 17. Dezember 1997. Damals wurde Abdelkader Bouziane von der brigade anti-criminalité getötet. Wir waren noch nicht politisiert, aber nach seiner Ermordung mit einer Kugel in den Hinterkopf organisierten wir Aufstände, die mehrere Tage andauerten. Wir kannten die Polizei, das heißt, wir wussten, dass sie dazu da war, uns zu schaden und nicht uns zu helfen. Wir organisierten uns in der Art und Weise, die uns am besten erschien und die wir kannten: als Aufstände.
Danach trafen wir Leute von außerhalb des Viertels: sie waren von der MIB. Sie haben uns erklärt, dass die Aufstände zwar gut wären – ein politischer Akt, der kurzfristig wirksam sei – dass die beste Form uns in unseren Vierteln zu verteidigen jedoch die sei, uns selbst zu organisieren, als Bewohner_innen. Sie haben mit uns über Autonomie und Selbstorganisierung gesprochen: die ihrer Ansicht nach die besten Mittel sind, um die Wahrheit über die Verbrechen der Polizei ans Licht zu bringen, ohne die „Araber und Schwarzen vom Dienst“ (die in der damaligen Zeit bei der Organisation S.O.S Rassismus arbeiteten) ihre schmutzige Arbeit machen zu lassen. Um diesen entgegen zu wirken und um zu verhindern, dass wir instrumentalisiert werden, sei es notwendig, unsere eigene Geschichte über die Gewalt zu erzählen. Sie haben uns erklärt, dass sie das nicht für uns machen würden, dass sie uns aber bilden und dabei helfen könnten, uns selbst zu organisieren und über unsere Probleme der letzten dreißig Jahre zu sprechen (die städtische Aufwertung, Polizeigewalt und den allgegenwärtigen Rassismus). Das hat dazu geführt, dass wir Freunde wurden. Sie haben die Aufstände nie verurteilt. Im Gegenteil, sie haben uns dabei unterstützt, sie als politischen Akt zu begreifen. Aber für sie waren sie nicht ausreichend: den Aufständen müsse politische Arbeit durch Bildung von unten in unseren Vierteln folgen. Unsere Viertel sind keine politischen Wüsten, es gab schon immer Kämpfe und autonome Bewegungen, die aber immer durch die Sozialistische Partei oder die Rechten erstickt wurden.
Kannst du eine Bilanz der aktuellen politischen Situation in den quartiers populaires ziehen?
Momentan ist die Situation desaströs, weil unsere Viertel im Stich gelassen und kriminalisiert werden. Sie dienen als großes Übungsfeld für die B.A.C (brigade anti-criminalité) und die brigade sécurité territoriale, die kommen um uns fertig zu machen. In den 90er Jahren haben wir gesagt, dass die französische Polizei eine koloniale Polizei ist, aber heute müssen wir eher von einer Miliz sprechen, die durch ihre Dienstabzeichen geschützt wird. Auch ist heutzutage deutlich geworden, dass neben Araber_innen und Schwarzen, die unter Rassismus leiden, die ganze Bevölkerung hier unter Prekarität leidet. Und die Gewalt ist nicht nur auf die quartiers populaires beschränkt. Ein sehr konkretes Beispiel ist der Widerstand der Jugend (aber auch der Älteren) während der Mobilisierungen gegen das Loi de travail (s. Fußnote 6): man hat beim tête de cortège (s. Fußnote 7) dieselben Praxen wieder gefunden, die in den letzten Jahrzehnten unsere eigenen waren. Es hat mir eine große Freude bereitet, all diese Leute zu sehen, wie sie Widerstand leisteten. Die Solidarität und die politischen Beziehungen, die durch den tête de cortège eingeführt wurden, ähneln dem, was wir in den Vierteln praktizieren. Der tête de cortège lässt sich nicht von der Regierung oder der Polizei „führen“ – sondern steht auf seiner eigenen Basis.
