Die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe und Íñigo Errejón, Mitglied im Koordinationsrat von Podemos, diskutieren über die Brauchbarkeit des Begriffs Populismus und die Grenzziehungen linkspopulistischer Strategien. (11.07.2016)
Chantal Mouffe: Außerhalb Spaniens werdet ihr als linke Partei gesehen. Die Rechts-links-Frage ist sicher nicht die drängendste Frage, wenn man Podemos verstehen will. Trotzdem: Warum habt ihr so ein Problem damit, die Bezeichnung „links“ zu akzeptieren? Begebt ihr Euch mit der Ablehnung der Rechts-Links-Schemas nicht in Gefahr die Position des Dritten Wegs zu bestätigen, nachdem Politik jenseits von links und rechts gedacht werden müsse?
Íñigo Errejón: Ja, das hat uns viel Misstrauen bei progressiven Gruppen eingebracht. Das wurde als Form extremen Pragmatismus oder der Behauptung, dass Ideologien nicht mehr relevant seien, interpretiert. Egal ob man unserer These zustimmt oder nicht, diese Interpretation stimmt jedenfalls nicht.
Wir gehen davon aus, dass Identitäten konstruiert sind. Wenn diese Konstruktion durch Grenzziehungen stattfindet, dann kann eine andere Grenzziehung eine neue populare Mehrheit herstellen, die es vorher nicht gegeben hat.
Die Eliten waren sehr zufrieden mit dem Rechts-Links-Schema. Sie haben sich selbst auf die Mitte-links/Mitte-rechts-Position gesetzt und ihre Herausforderer damit an die Ränder gedrängt. Indem wie wir eine dazu querliegende Grenzziehung BürgerInnen/ Kaste (1) vornehmen, finden sie sich in einer sehr unkomfortablen Situation wieder.
Deren Reaktion war nicht etwas die Zurückweisung dieser Anschuldigung, Teil der Kaste zu sein. Sie haben uns mit einer Schmutzkampagne überzogen, so als hätten sie akzeptiert, dass sie niemals sympathisch sein werden. Sie hoffen aber, dass es reicht, Misstrauen zu säen, Zynismus zu verbreiten und damit Veränderungswillen zu lähmen.
Chantal Mouffe: Es stimmt schon, dass der Dritte Weg das Rechts-links-Schema entwertet hat. Die Frage bleibt, sollten wir es nicht lieber reaktivieren, statt es einfach aufzugeben?
Íñigo Errejón: Der dritte Weg macht eine Konsensanrufung, die lautet: Es gibt keine Gegensätze mehr, es gibt nur noch Management und technische Unterschiede. Wir behaupten eben nicht, dass es keine Unterschiede mehr gibt, oder dass Ideologie keine Rolle spielt. Wir ersetzen nur die Grenzziehung mit einer anderen: Oben/unten. Das ist meines Erachtens sehr viel radikaler im besten Sinne. Mit der Rechts-Links-Dichotomie bestimmen die traditionellen Akteure weiterhin bequem das Spiel. Mit einer Grenzziehung Bevölkerung/Kaste sind sie plötzlich gezwungen auf einem Feld zu spielen, dass schwieriger für sie ist. Ich denke, dass es wichtig ist, dies anderen EuropäerInnen zu erklären, damit nicht der Eindruck entsteht, dass wir ideologische Auseinandersetzungen ablehnen oder glauben, dass es Demokratie ohne Differenz geben könnte.
Eine anti-essentialistische Perspektive erlaubt es uns, die Metaphorik von links/rechts subversiv zu unterlaufen, ohne die Bedeutung von Ideologien zu leugnen. Sie erlaubt uns die Auseinandersetzung über Bedeutungen anders zu führen. Es gibt nichts Zwangsläufiges an der Rechts/Links-Metaphorik, ihr Nutzen bemisst sich meines Erachtens daran, ob sie genutzt werden kann neue Machtverhältnisse herzustellen, die vorteilhaft für die Subalternen sind.
