Das Herrschaftsprojekt der AKP ist mit einer Neuinterpretation der Geschichte entlang neo-osmanischer und islamistischer Erzählungen verbunden. Ausgehend von den im Istanbuler Stadtviertel Eyüp aufgestellten Almosensteinen lässt sich aufzeigen, wie die islamisch-osmanische Deutung sich in der Stadtentwicklungspolitik niederschlägt.
Als ich im November 2016 mit der 24-jährigen Merve durch das Zentrum des Istanbuler Stadtteils Eyüp laufe, fällt uns ein neuer sandsteinfarbener und freistehender Steinsockel auf. Er ist etwa 1,20 Meter hoch und steht neben dem Eingang zum Caferpaşa-Kulturzentrum. An der Vorderseite des Sockels befindet sich ein Schlitz, durch den Münzen passen. Merve, die aus einem entfernteren Viertel der Stadt nach Eyüp gekommen ist, um an einem von der Stadtteilverwaltung organisierten Miniaturmalkurs teilzunehmen, liest das Schild auf dem Sockel und erklärt mir, dass es sich um einen „osmanischen Almosenstein“ handele: Wer bedürftigen Menschen helfen möchte, kann hier Geld spenden. Neugierig, wie man als Bedürftiger wohl an die Spenden herankommt, schauen wir uns die Rückseite des Sockels an. Dort befindet sich ein kleines Türchen mit Vorhängeschloss. Nach kurzem Erstaunen kommentiert Merve, dass eine solche Sicherheitsmaßnahme heutzutage wohl nötig sei.
Almosensteine in Eyüp
Fünf solcher „Almosensteine“ (sadaka taşları) stehen seit dem Fastenmonat Ramadan im Juni 2016 im historischen Zentrum von Eyüp. Freiwillige Almosen (sadaka) sind ein wichtiges islamisches Konzept und können zusätzlich zur obligatorischen Almosensteuer zekat entrichtet werden. Besucher und Bewohner Eyüps werden durch eine von der Stadtteilverwaltung organisierte Ausstellung im Caferpaşa-Kulturzentrum auf die Bedeutung der Steine aufmerksam gemacht: Als wichtiges osmanisches Kulturerbe spiegelten sie die Mentalität der von den Ausstellungsorganisatoren als „unsere“ bezeichneten Zivilisation wider. Sie reflektierten „unsere Tradition“ des Teilens und den Befehl „unseres Glaubens“ zu spenden; sie seien Symbol von Edelmut (asalet) und Erbarmen (merhamet). [1] Das Beispiel der Almosensteine zeigt allgemeine Tendenzen aktueller Stadtentwicklungs- und Kulturpolitik in Eyüp auf, die im Zusammenhang mit größeren gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei stehen. Zentral für diese Prozesse ist die Propagierung von Erbe und Identität Istanbuls und der Türkei in den Narrativen der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), die auf lokaler und nationaler Ebene regiert. Dies schließt das Selbstverständnis der AKP ein, die ihre Regierungslegitimation zum Teil aus dem Anspruch ableitet, das osmanische Erbe fortzuführen.
Das Almosenstein-Projekt in Eyüp wird von der Stadtteilverwaltung gemeinsam mit dem Sadakataşı Derneği (Almosenstein-Verein) durchgeführt, der sich um die Verteilung der Spenden kümmert. Der Verein, dessen Ausrichtung seiner Website nach zu schließen regierungsnah und islamistisch ist, unterstützt in zahlreichen Ländern Opfer von Krieg und Katastrophen, indem er Nahrungs- und Gesundheitsversorgung gewährleistet, islamische Bildung unterstützt und islamische Bräuche fördert. Das Prinzip der osmanischen Almosensteine, so die Organisatoren des Projekts, bestehe in der Anonymität von Spender und Empfänger. Folglich müssten sich Bedürftige nicht schämen und Wohltäter könnten sich nicht mit ihrer Tat brüsten. Statt wie bei den historischen Steinen eine offene Vertiefung, aus der Bedürftige Geld entnehmen können, bieten die 2016 in Eyüp aufgestellten Steine jedoch nur einen Schlitz in das verschlossene Innere. Die Spenden gehen an eine Hilfsorganisation, die diejenigen, die sie unterstützt, auf ihre Hilfsbedürftigkeit überprüft und sie registriert.