Du sprichst über die brigade sécurité territoriale, kannst du uns mehr über sie erzählen?
Die sind eine Verlängerung der B.A.C. Außer, dass die B.A.C aus Leuten ohne Gehirn bestand, mit den schlechtesten Noten, diejenigen, die sich gerne prügelten. Aber die BST heutzutage ist wesentlich gewalttätiger, denn sie ist politischer und agiert gleichzeitig im Auftrag der Regierung. Sie haben das Sagen. Wenn ihnen gesagt wird, sie sollen in einem der Viertel Ausschreitungen provozieren, dann machen sie das. Sie sind effektiver als die B.A.C, denn sie haben sich aus diesen weiter entwickelt. Zwei Drittel dieser Polizist_innen sind in der Alliance gewerkschaftlich organisiert, einer Gewerkschaft, die der extremen Rechten näher ist als dem rechten Flügel der Republikaner. Das gibt vielleicht eine Vorstellung davon, mit welchen Polizist_innen wir es zu tun haben. Ihre Gewalt ist besser organisiert, versteckter und sie begehen mehr Misshandlungen als die B.A.C. Wir haben in den letzten Jahren ein unvorstellbares Ausmaß an Gewalt erreicht.
Das bedeutet nicht, dass wir die B.A.C bevorzugen, nur dass die BST wesentlich besser ausgerüstet und besser bewaffnet ist, so dass die Jugendlichen aus den Vierteln (wie auch die auf den Demonstrationen) schwer bewaffneten Kräften gegenüberstehen, die enorme und schwerwiegende Schäden anrichten. Die Mili (Mouvement inter lutte indépendientes aus Paris) hat letztes Jahr die Zahl an Verletzten auf den Demonstrationen (gegen das Loi Travail) dokumentiert. Dank der Arbeit dieses Kollektivs können wir den Anstieg von Polizeigewalt im Rahmen der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung nachvollziehen. Wir sprechen nicht über ein Dutzend Verletzte, sondern über Hunderte. Diese Gewalt ist Alltag in den Vierteln, die unter der größtmöglichen Gewalt des Staates leiden.
Du hast enge Beziehungen zur Familie von Adama (s. Fußnote 8) und hast ihnen geholfen, als sie Unterstützung brauchten. Kannst du uns erzählen, was sich seit dem Mord an dem jungen Mann im Frühsommer verändert hat?
Beaumont gibt den Menschen aus den Vierteln Hoffnung, durch die Art und Weise, wie sie sich entschieden haben, zu kämpfen. Das heißt durch Selbstorganisation und Autonomie, nachdem die Familie von Anfang an beschlossen hat, den Freund_innen, Bekannten und Nachbar_innen aus Beaumont Vertrauen zu schenken. Das ist, woraus sie heute ihre Kraft ziehen, weil ihnen niemand sagt, was sie tun sollen, sondern sie selbst gemeinsam entscheiden, wie sie ihren Kampf organisieren wollen. Es gibt etliche Erfolgsbeispiele: die Demontage der Lügen der gendarmes, die sehr schnell zum Wechsel des Staatsanwaltes geführt hat und darüber hinaus zur Veränderung der Machtbeziehungen, die sie zu den zuständigen lokalen Behörden (Präfekturen), der Stadtverwaltung und dem Innenminister aufbauen konnten.
Was ist deiner Meinung nach der Unterschied zum Fall Théo? Ist es die Mobilisierung von bekannten Menschen in den Banlieues, z.B. Rapper?