Chantal Mouffe: Das stimmt, aber um einen gemeinsamen Willen zu erzeugen, der in der Lage ist eine progressive Agenda zu verfolgen, reicht das nicht. Der Erfolg des Rechtspopulismus zeigt dies. Für mich ist die Frage entscheidend, wie eine Form der Politik entwickelt werden kann, die auf die Radikalisierung der Demokratie zielt. Ich vermute, dass Du in diesem Punkt anderer Auffassung bist. Aber meine Meinung ist, dass ein zeitgemäßes Projekt der Radikalisierung von Demokratie der Entwicklung eines linken Populismus bedarf. Ich habe lange gedacht, dass für die Bekämpfung des postpolitischen Trends und für die Schaffung einer agonistischen Konfrontation, die uns eine Radikalisierung der Demokratie ermöglicht, eine Bekräftigung der Rechts-links-Grenzziehung notwendig sei.
Ich denke mittlerweile, dass dies unter den derzeitigen Bedingungen nicht der richtige Weg ist. Wir müssen die Konfrontation anders aufbauen, in dem wir einen gemeinsamen Willen erzeugen, der transversal, progressiv und in der Lage ist, die oligarchischen Strukturen, herauszufordern, die zum Neoliberalismus geführt haben. Ich nenne dies „Linkspopulismus“. Aus den folgenden Gründen: Erstens, weil die meisten Mitte-Links-Parteien zu tief in die neoliberale Hegemonie verstrickt waren, als dass sie reformierbar wären. Vielfach haben sie ihr ja sogar zum Durchbruch verholfen. Während der Krise von 2008 stellte sich heraus, dass sie Komplizen der Austeritätspolitik waren, die diese neoliberale Ordnung verteidigen helfen sollte.
Die Ideologie der „politischen Mitte“ erlaubte keine Konfrontation entlang des Rechts-links-Schemas. In gewisser Weise haben das Ulrich Beck und Anthony Giddens bereits gesehen, sie haben das aber für einen Fortschritt gehalten. Ihre Schlussfolgerung war, dass dies der Beginn einer Politik ohne Antagonismen sei und sie haben diesen ausdrücklich begrüßt.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum das Rechts-links-Schema nicht für eine Radikalisierung der Demokratie genutzt werden kann. In der Ära neoliberaler Globalisierung und Finanzialisierung des Kapitalismus ist das Subjekt nicht mehr nur durch Arbeit der kapitalistischen Logik unterworfen. Das Leben in all seinen Aspekten ist von kapitalistischen Ansprüchen betroffen. Darüber hinaus hat die Ungleichheit zwischen Finanzmarktoligarchen und dem Rest der Gesellschaft rasant zugenommen. Deswegen ist es wichtig die Auseinandersetzungen anders als in der Terminologie von Sozialdemokratie oder Marxismus zu fassen. Wenn wir Bedingungen für einen agonalen Kampf um Hegemonie führen wollen, der das neoliberale und postpolitische Zeitalter in Europa beendet, dann müssen wir einen neuen Modus der Politik einführen. Einen Modus der Bedeutungsketten zwischen verschiedenen demokratischen Forderungen herstellt und Allianzen schafft. Dafür braucht es einen Dialog zwischen den vielfältigen Kämpfen und Institutionen. Wir brauchen eine Synergie zwischen Wahlkämpfen und gesellschaftlichen Kämpfen. Forderungen in der Gesellschaft können nicht ausschließlich vertikal, durch Parteien ausgedrückt werden. Sie brauchen auch horizontale Formen.
Eine neue Form politischer Organisierung artikuliert sich in beiden Modi — das ist es, was ich mit „Linkspopulismus“ meine. Dies bedarf der Konkretisierung in unterschiedlichen europäischen Kontexten.
Íñigo Errejón: Es hängt halt von der Bühne ab. In einem analytischen Sinne gibt es in Spanien schon eine Konstruktion, die sich als „linkspopulistisch“ beschreiben lässt, wenn mal die abschätzige und antidemokratische Konnotation des Wortes mal weglässt. Auf der anderen Seite intervenieren wir politisch und daher können wir keinen Begriff benutzen, der durch die Medien derart negativ konnotiert ist. Wer den Anspruch auf irgendwie gearteten politischen Erfolg hat, kann keine Zuschreibung akzeptieren, die in der allgemeinen Vorstellung mit Demagogie in Zusammenhang gebracht wird.
