Garip, Aktivist bei Allmende e.V.
Bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert leben türkeistämmige Menschen hier in Almanya. Ursprünglich als Gastarbeiter angeworben, leben mittlerweile ca. 2,9 Millionen türkeistämmige Menschen in der vierten Generation in Deutschland. Weniger als die Hälfte von ihnen hat (auch) den deutschen Pass. Fast die Hälfte von ihnen ist in Deutschland geboren. Seit 2006 kehren mehr »Deutschtürken« in die Türkei zurück, als Türkeistämmige nach Deutschland kommen.(2) Dies dürfte sich aufgrund der aktuellen politisch unerträglichen Zustände in der Türkei wieder umkehren.
Unter dem Begriff „türkeistämmig“ sind nicht nur Türken, sondern auch Kurden, Zaza, Lasen, Tscherkessen und weitere kleinere Ethnien, wie zum Beispiel die christlichen Minderheiten der Armenier und Aramäer zu verstehen.(3) Die Kurdische Gemeinde Deutschland z.B. zählt in Deutschland eine Million Kurden.(4) Diese Zahl ist u.a. aufgrund der kurdischen Geflüchteten aus Syrien um 15% gestiegen. Vier Prozent(5) der Gesamtbevölkerung in Deutschland mit einem Bezug zur/zu Türkei/Nordkurdistan sind seit Generationen sozial, familiär oder beruflich in der BRD verwurzelt.
Irrationale Tagesordnung
Dieser Bezug tritt teilweise irrational in Erscheinung. Neben den Beziehungen zu Verwandten, Hab und Gut und ihrer persönlichen Geschichte in der Türkei, führen Diskriminierung und Rassismus in Deutschland dazu, dass viele resigniert ihre Aufmerksamkeit eher der Entwicklung in der Türkei widmen. Daher favorisieren selbst Jugendliche, die hier aufgewachsen sind, eher eine Fußballmannschaft der Süperlig als eine der Bundesliga. Auf der politischen Ebene folgt daraus oft eine Anklammerung an religiös-nationalistische Identitäten, was durch den türkischen Staat gefördert wird.
Auch die „türkisch“/kurdische Linke widmet sich, v.a. seit dem Gezi-Aufstand im Juni 2013, intensiver denn je der polarisierenden Entwicklung in der Türkei. Und leider bleibt dabei das Engagement für gleiche Rechte und gegen Rassismus in Form von unabhängiger, selbstbestimmter und emanzipatorische Organisierung der Migranten in Deutschland mehr oder weniger auf der Strecke.
Institutioneller Einfluss des türkischen Staates
Die Herrschenden in der Türkei haben die »Türken« im Ausland seit eh und je als Devisenbringer und ihre fünfte Kolonne betrachtet. Offiziell oder inoffiziell sind mehrere Einrichtungen in Deutschland für den Einfluss der türkischen Politik tätig, so das Präsidium für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften (YTATB). Eine dem türkischen Ministerpräsidentenamt nachgeordnete Verwaltungsbehörde, in der türkische Dachverbände im »Ausland« mit den verschiedenen türkischen Ministerien und staatlichen Institutionen zusammensitzen.