Das Design der neuen Almosensteine weicht also in einem wesentlichen Punkt von seinen osmanischen Vorgängern ab. Dadurch wird die grundlegende Funktion des anonymen und selbstbestimmten Nehmens unmöglich gemacht. Dieser offensichtliche Unterschied wird von der Stadtteilverwaltung und dem Verein nicht angesprochen. Allerdings impliziert der Hinweis, dass zu osmanischer Zeit nie mehr Geld als nötig entnommen worden sei, einen moralischen Verfall der heutigen Gesellschaft. Die Selbstdarstellungen von Stadtteilverwaltung und Verein legen den Fokus auf die Almosenspender und kaum auf die Empfänger, deren Identität unklar bleibt. Statt auf die Bedürfnisse der Empfänger wird auf das „Bedürfnis“ der Gebenden eingegangen, am Ende des Ramadan fitre-Almosen spenden zu können.
Dass es heutzutage effektivere Hilfsangebote für Bedürftige gibt als Almosensteine, wird eingeräumt. Ziel des Projekts sei vielmehr, eine osmanische Tradition wiederzubeleben und zu verbreiten: In Zukunft sollen daher weitere Almosensteine an andere Orte der Türkei gesendet werden. Das Aufstellen der Steine kann somit als „erfundene Tradition“ bezeichnet werden in dem Sinne, dass statt konkreter und praktischer Inhalte universale Werte und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft betont werden. Dabei wird eine vermeintliche Kontinuität mit der Vergangenheit hergestellt. [2]
Ziel ist erstens eine „Osmanisierung“ des Viertels, die sich auf eine selektive Neuinterpretation des „Osmanischen“ stützt, bei der der Islam eine wichtige Rolle spielt. Zweitens wird Eyüp ins Zentrum einer imaginierten osmanisch-islamischen Landkarte gerückt, die über die Türkei hinaus reicht: Aus dem Stadtteil sollen sowohl Spenden zu Muslimen in anderen Teilen der Welt gelangen, als auch mit den Almosensteinen selbst eine auf bestimmte Weise interpretierte osmanische Kultur innerhalb der Türkei verbreitet werden.
Außerdem lassen die neuen Almosensteine den Anspruch der Stadtteilverwaltung und der nationalen AKP-Regierung erkennen, als kompetente Interpreten und Bewahrer von kulturellem Erbe und als großzügige und vertrauenswürdige Verteiler von Sozialleistungen aufzutreten. Es werden Fähigkeit und Recht beansprucht, die Beziehung zwischen Spender und Empfänger zu verändern und mit dem Almosenstein-Verein einen Akteur in die Verteilung von Almosen einzubeziehen, dessen Eingreifen als gerechter dargestellt wird als der unkontrollierte Austausch unter der Bevölkerung.
Die Almosensteine dienen auch dazu, ein bestimmtes Erbe für Touristen sichtbar und erlebbar zu machen. Sie tragen damit zu der aktuell zu beobachtenden touristischen Inwertsetzung des Stadtteils bei, die im Zusammenhang globaler Tendenzen zur Aufwertung historischer, am Wasser gelegener Stadtteile und der Vermarktung von Städten durch Kultur steht.