Wenn ich das mal so sagen darf, während ihr über Leute redet, die „in den Vierteln bekannt sind“, sprechen wir von „Arabern und Schwarzen vom Dienst“. Lass mich das erklären. Wenn wir über Dupont-Moretti (den Anwalt von Théo) sprechen, über wen sprechen wir dann? Wir sprechen über sein Netzwerk und über die Sozialistische Partei, die dafür Sorge tragen will, dass die Sache diesmal nicht so läuft, wie in Beaumont: man verhindert, dass die Bewohner_innen, die Angehörigen und Freund_innen von Théo mit ihrer eigenen Stimme sprechen und sich selbst organisieren. Wenn man andere anstelle der direkt Betroffenen sprechen lässt, dann ist das eine Enteignung der Sprache. Wenn wir sagen, dass Worte wichtig sind: Wir reden über ein Verbrechen, über eine Gruppen-Vergewaltigung, nicht nur von einfacher „Polizeigewalt“. Das ist ein barbarischer Akt und Théo steht dafür. Und es gibt auch einen rassistischen Akt: die Beleidigungen der Polizei ihm gegenüber als „bamboula“, „dreckiger Schwarzer“ – aber diese Tatsachen hört man nicht aus den Mündern derjenigen, die angeblich seiner Familie nahe stehen sollen.
Aber Vorsicht, wenn ich von den „Arabern und Schwarzen vom Dienst“ spreche, dann meine ich nicht die Rapper oder andere Bewohner_innen des Viertels, sondern die antirassistischen Verbände, die, wenn es darum geht, die Stimme der Bewohner_innen zu ersticken, in Wahrheit auf der Seite der Sozialistischen Partei stehen. Die Kunst und die Art und Weise die Diskurse aus den Viertel zu ersticken. Ich werde einige Namen von Organisationen nennen, weil es mir wichtig erscheint. Zum Beispiel „AC le feu“ oder „Pas sons nous“. Diese beiden Organisationen agieren Hand in Hand mit der Sozialistischen Partei, um das zu zerstören, was in unseren Vierteln aufgebaut wurde. Und sie geben vor, unsere Repräsentant_innen zu sein, obwohl wir sie noch nie gesehen haben. Im Gegenteil, das, was wir sehen, ist das Geld, das sie vom Staat erhalten und der Allgemeinbildung dienen sollte, das aber zu 100 % in die Gehälter fließt.
Die Haltung der Rapper von heute ist sehr gut. Sie erinnert mich an die Zeit von MIB, als Rapper sich getroffen haben um Musik zu machen, wie „11 Minuten 30 gegen die rassistischen Gesetze“. Sie haben ihre Einnahmen danach zu 100 % an den MIB gegeben, um Flyer zu drucken und Zeitschriften zu machen. Das sind Rapper, die sich den Aktivist_innen aus den Vierteln zur Verfügung gestellt haben, damit diese weiterhin autonom arbeiten können. Heute gibt es eine neue Generation von Rappern, die wächst und die sich Familien und Organisationen zur Verfügung stellt, die in den Vierteln arbeiten. Außerdem möchte ich die Rapper würdigen, die sich immer den Vierteln zur Verfügung gestellt haben, wie Skalpel, la Scred Connexion, La Rumeur oder z.B. Fianso aus Blanc-Mesnil, den ich über Monate auf den Demonstrationen gegen Polizeigewalt gesehen habe. Er spricht über Araber_innen und Schwarze genauso, wie über Weiße und das macht Freude. Die Rapper sind das Sprachrohr derjenigen, die sich tagtäglich auf der Straße bewegen. Sie haben verstanden, dass sie da sind, um etwas weiterzugeben.
Die Aufstände haben sich in den Banlieues ausgebreitet und zahlreiche Demonstrationen haben in den wohlhabenderen Stadtzentren stattgefunden.Man hat den Eindruck, dass Verbindungen anfangen zu entstehen, die aber noch sehr fragil sind. Was denkst du darüber?