Einen direkten Einfluss auf die Kinder und an Schulen übt der türkische Staat über die staatlichen türkischen Lehrer im Auftrag des Konsulats aus. In Berlin unterrichten sie an 150 Schulen. Eine Steigerung um 50 Prozent gegenüber 2007.(6) Nachdem in der Türkei seit dem gescheiterten Militärputsch Mitte Juli 2016 zehntausende Lehrer gegen Erdogan-treue Kräfte ausgetauscht wurden, ist auch eine Säuberung unter den hierzulande tätigen Lehrern zu befürchten. Auf religiöser Ebene arbeitet die DITIB (Diyanet Isleri Türk-Islam Birligi, Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.), der deutsche Ableger der türkischen Religionsbehörde, im Auftrag des türkischen Staates. In der letzten Zeit häufen sich Berichte, dass dieser Dachverband mit etwa 900 Moscheen in Deutschland, in Deutschland lebende Türkeistämmige bespitzelt und denunziert. Als Folge hiervon wurde der Vorstand der Sehitlik-Moschee in Berlin-Neukölln auf Weisung des türkischen Generalkonsulats ausgetauscht. Die türkische Zeitung »Cumhuriyet« enthüllte, dass es seit September 2016 eine Anweisung der türkischen Religionsbehörde an Mitarbeiter im Ausland gebe, Informationen über Lehrer und Kulturvereinsvorstände zu liefern. Die Behörden wollen wissen, wer womöglich Anhänger des Predigers Fethullah Gülen sein könnte.(7) Daraufhin forderte der Grüne Volker Beck den Generalbundesanwalt auf, wegen der mutmaßlichen Ausspähung türkischer Regimegegner in Deutschland durch die DITIB-Imame zu ermitteln.(8)
Gewalttätige Auseinandersetzungen
Gewalttätige Auseinandersetzungen auf den Straßen Deutschlands spiegeln die Eskalation in der Türkei und Nordkurdistan wider. Gewalt zwischen Türkischstämmigen tritt vor allem dann auf, wenn versucht wird, die Kurdenfrage, die mal unter der AKP-Regierungszeit friedlich angegangen wurde, mit blutigen und militärischen Mitteln zu lösen. Erdogan hat den angekündigten Friedensprozess abrupt und eigenmächtig für beendet erklärt und den kurdischen Städten (Cizre, Nusaybin, Amed, Sirnak …) faktisch den Krieg erklärt. Im Zuge dessen kriminalisierte er die prokurdische-linksgerichtete HDP (Demokratische Partei der Völker, drittstärkste Partei im türkischen Parlament) und ruft seine fanatischen Anhänger zum gewalttätigen Vorgehen gegen linke und kurdische Einrichtungen und Personen auf. Die diversen nationalistischen, rassistischen und islamistisch geprägten Gruppierungen (9) greifen Linke und vor allem Kurden in der Türkei an durch Brandanschläge, Lynchjustiz und das Verwüsten von Vereinsräumen und Parteibüros. Ebenso gewalttätig treten ihre Ableger auch in Deutschland auf.
Vor allem am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg kommt es im Rahmen von Demonstrationen immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die türkischen nationalistischen Gruppen wollen sich durch Demos unter dem Motto »Nieder mit dem Terror“ (gemeint ist die PKK) in der Öffentlichkeit eine gewisse Legitimität verschaffen. Im Grunde wollen sie aber Angst und Schrecken verbreiten. So wurde eine nationalistisch-türkische Rockergruppe namens Turkos gegründet, um Kurden Angst zu
machen.(10) In Berlin-Kreuzberg kam es zu Anschlägen gegen HDP-Wahlbüros und ihre Infostände.
Nationalistisch bis rassistische Töne
Die Massenmobilisierung unter den türkisch-islamisch geprägten Menschen in Deutschland und in Berlin hält sich trotz der massiven Propaganda der türkischen Medien und Institutionen in Deutschland in Grenzen. Während gut zwei Wochen nach dem Putschversuch in der Türkei 40.000 Menschen zu der u.a. von der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) organisierten Pro-Erdogan-Kundgebung unter dem demagogischen Motto »Ja zur Demokratie – Nein zum Staatsstreich« in Köln kamen, haben sich zu der Kundgebung unter dem Motto »Gegen den Terror«, am Brandenburger Tor Mitte November 2016 nur 500 Fahnen schwenkende Menschen zusammengefunden.11 Die Argumentation, mit der sich Teile der türkeistämmigen Migranten rechthaberisch auf der Seite der türkischen Regierung wähnen, geht auf die Demagogie zurück, dass der Westen, v.a. Deutschland und Belgien, die türkeifeindlichen Terrorgruppen beherbergen und antitürkische Positionen vertreten würden. Diese Propaganda entlud sich in den aggressiven und bedrohlichen Reaktion auf die Armenien-Resolution des Bundestages: Türkeistämmige Abgeordnete der Bundestagsparteien wurden rassistisch diffamiert und bedroht. Rückendeckung bekamen sie von höchster Stelle: Erdogan hetzte gegen die Befürworter der Resolution und verlangte von den türkeistämmigen Abgeordneten einen Bluttest. Der so offen rassistisch agierende türkische Staatspräsident tritt auf Massenveranstaltungen als Kämpfer gegen die Assimilation von Türken in Deutschland auf.