Chantal Mouffe: Ich verstehe das. Aber wir sollten nicht das semantische Feld des Gegners akzeptieren. Wir müssen eine andere Perspektive auf Populismus verteidigen, wie sie in Ernesto Laclaus analytischer Konzeption in „On populist reason“ eingenommen wird. Wenn ich von „Linkspopulismus“ spreche, dann meine ich eine Politik des „Bewegungskriegs“ und der Schaffung eines popularen Kollektivs durch Bedeutungsketten und die Mobilisierung von Leidenschaft. Das erlaubt eine Abgrenzung des Linkspopulismus sowohl gegen Mitte-links und Linksaußen als auch gegen rechtspopulistische Parteien.
Íñigo Errejón: Ich versteh das, aber versuche einmal das in drei Minuten in einem Fernsehstudio zu erklären, wenn gleichzeitig drei Leute auf dich einbrüllen. Unmöglich. Deswegen halte ich es für Konzept, das gut für analytische Reflexionen aber nicht für mediale Diskussionen tauglich ist. Nicht weil, wir versuchen etwas zu verbergen, sondern weil der Begriff unterschiedlich verwendet wird. In Spaniens medialem Diskurs wird Populismus synonym mit Lüge und Demagogie verwendet.
Chantal Mouffe: Genau deshalb bestehe ich auf die Wiederaneignung und einer positiven Bedeutungsverschiebung durch den Begriff „Linkspopulismus“.
Íñigo Errejón: Das ist langfristig denkbar, aber nicht in ein paar Monaten machbar. Wie du an anderer Stelle gesagt hast, alle die dem Slogan „There is no alternative“(2) widersprechen, werden umgehend als Populisten abgetan. Man muss sich das als Spiegel vorstellen, der die Eliten reflektiert: Je weniger sie den „populus“ aushalten, desto eher erklären sie einen zum Populisten.
Chantal Mouffe: Die Antwort müsste aber sein: Ja, wir sind Populisten, denn wir sind Demokraten und es gibt notwendigerweise eine populistische Dimension in jeder Demokratie, die ja darauf zielt einen demos, ein Volk zu schaffen. Wir als Linkspopulisten zielen darauf die Demokratie zu radikalisieren. Was soll daran falsch sein? Du hast gesagt, dass die Zukunft der Demokratie in Europa davon abhängt, ob es den Eliten gelingt, die Grenzen neu zu ziehen und von der Schaffung eines kollektiven Willens, sei er reaktionär oder progressiv. Ich finde das zutreffend und ich denke, dass die grundlegende Auseinandersetzung in den kommenden Jahren zwischen Rechts- und Linkspopulismus stattfindet. Die zentrale Frage ist dabei, wie das Volk konstruiert wird, aus welchen Bedeutungsketten. Wird es ein rechts- oder linkspopulistisches Volk? Es reicht nicht zu sagen, wir geben dem Volk eine Stimme, als wäre diese Identität schon gegeben. Deswegen müssen wir erklären, welches Volk wir schaffen wollen. In der Politik muss man immer entscheiden, auf welcher Seite man steht. Du musstest dich im Europaparlament auch für eine Seite entscheiden. Es ist inkonsequent einerseits die Identifikation mit der Linken abzulehnen und andererseits mit DIE LINKE, Front de Gauche und Syriza Teil der radikal linken Seite im Europaparlament zu sein. Syriza heißt wörtlich „Partei der radikalen Linken“ und Tsipras hat kein Problem damit sich als links zu identifizieren.