Fragil, ja, denn es gibt eine Leerstelle (un passif) zwischen der radikalen Linken und den quartiers populaires. Aber mit der neuen Generation werden sich diese Verbindungen aus meiner Sicht, Stück für Stück verfestigen. Wie ich bereits erwähnt habe, habe ich während der Proteste gegen das Loi travail Dinge gesehen, die ich in der Anti-Globalisierungsbewegung oder anderen Protesten nicht gesehen habe. Damals haben uns die Aktivist_innen mit einem paternalistischen Blick betrachtet, abgelehnt und nicht beachtet. Heute haben wir echte Diskussionen und Bündnisse zwischen Autonomen, Antifaschist_innen und den Aktivist_innen aus den Vierteln. Nehmen wir ein Beispiel, der Fall von Antonin (verurteilt und inhaftiert, weil ihm vorgeworfen wurde, während der Proteste gegen das Loi Travail an einem Angriff auf ein Polizeiauto beteiligt gewesen zu sein) wurde von seiner politischen Familie verteidigt, aber auch von den Aktivist_innen aus den Vierteln. Das ist nicht nur eine Annäherung der Worte, sondern eine Annäherung auf der Straße und diese muss weiter gefüttert werden. Das ist was die neue Generation macht.
Letzten Samstag haben sich fast 5000 Menschen in Bobigny für Théo und alle anderen Opfer von Polizeigewalt versammelt. Wir haben sowohl Bewohner_innen des Viertels als auch Aktivist_innen aus dem Stadtzentrum gesehen. Kann man sagen, dass diese Verbindung sich in Aktionen zeigt, für den Moment?
Nachdem was ich sehen konnte, würde ich sagen ja. Ich habe viele Aktivist_innen des sogenannten tête de cortège gesehen, die nicht nur gekommen sind, um die Familie Traoré zu unterstützen, in Beaumont und auf der Demonstration vom 5. November in Paris, sondern auch Théo nach den erlebten Aggressionen. Aber um nochmal zur Frage von Bobigny zurück zu kommen, ich bin froh darüber, was ich gesehen habe. Die Tatsache, dass die sogenannten jungen Weißen dort waren und dieselben Parolen mit derselben Wut geschrien haben, wie die Jugendlichen aus den Vierteln. Und in dem Moment, als die Wut nach den Provokationen der Polizei auf der Brücke und um den Gerichtspark von Bobigny stärker geworden ist, habe ich einige Dinge gesehen, die für mich sehr gut, sagen wir, wunderschön waren: diese Übereinstimmung angesichts der Polizeigewalt, dabei jede Einzelne und Einzelnen respektierend. Leute, die letztlich den Eindruck hatten, als würden sie sich schon lange kennen. Vor allem was Polizeigewalt betrifft, aber nicht nur: auch was die Problematik von Islamophobie betrifft. Viele Aktivist_innen haben darüber gesprochen und sprechen immer noch darüber ohne das Thema zu vermeiden. Weiße zu sehen – prekär oder nicht – die sich mit den Jugendlichen aus den Vierteln verbinden um Steine zu schmeißen, und die die Polizei als Ziel nehmen, das hat mir erlaubt mit einem Lächeln nach Hause zu gehen.
Was denkst du über die Jungen Kommunist_innen von 93, die in den Medien erklärt haben, dass die jungen Pariser bobos die Auseinandersetzungen ausgelöst hätten und ihre Gruppe es gewesen sei, die versucht hätte, die Versammlungen durch Verhandlungen mit der Polizei zu beruhigen?
Das ist unakzeptabel, das ist klar. Ich denke, sie sollten den Mund halten. Alle Leute, die dort waren, haben gesehen, dass es nicht die Pariser bobos waren, die an diesem Abend irgendetwas ausgelöst haben. Für die Kommunist_innen aus Bobigny sind es nicht die Polizist_innen, die die Auseinandersetzungen ausgelöst haben. Aber ich sage: die Jugendlichen aus den Vierteln haben sich bewegt und auf die Polizeipräsenz und die andauernden Provokationen geantwortet. Das ist, was wir Selbstverteidigung von unten nennen. Wenn die Schweine sich gut benommen hätten, wäre die Versammlung anders verlaufen.
Was ist deiner Ansicht nach nötig, um von einem einfachen Bündnis des Aufstandes zu einem langfristigen strategischen Vorgehen zu kommen?