Nein zum diktatorischen Präsidialsystem in der Türkei und anderswo
Nun geht die asymmetrische Auseinandersetzung um das Präsidialsystem und damit die politische Spaltung innerhalb der Türkei – und damit wiederum auch unter den türkeistämmigen Migranten
in Deutschland – in die letzte Phase. Denn im April 2017 steht ein Referendum über die Verfassungsänderung hin zu einer Alleinregierung des Präsidenten, die schon durch das türkische Parlament durchgepeitscht wurde, zur Abstimmung an. Auch hierzulande mobilisieren Linke, Kurden und Aleviten für ein »Nein« zur diktatorischen Herrschaft. Bundesweit wie berlinweit stehen z.B. die Nein-Kampagnen der Haziran-Bewegung und der HDP in den Startlöchern.
Deutschland deckt das diktatorische Regime in der Türkei
Selbst wenn die Öffentlichkeit in Deutschland, von den Konservativen bis zu den Linken aus unterschiedlichen Beweggründen, die massiven Repressionen gegen Unliebsame in der Türkei kritisch bewertet, legitimiert die deutsche Regierung letztendlich die Herrschaft von Erdogan, in dem sie die wirtschaftliche, politische und militärische Zusammenarbeit mit dem NATO-Land Türkei und den beschämenden Flüchtlingsdeal fortsetzt.
Schlussendlich muss daher der Heuchelei, Ausgrenzung und Kriminalisierung durch beide Staaten, die jeweils in unterschiedlicher Intensität und an unterschiedlichen Gruppen betrieben wird, eine Absage erteilt werden. Wir appellieren an den gesunden Menschenverstand der türkeistämmigen (und anderer) Menschen: Lasst euch nicht vereinnahmen durch die menschenverachtende Politik eines Landes fern eurer Lebensrealität und setzt euch vor allem für eure Belange im Sinne eines gleichberechtigten und
würdevollen Lebens in Deutschland ohne Rassismus jeglicher Art ein.
Mehr Infos
*Allmende ist Teil der migrantischen Selbstorganisierung und bemüht sich konsequent darum, den Kampf für Gerechtigkeit und gegen Rassismus in Deutschland in der türkeistämmigen Community zu thematisieren: www.allmendeberlin.de
Fußnoten
1 Einfachheitshalber wird auf die Genderendungen entschuldigend verzichtet.
2 http://blog.initivgruppe.de/2014/06/04/statistik-4-türkischstämmige-in-deutschland
3 https://de.wikikpedia.org/wiki/T%C3%BCrkeist%C3%4Ammige_in_Deutschland
4 https://kurdische-gemeinde.de/zahl-der-kurden-in-deutschland-sprunghaft-angestiegen/Wahlen
5 http://blog.initiavgruppe.de/2014/06/04/statistik-4-turkischstammige-in-Deutschland
9 Graue Wölfe(Jugendorganisation der MHP – Nationalistische Bewegungspartei), Osmanli Ocaklari (Erdogan Schlägertrupps), Alperen Ocaklari (islamistisch ausgerichtete Vereinigung einer Abspaltung der MHP), türkische Jugendeinheit (TGB, extrem kemalistisch ausgerichtete Jugendorganisation der Vaterlandspartei, ehemals Arbeiterpartei).
10 http://www.berliner-zeitung.de/24008982, 2017
11 http://www.berliner-zeitung.de/25125770