Wandelnde Bedeutungen Eyüps
Der Name des Distrikts Eyüp leitet sich vom Prophetengefährten Halid bin Zeyd Ebu Eyyub el-Ensari ab. Er starb etwa im Jahr 669 bei einem Versuch der frühen Muslime, das byzantinische Konstantinopel zu erobern. Der Legende nach wurde sein Grab mehrere hundert Jahre später bei der osmanischen Eroberung Konstantinopels 1453 auf Grund eines Traums des Religionsgelehrten Akşemsettin etwas außerhalb der Stadtmauern in der Nähe des Goldenen Horns wiederentdeckt. Sultan Mehmet II. ließ dort einen Schrein mit angrenzendem Moscheekomplex errichten. Aufgrund des Glaubens, dass diejenigen, die in der Nähe des Prophetengefährten begraben sind, am Tag des Jüngsten Gerichts von ihm angeführt würden, und wegen des Prestiges des Orts im Diesseits ließen sich viele religiöse Autoritäten und Staatsgrößen in der Nähe des Schreins bestatten. Im Laufe der Zeit wurden in der Umgebung zahlreiche Konvente, Medresen und Moscheen gegründet. Die Thronbesteigungszeremonie vieler Sultane fand am Schrein Ebu Eyyubs statt, der zu einem Pilgerort geworden war. Die Verbindung zum Propheten Muhammed, zur heiligen Stadt Medina und zur „Goldenen Frühzeit“ des Islam, die über den Prophetengefährten hergestellt wurde, und die wundersame Wiederentdeckung seines Grabs wurden als wichtige islamische Legitimation für die Herrschaft der nicht-arabischen Osmanen verstanden.
Mit der Gründung der laizistischen Republik Türkei 1923 löste Ankara Istanbul als Hauptstadt ab, das nun symbolisch für die osmanische Vergangenheit stand, von der man sich abgrenzen wollte. Alte Gebäude in Istanbul wurden ihrer früheren Nutzung entbunden und verfielen. Das traf insbesondere auf religiöse Konvente und Schreine zu, die 1925 geschlossen wurden. Der Schrein Ebu Eyyubs wurde erst 1950 unter der Regierung der Demokratischen Partei, die die islamische Identität Istanbuls wieder stärker betonte, wiedereröffnet.
Während der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert wurden entlang des Wasserarms des Goldenen Horns Fabriken gebaut, die zahlreiche Arbeiter vor allem aus Anatolien anzogen. Wie in Istanbul insgesamt entstanden auch in Eyüp durch die starke Landflucht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele informelle Siedlungen (gecekondu), so dass bald nur noch die großen Friedhöfe Grünflächen darstellten.
Im Zuge der Liberalisierungspolitik in den 1980er Jahren sollte das Goldene Horn als „Kulturtal“ mit Universitäten, Kunst- und Veranstaltungszentren entwickelt werden, wofür die meisten Industriegebäude abgerissen wurden. An den Ufern wurden Grünflächen angelegt, die allerdings eine mehrspurige Straße von den umgebenden Vierteln trennte. Eyüp schien als potentielles Touristenziel ausbaubar: Als Sehenswürdigkeiten boten sich der Schrein Ebu Eyyubs mit den zahlreichen osmanischen Gebäuden in der Umgebung und das Pierre Loti Café, ein Aussichtspunkt auf dem Friedhofshügel hinter dem Schrein, an. Sowohl für das historische Zentrum also auch für die Gegend um das Café entstanden ab Mitte der 1980er Jahre Stadtentwicklungspläne mit dem Ziel, historische Gebäude und Stadtteilstruktur besser zu schützen und sie für Touristen attraktiver zu machen.
Eyüp unter AKP-Regierung
1994 gewann die Refah Partisi (Wohlfahrtspartei), eine Vorgängerpartei der heute regierenden AKP, die Wahlen sowohl im 1983 gegründeten Distrikt Eyüp als auch in ganz Istanbul. Der heutige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, wurde Bürgermeister von Istanbul. Die AKP und ihre Vorgängerparteien stellen seitdem in Eyüp und im Großraum Istanbul und seit 2002 auf Staatsebene kontinuierlich die Regierung.