Zuerst müssen wir mit den Treffen weitermachen, die es seit Beginn des Ausnahmezustandes gibt und Bildung von unten durchführen, die unsere Unterschiede respektiert und nicht die Geschichte von jeder und jedem auslöscht. Die neue Methode, die durch die wilden Demonstrationen, die sehr politisch sind, nach den Attentaten vom 13. November durchgeführt wurde, muss mit den Aktivist_innen aus den Vierteln ausgeweitet werden. Sie müssen unbedingt an dieser Art der Mobilisierung teilnehmen. So lernen wir, Treffen zu machen, die uns auf lange Zeit stärken werden. Es gibt ein Beispiel in der kürzeren Vergangenheit, der tête de cortège. Das ist ein Beispiel für Solidarität, für den Aufbau eines politischen Kräfteverhältnisses und Autonomie, welche die Forderungen aller mit einschließt. Ich möchte eine Episode erzählen, die mir unglaublich gefallen hat. Die Jungen, die wir weiße bobos nennen, haben die Rolle der CGT in unseren Vierteln nicht vergessen – ich habe den tête de cortège gesehen, wie er verhindert hat, dass die CGT bei ihnen teilnimmt. Es ist diese Unabhängigkeit der neuen Generation, die keine Chefs hat, die ich wunderbar finde. Als die CGT entschieden hat, sich auf die Seite der Polizei zu schlagen, hat es uns aus den Vierteln, die wir unter diesen Führern des Sozialverrats gelitten haben, gefreut zu sehen, dass die Jungen und weniger Jungen eine Zusammenarbeit mit denjenigen abgelehnt haben, die mit den Bullen diskutieren.
Um nochmal ein bisschen auf die Viertel und das politische Leben dort zurück zu kommen. Du hast gesagt, dass die Viertel ihre eigene Geschichte, ihre eigene politische Kultur haben, aber wie wird in den Vierteln „Politik machen“ heutzutage verstanden?
Durch autonome Organisierung kümmern wir uns um die Jugendlichen, durch Nachhilfe oder soziale Aktivitäten aber auch durch politische Bildung. Es gibt keinen Unterschied zwischen Bildung von unten und politischer Bildung. Das beste Beispiel von MIB in Frankreich hierfür ist die Association Justice pour le Petit Bard. Sie machen eine langfristige Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen, in dem sie politische Erfolge durch ein Kräfteverhältnis erzeugen, das von der Straße kommt und nicht aus den Büros, wo die „Araber und Schwarzen vom Dienst“ die Gewinne einfahren. Niemand verkauft sich. Alles kommt von der Straße und aus der Kraft, die die Bewohner_innen selbst an der Basis aufgebaut haben.
In meiner Stadt in Dammarie-les-Lys haben wir nach dem Mord an Abdelkader die Association Bouge qui Bouge gegründet, die Bildungsarbeit mit dem Grundverständnis macht: mache niemals Bündnisse, diskutiere niemals und setze dich niemals mit denjenigen an einen Tisch, die dich unterdrücken. Folgende Aktion ist ein Beispiel: Als wir von einer Demonstration zurück gekommen sind, haben wir die Bewohner_innen eines Gebäudes im Viertel gefragt, ob sie zur Straße hin die Transpis aufhängen wollen, die wir benutzt haben. Sie haben alle positiv reagiert und auf den Transpis waren Slogans über Stadtentwicklung, gegen Polizeigewalt und Rassismus zu lesen. Was wir erstaunlich fanden, war, dass die Bewohner_innen alle ja gesagt haben. Sie kennen uns, weil wir ihren Kindern helfen. Sie waren alle glücklich, bis heute bekomme ich noch einen Schauer, wenn ich daran denke. Es gab eine echte Verbindung mit den Bewohner_innen.
Ich fände es gut, wenn du erzählen könntest, welche Unterschiede aber auch Kontinuitäten du zu den Aufständen von 2005 beobachtest.