Íñigo Errejón: Das hat damit zu tun, dass es in Griechenland nach wie vor starke Gewerkschaften und traditionelle linke Organisationen gibt und die politischen Identitäten nicht in dem Maße erodiert sind, wie dies in Spanien geschehen ist. Die Leute, die von den Strukturanpassungsprogrammen betroffen waren, haben ihre Wut auf die Straße getragen. Dort gab es noch die herkömmlichen Kanäle um Protest auszudrücken. Die Narrative der Linken waren nach wie vor vorhanden. Im Europaparlament gilt: Mit wem sonst, sollten wir uns verbinden? Wir haben diese Entscheidung immer mit einer patriotischen Terminologie verteidigt. Wir sind in einer Fraktion mit Syriza, weil sie die einzigen patriotischen Kräfte sind, die das Volk und die Bürger ihres Landes gegen die internationalen Spekulanten verteidigen. Es ist die Linke, die ein inklusives Projekt für das Land geschaffen hat. Das ist neu. In seinem Buch „Der Schneider von Ulm“ beschreibt Lucio Magri die national-populare Ader der Kommunistischen Partei Italiens, aber auch deren Defizite und Begrenzungen. Wenn wir uns hingegen die letzte Kampagne von Syriza anschauen, gab es da viel mehr „Heimat“ und „griechisches Volk“ als „Linke“. Sie haben explizit jene um Stimmen gebeten, die von den besiegten Mitte-Rechts-Parteien kamen. Sie haben die Leute nicht dazu aufgefordert links zu wählen, sondern patriotisch zu wählen. Das ist der Grund, warum sie eine Verständigung mit einer Mitte-Rechts-orientierten Anti-Austeritätspartei erreicht haben. Das ist die patriotische Übereinkunft in Verteidigung der griechischen Souveränität gegen die internationale Macht der Finanzwirtschaft. Das ist heute die politische Frontstellung in den halbkolonisierten Ländern Südeuropas. Wenn die progressiven Kräfte diese Frontlinie nicht hegemonialisieren, werden es die reaktionären Kräfte tun.
Wir haben uns viel mit anderen politischen Erfahrungen beschäftigt. In Lateinamerika haben sich viele progressive Fortschritte auch nicht des Rechts-links-Schemas bedient. Tatsächlich hat kaum ein großer historischer Transformationsprozess sich an den rhetorischen Polen rechts und links bedient.
Chantal Mouffe: Das stimmt, aber diese Erfahrungen können nicht einfach übertragen werden. Die national-popularen Bewegungen in Lateinamerika sind nicht mit rechtspopulistischen Parteien konfrontiert. Ihre Gegner sind Oligarchen und ihre Verbündete. In Europa ist die Situation anders, hier braucht es eine Unterscheidung zwischen Rechts- und Linkspopulismus.
Ein weiterer Unterschied ist das, was wir die populistische Situation nennen. Für die national-popularen Regierungen in Lateinamerika war die zentrale Herausforderung die Integration der Bevölkerungsschichten, die bis dahin von den Oligarchen von der Macht ausgeschlossen wurden in ein demokratisches Projekt. Mit der Ausnahme Argentiniens, wo es Dank des Peronismus Erfahrungen mit der popularen Integration gab, wurde das einfache Volk von den Eliten marginalisiert. In Europa gibt es hingegen diverse Erfahrungen bürgerlicher Hegemonien mit der Integration der einfachen Bevölkerung in die Politik. Diese Integration ist heute in der Krise, aber es gibt immer noch Loyalitätsbeziehungen zwischen Teilen der Bevölkerung und der Eliten. Es braucht daher gegen-hegemoniale Kämpfe, die diese Verbindungen kappen und helfen einen linken populus zu schaffen. Ich glaube nicht, dass wir davon ausgehen können, dass das Volk natürlicherweise im Widerspruch zur „Kaste“ steht.
Das Gespräch ist ein stark gekürzter Ausschnitt eines sehr viel längeren Gesprächs, das in Englischer Sprache hier erschienen ist. Übersetzung: Stefan Gerbing.
Fußnoten
[1] Die Kaste – „la casta“ ist in Spanien eine stehende Wendung für die Verstrickung von Politik und Wirtschaftsinteressen sowie für Korruption und Vetternwirtschaft.
[2] Wörtlich: „Es gibt keine Alternative“, Slogan von Margaret Thatcher, der zum Symbol für neoliberal-technokratischer Ideologie geworden ist.
Quelle: www.linksnet.de