Die politisch konservative Partei bedient sich einer islamischen und neo-osmanischen Rhetorik und positioniert sich damit demonstrativ im Gegensatz zur CHP (Republikanische Volkspartei), die Mustafa Kemal Atatürk 1923 gegründet hatte. Die AKP inszeniert sich als Unterstützer konservativer und religiöser Schichten, die sich nach Republikgründung von den teils drastischen Maßnahmen zur Säkularisierung und Modernisierung von Staat und Gesellschaft unterdrückt fühlten. Die osmanische Zeit wird von der AKP als goldenes Zeitalter kultureller und sozialer Harmonie und Authentizität dargestellt, der osmanische Staat als geeignete politische Ordnung dafür. Die laizistische Republik dagegen repräsentiert in dieser Erzählung den Bruch mit dem eigenen Erbe und eine Verfremdung durch Verwestlichung.
Der Stadt Istanbul als ehemaliger Hauptstadt des Osmanischen Reiches wird dabei eine besondere Rolle für die wiederzubelebende osmanisch-islamische Identität zugesprochen. So stilisierte die Wohlfahrtspartei 1994 ihren Wahlsieg als „Wiedereroberung Istanbuls“ in Anspielung an die osmanische Eroberung 1453. Die Stadt wird oft als Projektionsfläche für politische Auseinandersetzungen benutzt, wie dies beispielsweise bei den Gezi-Protesten 2013 sichtbar wurde.
Innerhalb Istanbuls nimmt Eyüp in neo-osmanischen, islamistischen Narrativen eine zentrale Position ein. Die angebliche Verbindung des Prophetengefährten Ebu Eyyub – und damit des Propheten selbst – mit der osmanischen Eroberung Konstantinopels wird auch von Eyüps Stadtteilverwaltung unter anderem in Stadtführern (2011, 2016) und einem Symposium (2015) zum Thema “Ebu Eyyub und die Eroberung Istanbuls” aufgegriffen. Eine islamische Herrschaft über Istanbul wird darin als göttlich prophezeit suggeriert. Heutige Türken werden in derartigen Erzählungen als Erben der Osmanen, der muslimischen Eroberer Konstantinopels, präsentiert.
Die zentrale Positionierung Eyüps
Die Eyüp zugesprochene zentrale Position weltweit und innerhalb Istanbuls wird durch seine angebliche islamische Bedeutung erklärt: In dem 2016 von der Stadtteilverwaltung veröffentlichten Führer nennt der Stadtteilbürgermeister Remzi Aydın Eyüp “eines der wichtigsten spirituellen Zentren nach Mekka, Medina und Jerusalem.” [3] Außerdem wird Eyüps Bedeutung als osmanisches Kunst-, Kultur- und Bildungszentrum betont.
Infrastruktur und Zugänglichkeit des Viertels spielen eine wichtige Rolle dabei, wie der historische Teil Eyüps ins Zentrum einer imaginierten Geographie gerückt wird. Innerhalb Istanbuls wurde Eyüp 1998 durch eine Fährlinie mit Üsküdar, dem anderen osmanisch und islamisch konnotierten Stadtteil außerhalb der historischen Stadtmauern, verbunden. Das Pierre Loti Café ist seit 2005 per Seilbahn vom Zentrum Eyüps aus erreichbar. Demnächst soll es eine zweite Seilbahn mit dem Themenpark Miniatürk auf der anderen Seite des Goldenen Horns verbinden. Dort konstruiert die Ausstellung von Miniatur-Monumenten verschiedener Epochen und Gebiete ein selektives und glorifizierendes osmanisch-islamisches Verständnis des Erbes der heutigen Türkei. Die Nachbauten der historischen Monumente verbindet die Seilbahn mit dem von Remzi Aydın als „lebendig“ bezeichneten spirituellen Zentrum derselben imaginierten Zivilisation.
Ein Bewusstsein der Bewohner Eyüps für die Bedeutung ihres Wohnortes in einer Geographie, die Istanbul überschreitet, sollen sogenannte „Vereinigungs-Reisen“ (Vuslat Yolculukları) schaffen, die zum Schrein des Mystikers Mevlana Rumi im anatolischen Konya, einer früheren Hauptstadt der Seldschuken, führen.