Was sich zu 2005 verändert hat, ist, dass die Leute damals wussten, dass Zyed & Bouna (s. Fußnote 9) von der Polizei verfolgt und getötet wurden, heute aber die ganze Welt weiß, warum Steine geschmissen werden. Die Jugendlichen können alles mit ihren eigenen Worten erklären: dass sie die rassistischen Polizeikontrollen satt haben, es satt haben, ihre Freunde sterben zu sehen und mitzuerleben, wie Jugendliche wie Bagui oder Anto und dutzende Andere, nur wegen ihrer Überzeugung und ihrer Situation im Gefängnis sind, ohne dass sie eine Straftat begangen haben. Steine schmeißen ist keine Straftat, sondern eine Folge der Gewalt, unter der sie leiden. Das sind politische Gefangene, egal ob du aus dem Viertel kommst und von deiner Situation abgegessen bist oder ob du ein Aktivist von draußen bist, der sie verteidigt und deshalb verhaftet wird.
Es gab einen großen Medienhype und Öffentlichkeit. Während ich heute sage, die Jugendlichen wissen, warum sie Steine schmeißen, zeigen die Interviews von 2005, dass über Zyed & Bouna gesprochen wurde, ohne zu präzisieren, dass sie ein Teil der alltäglichen verbrecherischen Polizeipraxis waren. Die Aufstände ermöglichen es uns, uns langfristig aufzustellen, die Polizeigewalt führt langfristig dazu, dass sich Aktivist_innen herausbilden, durch die Verbreitung einer Ideologie. Wenn ein Viertel einen von den seinen verliert, entwickelt sich eine Methode der Verteidigung, die in der Form der Versammlungen deutlich wird. Das ist eine wichtige Sache, wenn wir von Unterstützung und Bündnissen reden. Ein Junge, der zur Schule geht, wird sich mit den Aktivist_innen aus dem Viertel austauschen, während sie unseren Kleinen Nachhilfe geben, und so können wir unsere Erfahrungen und Sichtweisen auf die Situation vermitteln.
Wir haben nicht dieselben Methoden. Wir sind in der Lage Wahllisten zu erstellen, um politische Beziehungen aufzubauen. Ich spreche über die Stadtverwaltung und wir wissen, dass nicht alle damit einverstanden sind, aber das erlaubt es uns, uns lokal zu verteidigen. In manchen Vierteln waren unsere Kämpfe sehr stark, wie in Dammarie-les-Lys, so dass es keine Notwendigkeit gab, eine Liste aufzustellen. Wir waren jeden Tag auf der Straße und wir hatten mehr Kraft als ein Mitglied im Rathaus oder der Bürgermeister selbst. Eine andere Situation gibt es in Toulouse oder in Lyon, dort ermöglichen es uns unabhängige Listen bekannt zu werden und unsere Forderungen in die Debatten mit einzubringen. Aber Achtung, man arbeitet zusammen, man erzeugt Übereinstimmungen, aber niemals zulasten der Geschichte von den einen oder anderen. In der zweiten Runde lösen wir uns wieder auf, weil wir nicht mit Leuten zusammen arbeiten, die uns ins Gesicht spucken. Unsere Methode erlaubt es, Fragen in den politischen Debatten zu stellen. Von Anfang bis zum Ende gibt es eine Kontrolle durch die Bewohner_innen, so dass wir die Freiheit haben, Themen auszuwählen.
Zum Abschluss schlagen wir vor, dass du uns deine Sicht auf die Wahlen mitteilst
Für mich wäre das Ideal, wenn das, was die letzten Jahre erreicht wurde, uns ermöglicht, breit dazu aufzurufen, nicht zur Wahl zu gehen für Leute, die uns nicht beachten und unterdrücken. Nochmal so etwas zu machen, wie bei den banquets gegen den Ausnahmezustand im letzten Jahr in Ménilmontant, Veranstaltungen organisieren, auf denen man sich amüsieren kann, Konzerte, diskutieren, sich treffen, um sich nach den Wahlen richtig zu organisieren. Ich hoffe, dass es einen phänomenalen Rekord an Nichtwählenden geben wird. Ich habe im Internet einen Begriff gesehen, der mir gefallen hat, „die unregierbare Generation“, das ist eine Parole, die mir gefällt. Das ist, was wir sind, unregierbar und das müssen wir zeigen.