Der Ausbau von Verkehrsrouten stellt also Verbindungen zu anderen Orten innerhalb und außerhalb Istanbuls her, denen bestimmte Bedeutungen in einer imaginierten Geographie zugeschrieben werden. Im Verhältnis zu diesen Orten wird die Bedeutung von Eyüp konstruiert. Die Geschwindigkeit der Stadtentwicklung macht die Veränderlichkeit der Beziehungen zwischen verschiedenen Orten und damit der Eigenschaften, die einem Ort wie Eyüp zugesprochen werden, deutlich. [4]
Osmanisierung
Die selektive Neuinterpretation der osmanischen Geschichte steht im Zusammenhang mit zeitgenössischen Interessen der regierenden AKP und ihren Vorstellungen zu aktuellen und zukünftigen Gesellschaftsordnungen. [5] In der aktuellen Rhetorik der AKP wird nicht nur das Islamische am Osmanischen betont, sondern auch der Bezug auf das osmanische Erbe im Zusammenhang mit nationalistischer und antiwestlicher Rhetorik benutzt. [6]
Wie selektiv diese Geschichtsschreibung der AKP ist, verdeutlicht der Stadtteilführer: Auf dem Gebiet Eyüps existierte zu byzantinischer Zeit die Siedlung Kosmidion, die ebenfalls ein religiöses Zentrum mit Kirchen und einem wichtigen Kloster darstellte. Laut Stadtführer war Kosmidion schon vor der osmanischen Eroberung von Kreuzfahrern zerstört worden, [7] was historisch jedoch nicht nachgewiesen ist. Dadurch kann Eyüp als pures und „originales“ Beispiel osmanisch-islamischer Stadtentwicklung dargestellt werden, im Gegensatz zu den Gebieten innerhalb der Stadtmauern, die frühere römische und byzantinische Strukturen aufnahmen und transformierten.
Die Sehenswürdigkeiten auf den Routen, die der Stadtführer vorschlägt, sind fast alle osmanische Bauwerke mit islamischem Bezug, größtenteils Moscheen und Schreine. Ein besonderer Fokus wird auf Werke des berühmten Architekten Sinan (gest. 1588) gelegt. Genauer erläutert wird vor allem die Architektur der Bauwerke, die Sozialgeschichte wird dagegen fast nicht angesprochen. So geht der Führer kaum auf unterschiedliche islamische Gruppen oder die Rolle von Nicht-Muslimen ein, lediglich eine armenische Kirche zählt er als Sehenswürdigkeit auf. Eyüps industrielles Erbe wird mit Ausnahme von Feshane, das als Veranstaltungszentrum genutzt wird, ausgeblendet; nur ehemalige Industriegebäude am anderen Ufer des Goldenen Horns werden beschrieben. Anstelle ihrer osmanischen Entstehungszeit werden die Fabriken der aktuellen Nutzung als Museen und Veranstaltungszentren zugeordnet und sollen so auf ein kulturell aktives Umfeld Eyüps hinweisen. Byzantinische Ruinen oder republikanische Bauten sind keine Anlaufpunkte auf den empfohlenen Routen.
Seit dem Regierungsantritt der Refah Partisi 1994 wurden viele osmanische Gebäude in Eyüp, die zu dem von der AKP favorisierten Narrativ des Osmanischen passen, renoviert. Dazu zählen der Eyüp Sultan-Schrein (2011-2015), die Zal Mahmut Paşa-Moschee (2012-2015) und frühere Konvente, in denen die Stadtteilverwaltung teilweise Kulturzentren eröffnete. Kurse in „traditioneller“ Kunst, Musik und Osmanisch sollen dort die Funktion Eyüps als Kultur- und Bildungszentrum wiederbeleben.
Tourismus
Den Anspruch, Eyüp stärker touristisch zu erschließen, zeigen mehrere Projekte der Stadtteilverwaltung zur Führung und Information von Touristen. Dazu zählen die App „Eyüp Mobil“, verschiedene Stadtführer und Ausschilderungen von Sehenswürdigkeiten und touristischer Infrastruktur. Dies soll sowohl Pilgertourismus als auch Kulturtourismus fördern. Neben Besuchern aus Istanbul und der Türkei sind insbesondere Muslime aus ehemals osmanischen Gebieten auf dem Balkan sowie arabische, afrikanische und indonesische Muslime die Adressaten, an die in Eyüp das Bild der Türkei als Erbin einer glorreichen osmanischen und islamischen Zivilisation vermittelt werden soll. Allerdings gibt es auch Befürchtungen innerhalb der Stadtteilverwaltung, dass ein zu ausgeprägter Kulturtourismus von Besuchern, die sich nicht an bestimmte Verhaltensnormen halten, und eine Kommodifizierung Eyüps die „friedliche“, religiöse Atmosphäre des Viertels zerstören könnten.
Die Stadtteilverwaltung bewirbt Eyüp als „Hauptstadt des huzur“. Das arabischstämmige Lehnwort huzur gelangte über die islamische Mystik ins Osmanische und stellt heute ein komplexes Konzept von innerem und sozialem Frieden dar. Historische Brüche und soziale Konflikte scheinen in dieser Art der Geschichtsschreibung und Stadtteilvermarktung keinen Platz zu haben. Als weitere wichtige Komponente der huzur-Atmosphäre wird mit der Lage am Wasser und den im Vergleich zum übrigen Istanbul zahlreichen Bäumen und Blumen auf den Friedhöfen ein Kontrast zum modernen Stadtleben konstruiert. Laut Stadtführer kann man hier „dem modernen Stadtleben entfliehen und sich aus […][dem] von Technologie eingekreisten Leben auf eine Reise der Entschleunigung retten.“ [8] Der dabei entstehende innere Frieden sei das gleiche Gefühl, wie in die Heimat zurückzukehren.
Stadtteilverwaltung
Die Stadtteilverwaltung ist ein zentraler Akteur für die Osmanisierung Eyüps und seine Positionierung im Zentrum einer osmanisch-islamischen Geographie, womit auch der lokale Tourismus gefördert werden soll. Der Stadtteilbürgermeister erwähnt oft die Verantwortung der Stadtteilverwaltung dafür, das reiche Erbe dem Volk zu präsentieren und kommenden Generationen zu übermitteln. Diese Verantwortung wird weniger durch Wahlen als durch die Wichtigkeit des Erbes begründet. Auffällig ist an dieser Rhetorik, dass die AKP viele osmanische Begriffe arabischer Herkunft anstelle ihrer türkischen Äquivalente benutzt.
Mit Plakaten, die ihre Errungenschaften und neue Projekte zeigen, und mit Veranstaltungen im öffentlichen Raum wie dem inszenierten Verteilen von Mahlzeiten an religiösen Festtagen ist die Stadtteilverwaltung visuell sehr präsent. Die Selbstvermarktung als Wohltäter steht dem Prinzip des anonymen Spendens, wie es die Almosensteine versinnlichen sollen, jedoch entgegen. Diese patriarchale Geste der Großzügigkeit findet sich allerdings in vielen Selbstdarstellungen der Stadtteilverwaltung und anderer Regierungsinstitutionen wieder.
In der Rolle als Schützer und Übermittler von Moral und Kultur möchte die staatliche Administration zudem in der Bevölkerung ein neues Identitätsbewusstsein schaffen. Um ihre Aktivitäten zu legitimieren, bezieht sich die Regierung auf selbst definierte moralische Werte und auf den angeblichen Willen der als homogen dargestellten Nation (milletin iradesi), anstatt auf die Willensvielfalt der Bevölkerung einzugehen, wie sie in Wahlen sichtbar wird. Das macht ihre Politik schwerer kritisierbar.