1) https://lundi.am/Nos-
2) In Aulnay-sous-Bois wurde am 02.02.2017 der 22-jährige schwarze junge Mann Théo von einer Gruppe von Polizisten nach einer rassistischen Polizeikontrolle mit einem Gummiknüppel brutal vergewaltigt
3) https://lundi.am/
4) Nachdem die Polizeigewalt gegen Théo bekannt wurde, gab es tagelang Aufstände in mehreren Vororten sowie Demonstrationen und Schüler_innenstreiks in ganz Frankreich. Zudem wurde von einem breiten Bündnis zu einem Marsch für Gerechtigkeit und Würde am 19. März in Paris aufgerufen, an sich dem ca. 7000 Menschen beteiligten. Der Marsch wird jedoch von einigen Aktivist_innen und Betroffenen kritisiert, weil sie darin eine Vereinnahmung ihrer Kämpfe durch offizielle antirassistische Initiativen und Organisationen sehen.
5) Quartiers populaires sind ursprünglich die Arbeiterviertel, hier die Vororte französischer Städte, in denen viele migrantische Menschen in prekären Lebenssituationen wohnen und die häufig von den Städten isoliert werden.
6) Das Loi travail ist eine Arbeitsmarktreform, die massive Verschlechterungen für Arbeiter_innen in Bezug auf Kündigungsschutz, Überstunden, Mehrarbeit etc. bedeutet. Die Ankündigung der Reform löste monatelange Proteste und Streikwellen aus. Dennoch wurde das Gesetz von der Sozialistischen Partei im Mai 2016 ohne Abstimmung im Parlament durchgesetzt.
7) Der Übersetzung ist die Bedeutung des Begriffs tête de cortège nicht völlig klar geworden: die Bezeichnung scheint im Rahmen der Proteste gegen das Loi travail entstanden zu sein. Er bezieht sich auf eine neue Bewegung von Aktivist_innen, die unabhängig von klassischen Institutionen wie Gewerkschaften und Parteien agiert, sich heterogen zusammensetzt (Aktivist_innen der Nuit debout Bewegung, Autonome, Anarchist_innen, Schüler_innen, Student_innen, militante Gewerkschaftsaktivist_innen, Arbeiter_innen etc.), sich auf diverse linke Kämpfe und Widerstände bezieht und diese zusammen denkt, und in den Protesten entschlossen und militant auftreten und so die ersten Reihen bilden.
8) Adama Traore starb am 24. Geburtstag in der Polizeistation von Persan-Beaumont. Polizei, Staatsanwaltschaft und Politik behaupten, er sei durch einen Herzinfarkt gestorben. Nur durch die kontinuierliche Arbeit seiner Familie und Unterstützer_innen und gegen den erheblichen Widerstand der Behörden werden die Lügen der offiziellen Akteure aufgedeckt. Es wird deutlich, dass Adama von Polizisten erstickt und dadurch getötet wurde. Die Familie erfährt seitdem massive Repression durch den französischen Staat. Seine beiden Brüder Youssef und Bagui wurden verhaftet und zu Strafen auf Bewährung verurteilt. Im Februar 2017 wurde Bagui erneut verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, bei Protesten auf Polizisten geschossen zu haben. Aktuell ist Bagui im Hungerstreik. https://linksunten.indymedia.
9) Die beiden Jugendlichen sind im Oktober 2005 im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois durch einen Stromschlag gestorben, nach dem sie von der Polizei gejagt wurden und sich in einem Transformatorenhäuschen verstecken wollten.
Übersetzt für freiesicht.org