Eyüp als islamisch-osmanischer Ort
Für die anfangs erwähnte Merve ist Eyüp ein attraktiver Ort: Sie nimmt lange Wege in Kauf, um an den von der Stadtteilverwaltung angebotenen Kunstkursen teilzunehmen, obwohl es in ihrem eigenen Stadtteil Kurse zu den gleichen Themen gibt. Einerseits sieht sie einen Unterschied in der Unterrichtsqualität, andererseits kann sie sich hier in einem Rahmen bewegen, in dem islamische Verhaltensregeln ihrem Verständnis entsprechend geachtet werden, wie die Möglichkeit zu Geschlechtertrennung und Gebet. Es ist ein Ort ihrer persönlichen Bildung in der Kulturtradition, die sie als ihre „eigene“ empfindet. Im Gespräch über den Stadtteil hebt sie außerdem die Bedeutung des Prophetengefährten hervor, der Eyüp „für uns“ zu einem besonderen Ort mache.
Damit ist Eyüp identitätsstiftend für ihre Gefühle religiöser, kultureller und möglicherweise nationaler Gruppenzugehörigkeit. Merve betont die Herkunft ihrer Familie aus der Osttürkei, die oft als kulturell entfernt von der Westtürkei gesehen wird. Indem Eyüp in einer weiträumigen vorgestellten Zivilisation anstatt in seiner westtürkischen Umgebung situiert wird, kann es auch Menschen aus entfernteren Gegenden in seine identitätsstiftende Erzählung integrieren.
Die angeführten Beispiele zeigen, dass aktuelle Stadtentwicklungs- und Kulturpolitik das historische Zentrum von Eyüp als Ort konstruiert, der eine besondere Rolle in den von der Regierungspartei AKP propagierten nationalistischen und neo-osmanischen Narrativen spielt. In diesem Zuge wird Eyüp als wichtiges Zentrum einer imaginierten islamischen, neo-osmanischen und damit verbundenen türkischen und internationalen Geographie positioniert. Die Identität der „Zivilisation“, deren spirituelles Zentrum Eyüp verkörpern soll, basiert auf einer selektiven Interpretation seiner Geschichte, bei der prägende historische Epochen und Ereignisse wie das byzantinische Kosmidion, osmanische und republikanische Modernisierungsbestrebungen oder der Türkische Befreiungskrieg (1919-1923) ebenso wenig thematisiert werden wie die Rolle von Aleviten und Armeniern für die Entwicklung des Stadtteils. Die sozial, religiös und ethnisch vielfältige Geschichte Eyüps wird auf ein sunnitisch orientiertes islamisches und ein als türkisch verstandenes osmanisches Erbe reduziert.
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[1] Eyüp Belediyesi: „Fotoğraflarla Sadaka Taşı Sergisi“ Sanatseverlerle Buluştu. 7.6.2016.
[2] Vgl. Eric Hobsbawm: Inventing Traditions. In: Eric Hobsbawn/Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University Press, 1983. S. 1.
[3] Remzi Aydın: Eyüp’e Hoşgeldiniz. In: Kutse Özafşar/Adem Uyar (Hg.): Eyüp Gezi Rehberi. Istanbul: Eyüp Belediyesi Yayınları 2016. S. 1.
[4] Vgl. Doreen Massey: A Global Sense of Place. In: Marxism Today. June 1991. S. 29.
[5] Vgl. Brian Graham/Gregory John Ashworth/John E. Tunbridge: A Geography of Heritage. London: Arnold, 2000. S.11ff.
[6] Vgl. Hakan Yavuz: Social and Intellectual Origins of Neo-Ottomanism: Searching for a Post-National Vision. In: Die Welt des Islams 56, 2016. S. 440.
[7] Siehe Kutse Özafşar/Adem Uyar. Op. Cit, S. 7.
[8] Aydın. In: Özafşar/Uyar. Op. cit. S. 1.
Ayşe Öztürk untersucht Stadtentwicklungsprozesse in der Türkei.
Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift inamo, Nr. 89, Frühjahr 2017, S. 39-42.
Quelle: http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2017/06/istanbul-zwischen-spiritualitat-und-kulturtourismus.html